Fall Puigdemont: Rückwirkungen auf die deutsche Rechtspraxis

Carles Puigdemont. Foto: Chatham House. Lizenz: CC BY 2.0

Juristen warnen vor einem Präzedenzfall

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Gestern gab der Generalstaatsanwalt in Schleswig bekannt, dass er beim Oberlandesgericht einen Auslieferungshaftbefehl gemäß § 15 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) für den abgesetzten katalanischen Regionalregierungschef Carles Puigdemont beantragt hat, weil er nach "intensiver Prüfung des Europäischen Haftbefehls des Tribunal Supremo in Madrid vom 23. März 2018" zum Ergebnis gelangte, dass ein "zulässiges Auslieferungsersuchen" und der "Haftgrund der Fluchtgefahr" vorlägen und dass "mit einer Durchführung des ordnungsgemäßen Auslieferungsverfahrens zu rechnen" sei.

Dem von der Zeit befragten Strafrechtsexperten Nikolaos Gazeas überraschte nicht dieser Auslieferungshaftbefehlsantrag, sondern die Details in der teilweise der Pressemitteilung beigegebenen Begründung dafür, in der "die deutsche Generalstaatsanwaltschaft alle Vorwürfe der spanischen Seite übernommen hat" und den Rebellionstatbestand in Artikel 472 des spanischen Código Penal (CP) dem Hochverratstatbestand in den §§ 81 und 82 des deutschen Strafgesetzbuchs gleichsetzt.

Nach Meinung der Generalstaatsanwaltschaft wäre Puigdemont deshalb auch in Deutschland angeklagt worden, wenn er mit seinem Beharren auf einem Referendum trotz Warnungen der Polizei vor gewaltsamen Auseinandersetzungen eine Gewaltgefahr geschaffen hätte (vgl. Puigdemont-Auslieferung: Nicht so einfach, wie die ARD meint).

Andere Juristen zeigen sich hier anderer Meinung - unter ihnen der ehemalige Senatsvorsitzende am Bundesgerichtshof und wichtigste Strafrechtskommentarherausgeber Thomas Fischer, der zum Spiegel meinte, es läge "nicht nahe, dass Herr Puigdemont den Vorsatz hatte, mit Mitteln der Gewalt Spanien zu destabilisieren". Damit erläutert er implizit auch den Gewaltbegriffs im § 81 StGB, der tatsächlich geeignet sein muss, zu einer Destabilisierung zu führen. In ähnlicher Weise hatte der juristische Blogger Oliver García auf die hohen Hürden im deutschen Strafrecht hingewiesen und die Meinung vertreten, dass punktuelle Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen gerade nicht für die Bejahung von Gewalt im Sinne des Hochverrats ausreichen.

Nikolaos Gazeas warnt in diesem Zusammenhang auch vor Folgen in Deutschland:

Schon die Möglichkeit, dass ein Demonstrationsteilnehmer gewalttätig wird, soll einen politischen Führer wegen Rebellion ins Gefängnis bringen. Die bloße Gefahr soll reichen. […] Auch die deutsche Generalstaatsanwaltschaft ist hier sehr weit, ich meine zu weit, gegangen. Die nun abzuwartende Entscheidung des Oberlandesgerichts ist daher auch wichtig für die Rechtsauslegung in Deutschland. Ein offener und weiter Gewaltbegriff gilt im Zweifel auch bei uns. Und das würde massiv ein ganz elementares Grundrecht in jeder Demokratie, die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit, aber auch die Grenzen zulässiger politischer Betätigung womöglich einschränken.

Der jetzt gestellte Antrag auf einen Auslieferungshaftbefehl ist allerdings nicht der zwingend erforderliche Antrag, die Auslieferung nach den §§ 29 ff. IRG für zulässig zu erklären. Gefragt, wann sie ihren Antrag in Bezug auf die Zulässigkeit der Auslieferung stellen wird, will die Generalstaatsanwaltschaft vorerst "keine Erklärungen abgeben" und "zunächst die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts abwarten".

Bestätigt bekam Telepolis von der Generalstaatsanwaltschaft, dass "die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung […] noch nicht abschließend geprüft worden ist, sondern lediglich in dem Umfang, in dem dies für die Frage des Antrags auf Erlass eines Auslieferungshaftbefehls erforderlich war." Dabei habe man das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit bejaht und nicht nur auf der abstrakten Ebene der gesetzlichen Tatbestände, sondern "auf der Basis der konkreten Lebenssachverhalte [geprüft], die den Gegenstand der Strafverfolgung im ersuchenden Staat bilden".

85 Seiten umfassender Widerspruch gegen den Rebellionsvorwurf in Spanien

Nun muss das Oberlandesgericht prüfen, ob aus dem Festhalten Puigdemonts in der Justizvollzugsanstalt Neumünster eine Auslieferungshaft wird. Hat es dazu entschieden, folgt die Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit einer Auslieferung an Spanien, für die dann wieder die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig zuständig wäre. Erklärt auf deren Antrag das Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig, ist damit zu rechnen, dass Puigdemont dagegen mit einer Verfassungsbeschwerde vorgeht (vgl. Ehemaliger Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vertritt Puigdemont).

In Spanien legte sein dortiger Anwalt Jaume Alonso-Cuevillas währenddessen beim Oberstem Gerichtshof einen 85 Seiten umfassenden Widerspruch gegen den Rebellionsvorwurf ein. Diesen Widerspruch begründet der Juraprofessor an der Universität von Barcelona unter anderem mit einem Hinweis auf ein Fehlen konkreter außerpolizeilicher Offensivgewalthandlungen am Referendumstag. "Passiver Widerstand" einzelner Bürger, der eingeräumt wird, könne nicht pauschal seinem Mandanten angelastet werden, sondern müsse rechtlich individuell aufgearbeitet werden. Neben Puigdemont vertritt Alonso-Cuevillas auch die von Madrid gesuchten und ins Ausland geflohenen katalanischen Ex-Minister Clara Ponsati und Lluis Puig.