Failed cities

Mit militärischen Mitteln wie Patrouillen, vermehrten Bombardierungen oder Wällen können die irakischen Städte nicht befriedet werden, ein von der US-Regierung aufgelegtes urbanes Stabilisierungsprogramm zeichnet ein düsteres Bild

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Ende Dezember hatte die US-Entwicklungsbehörde USAID am Tag, als Bush die "Strategie für den Sieg im Irak" vorstellte, eine Ausschreibung veröffentlicht. Über eine Milliarde Dollar sollen im Rahmen der Strategic City Stabilization Initiative (SCSI) über zwei Jahre investiert werden, um Konzepte und Realisierungen für ein "soziales und wirtschaftliches Stabilisierungsprogramm" für zehn Städte zu vergeben, die "von der US-Regierung als entscheidend betrachtet werden, den Widerstand im Irak zu besiegen" (Das Pentagon sucht verzweifelt nach "Stabilitätsoperationen" im Irak). Als strategische Städte, die sich durch hohe Widerstandsaktivitäten und hohe Arbeitslosigkeit auszeichnen, gelten Bagdad, Basra, Mosul, Falludscha, Ramadi, Samarra, Bakuba, Babil, Kirkuk und Nadschaf. Hier leben über 12 Millionen Menschen und damit die Hälfte der irakischen Bevölkerung.

Die Ausschreibung macht natürlich vor allem die Schwierigkeiten beim amerikanischen "nation building" im Irak deutlich. Überdies werden dadurch die Grenzen zwischen ziviler Wiederaufbauhilfe und Militär verwischt. Da die irakischen Sicherheitskräfte nicht ausreichen und zudem oft von Aufständischen und Milizen unterwandert sind, können auch die Koalitionstruppen nicht das Land kontrollieren. In aller Regel verschanzen sie sich hinter gesicherten Lagern oder Festungen wie die Green Zone in Bagdad und versuchen durch gelegentliche Patrouillen und größere Operationen Präsenz zu zeigen und den Widerstand zu brechen.

Kontrolle kann damit zur zeitweise ausgeübt werden, was dazu führt, dass sich wie in Afghanistan mit dem Fehlen einer effektiven Zentralregierung zunehmend "failed cities" ausbreiten, in denen unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit Kriminalität und Korruption gedeihen, Unsicherheit und Angst herrschen und "Ordnung" durch nicht- oder halbstaatliche Gruppen und Organisationen von Terroristen über Milizen und Gangs bis hin zu unterwanderten Sicherheitskräften hergestellt wird.

Das Pentagon hatte im Dezember die Direktive "Military Support for Stability, Security, Transition, and Reconstruction (SSTR) Operations" erlassen, nach der künftig primär auf nichtmilitärische Maßnahmen zur Herstellung von Stabilität gesetzt werden soll. Mit teils brachialen Methoden haben die die Militärs bislang versucht, die "wilden", unkontrollierbaren Städte zu befrieden. Nach Operationen wie der Stadteroberung und –verwüstung (Beispiel Falludscha) scheint eine neue Strategie der Bau von mehrere Meter hohen Wällen zu sein, mit denen Städte wie Ramadi oder neuerdings Siniyah vollständig eingeschlossen und zu einer Art urbanen Gefängnis gemacht werden.

Der wenig beachtete Luftkrieg im Irak

Regelmäßig finden Bombardierungen von Zielen aus der Luft statt, die im Unterschied zu den Terroranschlägen meist aber nicht von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden, wenn nicht hoher "Kollateralschaden" entsteht, wie das beispielsweise am 3. Januar in der Stadt Baiji der Fall war, deren Nachbarstadt Siniyah nun mit einem Wall eingeschlossen wird. Am 3. Januar um 21 Uhr entdeckten US-Militärs über die Kameras einer Drohne drei Männer, die angeblich, so eine Pentagon-Miteilung, an einer Straße ein Loch gruben, um dort eine Bombe zu platzieren:

Die Personen wurden als Gefahr für irakische Zivilisten und Koalitionstruppen eingestuft. Der Aufenthaltsort der drei Männer wurde Bomberpiloten übermittelt, die sich in der Nähe befanden. Die Männer wurden von der Straße zu einem nahegelegenen Haus verfolgt, das daraufhin mit 'Präzisionsmunition' bombardiert wurde.

