Fehler im System

Wird der Neoliberalismus einmal mehr gestärkt aus der gegenwärtigen Krise hervorgehen?

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"Ich würde schon sagen, dass die Corona-Krise so etwas wie der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus ist", so die feste Überzeugung des Wirtschaftswissenschaftlers Marcel Fratzscher. Seine Begründung: "Nun sehen wir: Der Staat ist die letzte Instanz, wenn es darauf ankommt. Der Markt kann in entscheidenden Bereichen nicht mehr allein funktionieren. Die Bundesregierung hat über eine Billion Euro an Garantien und direkten Hilfen mobilisiert. Das ist ein Signal, das uns allen bewusst machen sollte: Ein starker, effizienter, gut funktionierender Staat ist absolut essenziell."

Fratzscher übersieht jedoch in seiner Darstellung, dass der Neoliberalismus keineswegs grundsätzlich einen schwachen Staat fordert. Der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski erklärt: "Ein hervorstechendes Merkmal ist jedoch, dass der Neoliberalismus kein Fürsprecher des Laissez-faire und des kleinen Staates ist. Wenn überhaupt, dann ist die Lektion, die die Arbeit am Neoliberalismus gezeigt hat, dass es um starke Staaten geht, die die Art von Marktgesellschaft konstruieren, an die Neoliberale glauben." Detailliert zeigt dies auch Quinn Slobodian in seinem lesenswerten Buch "Globalisten" auf. Daher reicht die Erklärung Fratzschers nicht aus, um das Ende des Neoliberalismus einzuläuten.

Hoffnungen und Versprechen

Das Diktum von George Santayana: "Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen", ist unzählige Male wiederholt und nur selten befolgt worden. Ein Blick zurück auf die Finanzkrise 2008 ist gerade jetzt zwingend notwendig, damit die aktuelle Krise nicht zum Sprungbrett für einen neoliberalen Schock missbraucht wird.

Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise waren führende Wirtschaftswissenschaftler, die sich stets im Sinne des neoliberalen Washingtoner Consensus für mehr Privatisierung, Deregulierung und Kürzungen der Staatsausgaben ausgesprochen hatten, erstaunlich wortscheu und der ehemalige Vorsitzender der US-Notenbank Alan Greenspan gestand, dass er sich "teilweise geirrt" habe. Viele prognostizierten das Ende des Neoliberalismus wie der damalige Vorsitzende der SPÖ, Alfred Gusenbauer: "Der Fall der Wall Street ist für den Neoliberalismus, was der Fall der Berliner Mauer für den Kommunismus war." Und nicht zuletzt der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärte feierlich:

Eine bestimmte Vorstellung der Globalisierung stirbt gerade mit dem Ende eines Finanzkapitalismus, der der ganzen Wirtschaft seine Logik aufgezwungen und dazu beigetragen hat, sie zu verderben. Die Idee, dass die Märkte immer recht haben, war eine irrsinnige Idee.

Nicolas Sarkozy

Untote leben länger

Es kam anders, wie wir heute wissen. Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck erinnert daher zu Recht:

Aus der "Finanzkrise" wurde die "Schuldenkrise". Das war zwar angesichts der Tatsache, dass die staatlichen Schulden eindeutig erst im Gefolge der Krise gestiegen waren, vollkommen absurd, stand aber im Einklang mit dem üblichen Mythos.

Heiner Flassbeck

Der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski ist in seinem wichtigen Buch "Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist" der Frage nachgegangen, wie es geschehen konnte, dass genau die Gruppe, die die Krise ausgelöst hatte, nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern gestärkt aus der Krise hervorgehen konnte. Er schreibt:

Bereits 2012 geriet allmählich in Vergessenheit, dass die Krise im Kern eine Krise des Kapitalismus war und nur infolgedessen eine Finanzkrise des Staates. Die Verschuldung des Staates schien nun genauso prekär wie die der Privatbanken. Diese Dynamik war vermeidbar, weil gänzlich vorhersehbar.

