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Während die Schuld an der Finanzkrise sehr leicht ausfindig zu machen ist, scheint ein Vergleich mit der aktuellen Krise auf den ersten Blick unsinnig, da sie durch die Ausbreitung des Covid-19-Virus ausgelöst wurde. Diese Annahme übersieht aber einen zentralen Punkt: Alfredo Saad-Filho, Professor für Politische Ökonomie und Internationaler Entwicklung am Londoner King's College, erklärt:
Die Gesundheitskrise und der wirtschaftliche Zusammenbruch im Westen haben (...) gezeigt, dass die neoliberalen Verwaltungen nicht in der Lage sind, die grundlegendsten Funktionen der Regierungsführung zu erfüllen: Leben zu schützen und Lebensgrundlagen zu sichern.
Alfredo Saad-Filho
Wie ich in meinem Artikel "Ein zweiter Akt der Solidarität" aufgezeigt habe, hilft ein Blick in die Geschichte ganz im Sinne von Santanyana: Im Jahr 2000 bewertete die WHO das französische Gesundheitssystem als das beste der Welt, es folgte Italien, Spanien lag auf Platz 7, Deutschland landete hingegen abgeschlagen auf Platz 25. Aber nach der Finanzkrise mussten die Spitzenreiter im Gesundheitssystem massive Einsparungen vornehmen. Gemäß des neoliberalen Washington Consensus wurde zunehmend privatisiert und effizienz- und gewinnorientiert umstrukturiert.
Am Beispiel Deutschlands lassen sich die Konsequenzen des Primats des Gewinnstrebens für Krankenhäuser ausmachen. Im Durchschnitt wurden pro Jahr etwa zwanzig Häuser geschlossen. Mit der Zahl der Krankenhäuser reduzierte sich auch die der Krankenbetten. Wurden 1991 noch mehr als 665.000 verzeichnet, waren es im Jahr 2015 weniger als 500.000. Dieser Rückgang geht mit einem häufigeren Krankenhausaufenthalt der Deutschen einher. 1991 versorgten die Krankenhäuser noch etwa 14,5 Millionen Patienten vollstationär, 2016 waren es ein ganzes Drittel mehr. Die Krankenhäuser müssen also unter dem Effizienzdruck mit weniger mehr leisten. Die dadurch entstehende Gefahr fehlender Pflege wurde detailliert dokumentiert. Nicht überraschend: Eine Befragung von Klinikärzten ergab, dass wirtschaftliche Interessen die Behandlung der Patienten beeinflussen. Ein Gutachten kam zum gleichen Schluss.
Andere Länder waren nach der Finanzkrise gezwungen, deutlich radikaler einzusparen. Die Konsequenz: Diese Länder haben nun deutlich geringere Kapazitäten an Intensiv-Betten, Beatmungsgeräten und speziell ausgebildetem Personal, so dass sie jetzt deutlich stärker von der Krise getroffen wurden. Großbritannien verfügt über 4.100 Intensivbetten, Spanien hat noch 4.400 Intensiv-Betten, Italien 5.000, Deutschland hingegen 28.000.
Die Journalisten Renaud Lambert und Pierre Rimbert zeigen die lebensgefährliche Konsequenz der neoliberalen Wirtschaftspolitik pointiert auf:
Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm (des Verlaufs der Ausbreitung) macht deutlich, wie dringend notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese "kritische Schwelle" wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis politischer Entscheidungen. Wenn man heute "die Kurve abflachen" muss, liegt das auch daran, dass die seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat.
Renaud Lambert und Pierre Rimbert
Wenn Deutschland noch ein verhältnismäßig stabiles Gesundheitssystem sein Eigen nennen darf, dann ist dies nur der Fall, weil das Diktat der unbedingten Effizienzsteigerung noch nicht weiter fortgeschritten ist. Planungen hierfür gab es aber schon. Zwar hatte sich die Regierung noch nicht entsprechend geäußert, aber die einflussreiche Bertelsmann Stiftung hatte letztes Jahr eine Studie herausgegeben, die genau in diesem Sinne argumentiert. Unter dem vielsagenden Titel "Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Klinken möglich", wird behauptet:
Eine starke Verringerung der Klinikanzahl von aktuell knapp 1.400 auf deutlich unter 600 Häuser, würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern.
Bertelsmann Stiftung
"Es lohnt sich an dieser Stelle eine Minute zu verweilen und sich die letzten Monate vorzustellen, wenn diese "bessere Vorsorge" tatsächlich Wirklichkeit geworden wäre und damit die "kritische Schwelle" deutlich gesenkt worden wäre. Ein neoliberales Gesundheitssystem mag effizient sein, für Krisen ist es aber eine lebensgefährliche Katastrophe. Heribert Prantl resümiert: "Eine der bittersten Lehren der Corona-Krise lautet: Die Kommerzialisierung unseres Gesundheitswesens war und ist falsch."