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Von Opfern ist hier keine Rede, Präzisionsschläge sind sauber. In einem anderen Bericht des Pentagon hieß es, dass das Haus von F-14-Flugzeugen beschossen und mit einer Bombe zerstört wurde. Die Präzisionsbombe hatte nicht nur das Haus zerstört, sondern auch sechs weitere in der Umgebung beschädigt sowie zwei weitere Menschen verletzt. Im Haus selbst wurden nach Angaben der New York Times 9 oder nach Angaben der Washington Post 12 Menschen, darunter Frauen und Kinder, getötet. Entweder hat das US-Militär nicht an der Straße nachgeschaut oder dort nichts gefunden. Eine Bombe wurde jedenfalls nicht präsentiert. Zeugen und auch der Polizeichef der Staat sagten aus, dass sich im Haus keine Aufständischen befunden hätten.

Weil der Vorfall in die Medien kam, musste das Militär reagieren, was meist nicht geschieht. So erklärte Barry Johnson, der Direktor des Coalition Press Information Center in Bagdad, in einer Email an die Nachrichtenagentur AP: "Wir sehen, dass Terroristen und Aufständische weiterhin versuchen, bei Zivilisten Schutz zu suchen." Warum aber wurde dann das Haus sofort bombardiert und damit die Menschen, bei denen die Terroristen untergeschlüpft sind oder Deckung gesucht haben, getötet? Wird unterstellt, dass nach der Bush-Doktrin derjenige, der Terroristen freiwillig oder nicht beherbergt, ebenso angegriffen und getötet wird wie die Terroristen selbst? Das Leben von irakischen Zivilisten scheint jedenfalls nichts wert zu sein, normalerweise würde man das Haus umstellen und versuchen, das Leben der Zivilisten zu schonen.

In Iraq, coalition aircraft flew 52 close-air-support missions Jan. 4 for Operation Iraqi Freedom. They included support to coalition troops, infrastructure protection, reconstruction activities and operations to deter and disrupt terrorist activities.

Air Force F-15 Eagles and F-16 Fighting Falcons flew airstrikes near Salman Pak. The F-15s successfully dropped two precision-guided bombs against an enemy weapons cache, while the F-16s successfully dropped two precision-guided bombs against an improvised explosive device location.

Other Air Force F-16s provided close air support to coalition troops in contact with anti-Iraqi forces near Balad. The fighters successfully dropped one precision-guided bomb against an enemy mortar location.

Air Force F-16s provided close air support to coalition troops in contact with anti-Iraqi forces near Baquba.

Daily Airpower Summary der U.S. Air Force vom 5.1.2006

Die Amerikaner versuchen, möglichst kein Risiko für die eigenen Soldaten einzugehen und setzen so auf die Anwendung überwältigender Gewalt und Angriffe aus der Luft. Eine Vermutung reicht schon aus, um Verdächtige mitsamt anderen Personen, die möglicherweise völlig unbeteiligt sind, zu töten. Das ist ein Präventivkrieg, man könnte es auch als Terroranschlag bezeichnen, wobei diese Bezeichnung meist nur auf jene angewandt wird, die sich in der schwächeren Position befinden. Offenbar setzt das Pentagon stärker auf solche Präzisionsschläge aus der Luft. Bis zum August 2005 wurden im Monat 25 Luftangriffe ausgeführt, danach stiegen sie um mehr als Doppelte an. Im November wurden 120 Einsätze geflogen, im Dezember bis zu 150. Zwar werden auch die Präzisionsbomben kleiner, aber das schließt natürlich nicht den Tod oder die Verletzung von Unbeteiligten oder falsch Verdächtigten aus. Zudem sind schnelle Einsätze und Kontrolle aus der Luft vermutlich eher Taktiken, die zwar das Risiko für die eigenen Soldaten minimieren, aber durch mangelnde Präsenz am Boden eher den Widerstand Raum lassen.

Viele Wege führen zur Gewalt

Mit dem urbanen Stabilisierungsprogramm will man nun andere, sicher sinnvollere Wege gehen, nämlich Jobs vor allem für junge Menschen schaffen, wichtige kommunale Einrichtungen aufzubauen, die Zivilgesellschaft und die lokale Wirtschaft fördern und ethnische und religiöse Konflikte reduzieren. Mit den ersten 30 Millionen der zur Verfügung stehenden Gelder von über einer Milliarde US-Dollar sollen diese Ziele mit Projekten in Bagdad, Basra, Mosul, Kirkuk und Nadschaf umgesetzt werden. Zwar sei bereits mit den 21 Milliarden Dollar Aufbauhilfe mit der Wiederherstellung und Modernisierung der Infrastruktur begonnen worden, aber das Problem sei, dass Aufständische weiterhin versuchen, dies mit Gewalt zu verhindern. Nur durch die Minderung der öffentlichen Unterstützung und durch eine Kombination von militärischen und politischen Maßnahmen lasse sich der "weit verbreitete Widerstand" bekämpfen.