Philip Mirowski

Sein Résumé der damaligen Situation: "Ein dunkler Schlummer legte sich über das Land. Nicht nur dass sich das Bewusstsein der Krise wieder verflüchtigt hatte, ohne dass es irgendeinen ernsthaften Versuch zur Korrektur der Fehler gegeben hätte, die die Wirtschaft beinahe zum Stillstand gebracht hatten - seltsamerweise war die Rechte aus den Tumulten obendrein stärker, unverfrorener und mit einer noch größeren Raffgier und Glaubensfestigkeit als vor dem Crash hervorgegangen."

Offenkundige Fehlfunktion

Während die Schuld an der Finanzkrise sehr leicht ausfindig zu machen ist, scheint ein Vergleich mit der aktuellen Krise auf den ersten Blick unsinnig, da sie durch die Ausbreitung des Covid-19-Virus ausgelöst wurde. Diese Annahme übersieht aber einen zentralen Punkt: Alfredo Saad-Filho, Professor für Politische Ökonomie und Internationaler Entwicklung am Londoner King's College, erklärt:

Die Gesundheitskrise und der wirtschaftliche Zusammenbruch im Westen haben (...) gezeigt, dass die neoliberalen Verwaltungen nicht in der Lage sind, die grundlegendsten Funktionen der Regierungsführung zu erfüllen: Leben zu schützen und Lebensgrundlagen zu sichern.

Alfredo Saad-Filho

Wie ich in meinem Artikel "Ein zweiter Akt der Solidarität" aufgezeigt habe, hilft ein Blick in die Geschichte ganz im Sinne von Santanyana: Im Jahr 2000 bewertete die WHO das französische Gesundheitssystem als das beste der Welt, es folgte Italien, Spanien lag auf Platz 7, Deutschland landete hingegen abgeschlagen auf Platz 25. Aber nach der Finanzkrise mussten die Spitzenreiter im Gesundheitssystem massive Einsparungen vornehmen. Gemäß des neoliberalen Washington Consensus wurde zunehmend privatisiert und effizienz- und gewinnorientiert umstrukturiert.

Am Beispiel Deutschlands lassen sich die Konsequenzen des Primats des Gewinnstrebens für Krankenhäuser ausmachen. Im Durchschnitt wurden pro Jahr etwa zwanzig Häuser geschlossen. Mit der Zahl der Krankenhäuser reduzierte sich auch die der Krankenbetten. Wurden 1991 noch mehr als 665.000 verzeichnet, waren es im Jahr 2015 weniger als 500.000. Dieser Rückgang geht mit einem häufigeren Krankenhausaufenthalt der Deutschen einher. 1991 versorgten die Krankenhäuser noch etwa 14,5 Millionen Patienten vollstationär, 2016 waren es ein ganzes Drittel mehr. Die Krankenhäuser müssen also unter dem Effizienzdruck mit weniger mehr leisten. Die dadurch entstehende Gefahr fehlender Pflege wurde detailliert dokumentiert. Nicht überraschend: Eine Befragung von Klinikärzten ergab, dass wirtschaftliche Interessen die Behandlung der Patienten beeinflussen. Ein Gutachten kam zum gleichen Schluss.

Andere Länder waren nach der Finanzkrise gezwungen, deutlich radikaler einzusparen. Die Konsequenz: Diese Länder haben nun deutlich geringere Kapazitäten an Intensiv-Betten, Beatmungsgeräten und speziell ausgebildetem Personal, so dass sie jetzt deutlich stärker von der Krise getroffen wurden. Großbritannien verfügt über 4.100 Intensivbetten, Spanien hat noch 4.400 Intensiv-Betten, Italien 5.000, Deutschland hingegen 28.000.

Die Journalisten Renaud Lambert und Pierre Rimbert zeigen die lebensgefährliche Konsequenz der neoliberalen Wirtschaftspolitik pointiert auf:

Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm (des Verlaufs der Ausbreitung) macht deutlich, wie dringend notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese "kritische Schwelle" wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis politischer Entscheidungen. Wenn man heute "die Kurve abflachen" muss, liegt das auch daran, dass die seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat.