Das soziale Sicherungssystem
Betreibt man Ursachenforschung über die gegenwärtige Krise, darf der Sozialstaat auf keinen Fall vergessen werden. Denn ein gut funktionierender Sozialstaat offenbart seine lebenswichtige Bedeutung genau in Krisensituationen. Es ist offensichtlich, dass ein solides soziales Sicherungssystem angesichts der bedrohlichen wirtschaftlichen Rezession über die Frage entscheidet, wie gut die Bürger eines Landes die Situation überstehen und nicht zuletzt, wie sehr ihre Gesundheit kurz- und langfristig unter den neuen schwierigen Bedingungen leidet. (Bekanntlich steigt bei einem wirtschaftlichen Rückgang beispielsweise die Selbstmordrate und verringert sich die durchschnittliche Lebenserwartung).
Berücksichtigt man diese Evidenz, liegt auf der Hand, dass die harten Einsparungen im Sozialbudget gerade in den Ländern, die aktuell besonders stark betroffen sind wie Italien, Spanien und Frankreich ebenso tödliche Konsequenzen für viele Menschen hat, wie in Griechenland nach der Finanzkrise (Selbstmordrate, Kindersterblichkeit).
Ein nicht ausreichend stabiles Sicherungssystem, das durch Jahre neoliberaler Politik als Kostenfaktor diffamiert und stark beschnitten wurde, ist daher auch unbedingt als Ursache der aktuellen Krise zu berücksichtigen. Niemand anderes als das "Handelsblatt" betont daher zu Recht angesichts der aktuellen Krise die besondere Bedeutung des Sozialstaates.
Weitere Strukturfehler
Verschiedene wichtige Entscheidungen wurden im pharmazeutischen Bereich abgelehnt, die bei der Bewältigung der Krise von sehr großer Bedeutung und Hilfe gewesen wären. Vor zwei Jahren plante die EU, die Pandemie-Prävention in ein gefördertes Forschungsprojekt aufnehmen. Dieser Vorschlag scheiterte aber vermutlich am Widerstand der Pharmaindustrie, wie interne Protokolle zeigen, die die Organisation Global Health Advocats und Corporate Europe Observatory veröffentlicht haben.
Konkret sollten beispielsweise Computersimulationen und eine Analyse von Tierversuchsmodellen finanziell gefördert werden, um die Impfstoffentwicklung im Falle einer Pandemie beschleunigen zu können. Im Dezember 2018 wurde dieser Vorschlag jedoch abgelehnt. Marine Ejuryan von Global Health Advocates ist der Meinung: "Das war für die Pharmaindustrie finanziell nicht interessant."
Das vermutliche finanzielle Desinteresse war auch in einem weiteren Punkt entscheidend. Dr. Peter Hotez, Ko-Direktor des Zentrums für Impfstoffentwicklung am Texas Children's Hospital und Dekan der National School of Tropical Medicine in Houston, arbeitete 2016 mit seinem Team an einem Coronavirus-Impfstoff. Der Impfstoff seines Teams war als Reaktion auf den Ausbruch von SARS über ein Jahrzehnt zuvor entwickelt worden. Der nächste Schritt wäre der Beginn von Studien an Menschen gewesen. Stattdessen kam es aber aus Mangel an Interesse - und Geld - nicht hierzu. Im März diesen Jahres berichtete Hotez vor dem Wissenschaftsausschuss des US-Repräsentantenhaus: "Wir hatten den Impfstoff einsatzbereit, aber bis dahin war niemand an einem Coronavirus-Impfstoff interessiert."
Pharmaunternehmen interessieren sich zumeist nicht für die aufwendige Impfstoff-Forschung. Von den 20 größten Pharmaunternehmen der Welt verfügen nur vier über spezielle Impfstoff-Forschungseinheiten. Massimo Florio, Wirtschaftsprofessor an der Universität Mailand, erklärt: "Das gegenwärtige Forschungssystem ist das Opfer eines unheilbaren Widerspruchs zwischen der Priorität der Wissenschaft für die Gesundheit und der der Wissenschaft für den Profit."
Massimo Florio weist auch auf das beschränkte Interesse der Pharma-Branche an der Forschung zu Infektionskrankheiten hin:
Zwanzig Jahre sind seit dem Ausbruch von SARS vergangen, doch die pharmazeutische Industrie hat Infektionskrankheiten nicht als Priorität angesehen, weil sie nicht so profitabel sind wie chronische Krankheiten.
Massimo Florio
Bei chronischen Krankheiten können große Pharmaunternehmen über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg die gleichen Medikamente an Patienten verkaufen. Impfstoffe - die zur Vorbeugung von Krankheiten entwickelt wurden - werden oft nur einmal verwendet und sind daher in der Regel nicht so rentabel. Nick Dearden kommentiert im Guardian:
Wenn es um die Krise geht, behandeln Pharmaunternehmen die Gesundheitsversorgung als eine Ware, nicht als ein Recht. Wenn aus dem Coronavirus etwas Gutes hervorgeht, dürfen wir hoffen, dass es das Verständnis der Öffentlichkeit für die Fehler des Systems vertieft und es uns ermöglicht, ein wirklich öffentliches System der medizinischen Forschung und Entwicklung aufzubauen. Die WHO-Initiative (die Medikamente patentfrei herstellen will) könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein.
Nick Dearden
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