Zur Ausschreibung hat die Behörde einen eigenen Lagebericht über den Irak veröffentlicht, der ziemlich düster ist und den in aller Regel Verlautbarungen der US-Regierung über die erzielten Fortschritten weitgehend widerspricht. Ganz allgemein bleibe der Irak "im Zentrum des globalen Kriegs gegen den Terrorismus". Die zahlreichen Anschläge, die von den unterschiedlichen Widerstandsgruppen ausgeführt werden, seien, auch wenn sie vorwiegend gegen die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen gerichtet sind, verheerend für die irakischen Zivilisten, zerstören erheblich die Infrastruktur und verursachen eine "Welle an negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen".

Nach dem Bericht handelt es sich im Irak um einen komplexen Konflikt, in dem "religiös-sektiererische, ethnische, stammesbedingte, kriminelle und politische" Gewalt ineinander verwoben sind. Gewalttätig werden nicht nur Konflikte zwischen den Mitglieder religiöser Gruppen – vor allem zwischen Sunniten und Schiiten – ausgetragen, fundamentalistische Gruppen und "selbsternannte Religionspolizisten" versuchen auch ihre Vorstellungen gegenüber säkularen Menschen, Frauen und Berufsgruppen durchzusetzen. Religiöse Extremisten kämen nicht nur vom Ausland, es gebe auch zahlreiche irakische Gruppen. Dazu kommen ethnische Konflikte zwischen Kurden, Arabern, Turkmenen und Assyrern, die auch mit ethnischen Vertreibungen einhergehen.

Aufgrund der schwachen Zentralregierung haben die Stämme und Stammesverbindungen, die wiederum in Verbindung mit Aufständischen oder Milizen stehen, im ganzen Land an Macht gewonnen. Hier würden Ehre und Scham das Verhalten bestimmen und gewalttätig aufladen. Oft würden Feinde als angebliche Aufständische den Sicherheitskräften aus Rache übergeben. Und zu diesen ganzen Konflikten kommt die kriminelle Szene hinzu, die "nahezu freie Hand" hat und sich in dem Chaos ausbreitet, das vom Widerstand geschaffen wurde. Und wenn politische Parteien erstarken, könnten sie ebenfalls, so warnt der Bericht, zum Teil der bewaffneten Konflikte werden.

Der Bericht kommt so auch zu einer differenzierten Analyse als dem Bild, das das Weiße Haus von dem Konflikt als Kampf gegen den Terrorismus und Islamisten zeichnet. Allerdings heißt es auch, dass mehr ausländische Kämpfer ins Land kommen und Terrororganisationen wie die von Sarkawi stärker werden. Iraker partizipieren hingegen oft am Widerstand oder an der Gewalt, weil sie sich für etwas rächen wollen, wodurch Blutrache und Widerstand verschmelzen können. Es gibt Nationalisten und solche, die gegen die Besetzung kämpfen. Andere sehen sich in der Pflicht, in den Dschihad einzutreten. Manchen wollen nur die Tötung eines Familienangehörigen oder ein anderes Leid, das ihnen durch die irakischen und Koalitionstruppen angetan wurde, rächen. Gier, die schlechte wirtschaftliche Lage, die Möglichkeit, aus dem Chaos seinen Nutzen zu ziehen, kämen zur Gemengenlage hinzu.

In den letzten Tagen hat die Gewalt, soweit sie zumindest über die Medien berichtet wird, enorm zugenommen. Bagdad hat in den letzten Wochen aufgrund von Anschlägen kaum mehr Elektrizität gehabt, die Öllieferungen sind praktisch zum Erliegen gekommen. Baiji, wo es große Ölraffinerien gibt, scheint in der Hand von Aufständischen zu sein, in Mosul Herrschen Aufstädnische und Milizen. Nach Schätzungen wären alleine 20 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren notwendig, um die Stromversorgung im Irak herzustellen. Weiterhin kommt es im ganzen Land zu Selbstmordanschlägen und Überfällen. Alleine am Mittwoch sind 50 Menschen getötet worden. Am Donnerstag starben mindestens 23 Menschen durch Selbstmordanschläge in Bagdad.