Renaud Lambert und Pierre Rimbert

Wenn Deutschland noch ein verhältnismäßig stabiles Gesundheitssystem sein Eigen nennen darf, dann ist dies nur der Fall, weil das Diktat der unbedingten Effizienzsteigerung noch nicht weiter fortgeschritten ist. Planungen hierfür gab es aber schon. Zwar hatte sich die Regierung noch nicht entsprechend geäußert, aber die einflussreiche Bertelsmann Stiftung hatte letztes Jahr eine Studie herausgegeben, die genau in diesem Sinne argumentiert. Unter dem vielsagenden Titel "Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Klinken möglich", wird behauptet:

Eine starke Verringerung der Klinikanzahl von aktuell knapp 1.400 auf deutlich unter 600 Häuser, würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern.

Bertelsmann Stiftung

"Es lohnt sich an dieser Stelle eine Minute zu verweilen und sich die letzten Monate vorzustellen, wenn diese "bessere Vorsorge" tatsächlich Wirklichkeit geworden wäre und damit die "kritische Schwelle" deutlich gesenkt worden wäre. Ein neoliberales Gesundheitssystem mag effizient sein, für Krisen ist es aber eine lebensgefährliche Katastrophe. Heribert Prantl resümiert: "Eine der bittersten Lehren der Corona-Krise lautet: Die Kommerzialisierung unseres Gesundheitswesens war und ist falsch."

Das soziale Sicherungssystem

Betreibt man Ursachenforschung über die gegenwärtige Krise, darf der Sozialstaat auf keinen Fall vergessen werden. Denn ein gut funktionierender Sozialstaat offenbart seine lebenswichtige Bedeutung genau in Krisensituationen. Es ist offensichtlich, dass ein solides soziales Sicherungssystem angesichts der bedrohlichen wirtschaftlichen Rezession über die Frage entscheidet, wie gut die Bürger eines Landes die Situation überstehen und nicht zuletzt, wie sehr ihre Gesundheit kurz- und langfristig unter den neuen schwierigen Bedingungen leidet. (Bekanntlich steigt bei einem wirtschaftlichen Rückgang beispielsweise die Selbstmordrate und verringert sich die durchschnittliche Lebenserwartung).

Berücksichtigt man diese Evidenz, liegt auf der Hand, dass die harten Einsparungen im Sozialbudget gerade in den Ländern, die aktuell besonders stark betroffen sind wie Italien, Spanien und Frankreich ebenso tödliche Konsequenzen für viele Menschen hat, wie in Griechenland nach der Finanzkrise (Selbstmordrate, Kindersterblichkeit).

Ein nicht ausreichend stabiles Sicherungssystem, das durch Jahre neoliberaler Politik als Kostenfaktor diffamiert und stark beschnitten wurde, ist daher auch unbedingt als Ursache der aktuellen Krise zu berücksichtigen. Niemand anderes als das "Handelsblatt" betont daher zu Recht angesichts der aktuellen Krise die besondere Bedeutung des Sozialstaates.

Weitere Strukturfehler

Verschiedene wichtige Entscheidungen wurden im pharmazeutischen Bereich abgelehnt, die bei der Bewältigung der Krise von sehr großer Bedeutung und Hilfe gewesen wären. Vor zwei Jahren plante die EU, die Pandemie-Prävention in ein gefördertes Forschungsprojekt aufnehmen. Dieser Vorschlag scheiterte aber vermutlich am Widerstand der Pharmaindustrie, wie interne Protokolle zeigen, die die Organisation Global Health Advocats und Corporate Europe Observatory veröffentlicht haben.

Konkret sollten beispielsweise Computersimulationen und eine Analyse von Tierversuchsmodellen finanziell gefördert werden, um die Impfstoffentwicklung im Falle einer Pandemie beschleunigen zu können. Im Dezember 2018 wurde dieser Vorschlag jedoch abgelehnt. Marine Ejuryan von Global Health Advocates ist der Meinung: "Das war für die Pharmaindustrie finanziell nicht interessant."

Das vermutliche finanzielle Desinteresse war auch in einem weiteren Punkt entscheidend. Dr. Peter Hotez, Ko-Direktor des Zentrums für Impfstoffentwicklung am Texas Children's Hospital und Dekan der National School of Tropical Medicine in Houston, arbeitete 2016 mit seinem Team an einem Coronavirus-Impfstoff. Der Impfstoff seines Teams war als Reaktion auf den Ausbruch von SARS über ein Jahrzehnt zuvor entwickelt worden. Der nächste Schritt wäre der Beginn von Studien an Menschen gewesen. Stattdessen kam es aber aus Mangel an Interesse - und Geld - nicht hierzu. Im März diesen Jahres berichtete Hotez vor dem Wissenschaftsausschuss des US-Repräsentantenhaus: "Wir hatten den Impfstoff einsatzbereit, aber bis dahin war niemand an einem Coronavirus-Impfstoff interessiert."

Pharmaunternehmen interessieren sich zumeist nicht für die aufwendige Impfstoff-Forschung. Von den 20 größten Pharmaunternehmen der Welt verfügen nur vier über spezielle Impfstoff-Forschungseinheiten. Massimo Florio, Wirtschaftsprofessor an der Universität Mailand, erklärt: "Das gegenwärtige Forschungssystem ist das Opfer eines unheilbaren Widerspruchs zwischen der Priorität der Wissenschaft für die Gesundheit und der der Wissenschaft für den Profit."

Massimo Florio weist auch auf das beschränkte Interesse der Pharma-Branche an der Forschung zu Infektionskrankheiten hin:

Zwanzig Jahre sind seit dem Ausbruch von SARS vergangen, doch die pharmazeutische Industrie hat Infektionskrankheiten nicht als Priorität angesehen, weil sie nicht so profitabel sind wie chronische Krankheiten.

Massimo Florio

Bei chronischen Krankheiten können große Pharmaunternehmen über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg die gleichen Medikamente an Patienten verkaufen. Impfstoffe - die zur Vorbeugung von Krankheiten entwickelt wurden - werden oft nur einmal verwendet und sind daher in der Regel nicht so rentabel. Nick Dearden kommentiert im Guardian:

Wenn es um die Krise geht, behandeln Pharmaunternehmen die Gesundheitsversorgung als eine Ware, nicht als ein Recht. Wenn aus dem Coronavirus etwas Gutes hervorgeht, dürfen wir hoffen, dass es das Verständnis der Öffentlichkeit für die Fehler des Systems vertieft und es uns ermöglicht, ein wirklich öffentliches System der medizinischen Forschung und Entwicklung aufzubauen. Die WHO-Initiative (die Medikamente patentfrei herstellen will) könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein.

Nick Dearden

Neoliberale Phänomene

Ein Blick in die USA offenbart, dass es in dieser Krise einmal mehr sehr viele Verlierer und einige wenige Gewinner gibt (deren Gewinn aber beträchtlich ist). Während beispielsweise in der zehnten Woche der Corona-Krise in den USA die Zahl der Arbeitslosen auf mehr als 40 Millionen schnellte, durften sich laut Forbes die Milliardäre über einen durchschnittlichen Vermögenszuwachs von 16,5 Prozent freuen. Die fünf reichsten US-Milliardäre konnten ihren Reichtum um insgesamt 75,5 Milliarden Dollar steigern. Das Nettovermögen des Amazon-Gründers und CEO Jeff Bezos wuchs in den vergangenen zwei Monaten um ein knappes Drittel auf 147,6 Milliarden Dollar. Das Vermögen von Mark Zuckerberg legte um 25 Milliarden US-Dollar zu. Bill Gates, Warren Buffett und Larry Ellison wurden "nur" um 15,5 Milliarden reicher, wobei ersterer 8 Milliarden US-Dollar zulegte.

Covid-19 vergrößert aber nicht nur radikal den bereits tiefen Graben der Ungleichheit (der Lockdown hat besonders stark die ärmeren Menschen getroffen), sondern der Virus tötet besonders häufig ärmere Menschen. Entsprechend unterstrich die FAZ: "Es gibt eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit." Und die Zeit betonte "Gesundheit ist eine zutiefst ungleich verteilte Ressource."

Nicht zuletzt sind insbesondere die Länder in der Welt stark von Covid-19 betroffen, in denen die Ungleichheit am höchsten ist, wie der Journalist Jörg Schindler bemerkt. So ist in den USA und Brasilien die Ungleichheit sehr ausgeprägt. In Europa leiden Spanien, Italien und Großbritannien am stärksten unter Covid-19. Zugleich sind es die drei ungleichsten Länder. Überspitzt kann man formulieren, dass Covid-19 durch die Intensivierung der Ungleichheit die Voraussetzung für seine Verbreitung verbessert. Es vergrößert die Ungleichheit massiv. Daher ist ein solider Sozialstaat auch für die Gesundheit der Menschen überlebenswichtig.

Erste Anzeichen

Es gibt einige bedenkliche Hinweise, dass die Politik reflexartig in die neoliberalen Werkzeugkiste greift, um der Krise zu begegnen. So forderte Friedrich Merz, die staatlichen Leistungen auf den Prüfstand zu stellen (also quasi genau die lebenserhaltenden Maßnahmen).

Man durfte daher gespannt sein, wie das Konjunkturpaket der Regierung gerade auf die Frage der zunehmenden Ungleichheit und der sozialen Schieflage des Landes reagiert. Es gibt einige positive Aspekte zu verzeichnen (Verzicht auf Abwrackprämie, Kinderbonus für Eltern oder die finanzielle Entlastung der Kommunen sowie Kaufkraftstärkung), aber "zur Ankurbelung der Konjunktur und um der sozialen Spaltung entgegenzuwirken, hätte man besser niedrige Renten und Löhne sowie das Kurzarbeitergeld erhöht", wie Sarah Wagenknecht zu Recht kritisiert. Ebenso ausgelassen wurde die Möglichkeit, durch staatliche Investitionen in soziale Infrastruktur und neue Arbeitsplätze das Land sozialer zu machen und die Explosion der Ungleichheit zu begrenzen. Symptomatisch: Pflegekräfte und kinderlose Leistungsempfänger gehen leer aus. Es hat sich ausgeklatscht.

Erwähnt werden sollte auch Sahra Wagenknechts Kritik: "Nur Elektroautos mit bis zu 6000 Euro zu fördern, ist ökologisch unsinnig und sozial ungerecht, denn nur Besserverdiener können sich ein solches Auto leisten! Die Verkehrswende wird man mit dem Paket nicht voranbringen - die zugesagten Zuschüsse für Bahn und ÖPNV reichen nicht einmal, um die Einnahmeausfälle durch die Coronakrise zu decken."

Die einmalige Gelegenheit, dass der Staat seinen neugefunden Handlungsspielraum nutzt, um dem destruktiven Treiben der Wirtschaft enge Grenzen zu setzen, wurde verspielt. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurde es nicht zur Bedingung für staatliche Förderung der Betriebe gemacht, dass sie in dieser Zeit keine großen Dividenden ausschütten und ihre Manager nicht mit hohen Boni beglücken dürfen. Insbesondere hätten nur Unternehmen staatliche Förderung beantragen dürfen, wenn die Bedingung erfüllt ist, dass sie Gewinne nicht in Steueroasen verschieben oder Steueroasen und Schattenfinanzplätze zur Steuervermeidung nutzen. Beispielsweise die Lufthansa. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein Unternehmen, das von Steuergeldern gerettet werden will, seinen fairen Teil an Steuern selber entrichten sollte und keine Maximierung der Steuervermeidung betreibt.

Auch eine Vermögenssteuer und Steuererhöhungen für das oberste Prozent der Gesellschaft, wurden nicht beschlossen. Diese bleiben im Neoliberalismus weiterhin ein rotes Tuch. Die Tatsache, dass der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty mit einer monumentalen historischen Analyse detailliert nachgewiesen hat, dass diese positiv für Gesellschaft und Wirtschaftswachstum seien und sie gerade in der aktuellen Krise fordert, ändert an der reflexartigen Ablehnung nichts.

Generell "weist das Konjunkturpaket wie alle bisherigen Corona-Hilfsmaßnahmen des Staates eine verteilungspolitische Schieflage auf", wie der Soziologe Christoph Butterwegge schreibt: "Die am härtesten von der Pandemie betroffenen Personengruppen werden hingegen nur am Rande bedacht, wenn überhaupt."

Die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes macht zwar auf den ersten Blick gerade in sozialer Hinsicht viel Sinn, weil "diese Steuerart arme Personen, die einen Großteil ihres Einkommens in den Alltagskonsum stecken (müssen), am härtesten trifft." Denn, so Butterwegges Sorge: "Nur wird kaum ein Händler wegen der befristeten Mehrwertsteuersenkung die Preise seiner Waren für ein halbes Jahr senken, sondern fast jeder Unternehmer wird die geringere Abführung ans Finanzamt als eigenen Gewinn verbuchen."

Anstatt des Gießkannenprinzips fordert Butterwegge: "Familien im Transferleistungsbezug wäre eher mit einem Ernährungsaufschlag in Höhe von 100 Euro pro Monat gedient, wie ihn Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen seit Wochen fordern. Denn viele Lebensmitteltafeln sind geschlossen worden und die Preise für zahlreiche Nahrungsmittel in den vergangenen Wochen gestiegen."

Aus diesem Grunde auch hätte gerade eine besondere Berücksichtigung der Hartz-IV-Empfänger im Konjunkturpaket erfolgen müssen. Hätte. Lutz Hausstein bemerkt: "Während an anderen Stellen der Gesellschaft Milliarden von Euro ausgegeben werden, erhalten gerade die, denen es am schlechtesten geht, nicht die geringste Unterstützung. Forderte schon eine Gemeinschaft von zivilen gesellschaftlichen Organisationen am 2. Mai 2020 einen Mehrbedarf von 100 Euro monatlich auf Sozialleistungen, so brachte die Bundestagsfraktion der Grünen einen Gesetzesantrag für eben diesen Mehrbetrag von 100 Euro in den Bundestag ein. Die Grundlagen dieses Antrags sind mehr als plausibel. Nicht nur, dass, wie durch die Studienreihe "Was der Mensch braucht" mehrfach belegt, der Regelsatz schon vom Grunde her erheblich zu niedrig ist und kaum zum Überleben reicht, hat sich diese Situation durch die Folgen der Coronakrise noch einmal deutlich verschärft. (…) Dennoch wurde der Antrag der Grünen zum Mehrbedarf mit einer satten Mehrheit im Bundestag abgelehnt."

Nimmt man den Schutz des menschlichen Lebens ernst, kann man leider nur schlussfolgern, dass die Nichtberücksichtigung das Leben der betroffenen Menschen stark gefährdet. Die Menschen, die die größten Lasten des Lockdowns getragen haben, werden nicht entlastet und berücksichtigt. Es findet kein zweiter Akt der Solidarität statt. Nein, ein Ende neoliberaler Wirtschaftspolitik kann man wohl kaum vermelden.

Lackmustests

Inwiefern der Neoliberalismus als Sieger vom Platz geht, wird sich unter anderem daran zeigen, was mit den Krankenhäusern geschieht. Denn vielen Krankenhäusern drohen derzeit ohne geeignete Finanzierungsinstrumente erhebliche Defizite, so dass Insolvenzen und weitere Privatisierungen die Folge sein könnten. Dies würde in der Konsequenz zu einer Verstärkung des Diktats der Effizienz führen und genau die falsche Lehre aus der Krise ziehen.

Wenn allen Ernstes die Antwort des Staates auf die wirtschaftliche Schieflage der Krankenhäuser darin besteht, in die neoliberale Werkzeugkiste zu greifen und wider besseren Wissens die Vorschläge der Bertelsmann-Stiftung umzusetzen und Krankenhäuser noch weiter zu privatisieren und abzubauen, wäre es offenbar, dass der Neoliberalismus auch aus dieser Krise gestärkt hervorgeht.

Ein zweites Feld, auf dem sich entscheiden wird, inwiefern Wirtschaftsinteressen und neoliberale Wirtschaftspolitik sich durchsetzen können, ist die Forschung nach einem Impfstoff. Aktuell gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen. Auf der einen Seite ist beispielsweise die Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der EU zu nennen, die bisher 7,4 Milliarden EUR zur Verfügung gestellt haben, damit die Forschung an einem Impfstoff, die Verbesserung der Diagnose und die Forschung in die Behandlung von Covid-19 massiv befördert und beschleunigt werden. Der besondere Punkt hierbei: Der Impfstoff soll ein öffentliches Gut sein und zu einem für alle Länder erschwinglichen Preis angeboten werden (hier eine detaillierte Analyse).

In eine ähnliche Richtung geht eine weitere Initiative der WHO, die die Länder dazu ermuntern will, die Forschung über Coronavirus-Behandlungen miteinander zu teilen und alle Medikamente patentfrei herzustellen. Dies würde bedeuten, dass sie je nach Bedarf gerecht verteilt werden könnten. In den USA haben die Demokraten im Repräsentantenhaus zudem einen Plan angekündigt, sicherzustellen, dass Medikamente und Impfstoffe für Covid-19 für alle erschwinglich und zugänglich sind.

Auf der anderen Seite zeichnet sich aktuell ein Kampf der Pharma-Unternehmen an, die Gewinnmaximierung mit dem Impfstoff möglichst wenig einzuschränken und einmal mehr den Markt entscheiden zu lassen. Trotz der desaströsen Erfahrungen, als in den 1990er Jahren Millionen Menschen in Afrika an AIDS starben, weil Medikamente unerschwinglich waren. So sucht die Pharmabranche in den USA gemeinsam mit den Republikanern sicher zu stellen, dass die Rechte an einem Impfstoff beim Unternehmen bleiben.

Die Initiative der WHO über eine kooperative und transparente Forschung sowie patentfreier Medikamente wird zwar von Ländern wie Kanada, Deutschland, Chile, Israel und Ecuador aktiv unterstützt, Großbritannien aber verweigerte seine Zustimmung und Giganten wie Pfizer, GlaxoSmithKlein und AstraZeneca ihre Teilnahme.

Wird sich einmal mehr die Marktlogik durchsetzen? Oder kommt es erstmals zu einer kooperativen Lösung, die bewusst Marktmechanismen und Gewinnmaximierung außer Kraft setzt? Hieran, ebenso wie bei der Gestaltung des Krankenhaussektors wird sich konkret entscheiden, ob einmal mehr neoliberale Konzepte sich durchsetzen.

Pessimismus und Weckruf

Wie wird die längerfristige Entwicklung aussehen? Alfredo Saad-Filho, Professor für Politische Ökonomie und Internationale Entwicklung am Londoner King’s College, warnt: "Zweifellos werden sie zur Normalität zurückkehren, wenn sich die Umstände ändern und die Erinnerungen verblassen. Zu diesem Zeitpunkt wird der Staat wieder 'schlecht' werden, und die öffentlichen Dienste werden für eine weitere Runde der Keulung bereit sein. In der Zwischenzeit ist der Neoliberalismus ideologiefrei." Daher sieht er die gegenwärtige Situation als einen Weckruf:

Die Linke muss betonen, dass die Wirtschaft ein kollektives System ist (‚wir sind die Wirtschaft!‘), dass wir als Menschen miteinander verbunden sind und dass öffentliche Dienstleistungen unerlässlich sind. Dies könnte den Weg für eine fortschrittliche Alternative zum Neoliberalismus ebnen. (...) Statt der Verbrechen und Ineffizienzen des Neoliberalismus brauchen wir eine progressive Besteuerung, den Ausbau der öffentlichen Dienste mit eingebauten Reservekapazitäten für Notfälle und eine Gesellschaft, die auf Solidarität, menschlichen Werten und Achtung vor der Natur beruht.

Alfredo Saad-Filho

Philip Mirowksi teilt die Warnung Saad-Filhos, meint jedoch, dass der Neoliberalismus einmal mehr als Gewinner dastehen wird:

Ein noch weniger regulierter Markt, eine immer stärker werdende Pharmaindustrie und eine Betonung des populistischen Diskurses: Das ist die Zukunft, die auf uns wartet. Es liegt auf der Hand, dass wir zunächst einmal die Solidaritätsimpulse feiern werden, die wir gehabt haben, wir werden einen beruhigenden Nationalismus hervorheben. Aber verdeckt wird diese Krise ein viel stärker geschichtetes System verewigen, in dem die Menschen weniger Pflege erhalten und die Gesundheitsversorgung privatisiert werden wird.

Philip Mirowksi

In einem weiteren Interview zählt Mirowski die bisherigen Teilerfolge der neoliberalen Strategie auf:

Sie (die Neoliberalen A.W.) sehen die Ausweidung der FDA-Kontrollen (US-Food and Drug Administration A.W.) über Medikamente, die Förderung der privatisierten Telemedizin, die sie schon seit langem vorschlagen - sie versuchen, die Vorstellung loszuwerden, dass eine arme Person in der Lage sein sollte, einen Arzt von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Sie sehen diese Entwicklungen auch als Blockade eines staatlichen Einzahlersystems in den USA - sie glauben, dass die Krise dies weniger wahrscheinlich gemacht hat als zuvor. (...) Was nun passieren wird, ist ein weit verbreiteter Fernunterricht, sogar auf elementarer Ebene. Damit wird der Heimunterricht gefördert, etwas, wofür sie sich schon immer eingesetzt haben. Es fördert die Privatisierung der Grundschulbildung, und das ist großartig.

Philip Mirowksi

Mirowski ist auch deutlich pessimistischer, ob der Weckruf gehört werden wird: "Aber die Linke schenkt dem überhaupt nicht genügend Aufmerksamkeit. (...) Die Linke spricht ständig von einer helleren Welt, die entstehen könnte - aber sie schaut nicht auf die tatsächliche Politik, die sich gerade jetzt vor ihren Augen abspielt."

Zeit für einen Systemwechsel?

Alan Greenspan, der damalige Vorsitzende der amerikanischen Bundesbank, erklärte ein Jahr vor der Finanzkrise unverblümt:

Wir haben das Glück, dass die politischen Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Markwirtschaft ersetzt wurden. Mit Ausnahme des Themas der nationalen Sicherheit spielt es kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident sein wird. Die Welt wird durch die Marktkräfte regiert.

Alan Greenspan

Sollte es tatsächlich so sein, dass angesichts der aktuellen Corona-Krise einmal mehr das bekannte Diktum des Philosophen Frederic Jameson seine Geltung beweist: "Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus."

Ideen für einen radikalen Wandel, der die Lehren aus der aktuellen Krise ziehen will, gibt es durchaus. So denkt die für die radikale Linke eher unverdächtige FAZ in dem Artikel "Ein Kunde ist kein Patient" über eine Regulierung der Pharma-Industrie und eine zentral gestaltende Rolle des Staates nach: "Es bedeutet auch nicht zwingend, dass nun staatliche Pharmaunternehmen aufgebaut werden sollten. Es bedeutet nur eine stärkere Intervention in die pharmazeutische Grundsicherung, die nicht einfach dem Gewinnkalkül überlassen werden sollte, so als sei dieses Kalkül die mit immer demselben Zitat von Adam Smith belegbare Lösung aller Probleme." Durchaus zustimmend wird ein Beitrag des "British Medical Journal" zitiert, der im Titel die Frage aufwirft: "Ist es an der Zeit, die Pharmaindustrie zu verstaatlichen?"

Einen Schritt weiter geht Jan Korte (Die Linke) in einem Gastbeitrag für Spiegel Online:

Warum nicht nächste Sitzungswoche einen Vierjahresplan zur vollständigen Entprivatisierung des Gesundheitswesens beschließen? (…) Wenn Bundesminister gerade abfeiern, dass Menschen solidarisch mit ihren Nachbarn sind und denen helfen, die es brauchen: Warum nicht den ganzen Staat wieder so organisieren? Dann kann am Ende dieser furchtbaren Krise, in der es jetzt darum geht, Menschenleben zu schützen, eine Chance liegen: Drei Jahrzehnte in der deutschen und internationalen Politik, in der der Markt alles war, der Mensch und die Gemeinschaft aber nichts, zu beenden. Und für unsere Kinder eine neue Ära der Solidarität und der Demokratie einzuleiten.

Jan Korte

Philip Mirowski ist pessimistisch, was Änderungen zum Positiven betrifft. Der Grund hierfür besteht hauptsächlich darin, dass sich die Linke in der Problembeschreibung täuscht:

Die Bevölkerung wird merken, dass etwas grundsätzlich falsch läuft. Aber wie reagieren sie darauf? Leute von der Linken scheinen geneigt zu sein, zu projizieren, dass die Marktorganisation das Problem ist - aber das glaube ich nicht. Ich glaube, die Dinge werden viel eher eine politische Wende nehmen. Sie werden versuchen, alle möglichen Sündenböcke dafür zu finden, wer verantwortlich ist, da die Neoliberalen einen allgemeinen Nebel der Post-Wahrheit fördern. Und der könnte sich genauso gut gegen die Linke wenden.

Philip Mirowski

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".

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