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Seite 4: Pessimismus und Weckruf
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Wie wird die längerfristige Entwicklung aussehen? Alfredo Saad-Filho, Professor für Politische Ökonomie und Internationale Entwicklung am Londoner King’s College, warnt: "Zweifellos werden sie zur Normalität zurückkehren, wenn sich die Umstände ändern und die Erinnerungen verblassen. Zu diesem Zeitpunkt wird der Staat wieder 'schlecht' werden, und die öffentlichen Dienste werden für eine weitere Runde der Keulung bereit sein. In der Zwischenzeit ist der Neoliberalismus ideologiefrei." Daher sieht er die gegenwärtige Situation als einen Weckruf:
Die Linke muss betonen, dass die Wirtschaft ein kollektives System ist (‚wir sind die Wirtschaft!‘), dass wir als Menschen miteinander verbunden sind und dass öffentliche Dienstleistungen unerlässlich sind. Dies könnte den Weg für eine fortschrittliche Alternative zum Neoliberalismus ebnen. (...) Statt der Verbrechen und Ineffizienzen des Neoliberalismus brauchen wir eine progressive Besteuerung, den Ausbau der öffentlichen Dienste mit eingebauten Reservekapazitäten für Notfälle und eine Gesellschaft, die auf Solidarität, menschlichen Werten und Achtung vor der Natur beruht.
Alfredo Saad-Filho
Philip Mirowksi teilt die Warnung Saad-Filhos, meint jedoch, dass der Neoliberalismus einmal mehr als Gewinner dastehen wird:
Ein noch weniger regulierter Markt, eine immer stärker werdende Pharmaindustrie und eine Betonung des populistischen Diskurses: Das ist die Zukunft, die auf uns wartet. Es liegt auf der Hand, dass wir zunächst einmal die Solidaritätsimpulse feiern werden, die wir gehabt haben, wir werden einen beruhigenden Nationalismus hervorheben. Aber verdeckt wird diese Krise ein viel stärker geschichtetes System verewigen, in dem die Menschen weniger Pflege erhalten und die Gesundheitsversorgung privatisiert werden wird.
Philip Mirowksi
In einem weiteren Interview zählt Mirowski die bisherigen Teilerfolge der neoliberalen Strategie auf:
Sie (die Neoliberalen A.W.) sehen die Ausweidung der FDA-Kontrollen (US-Food and Drug Administration A.W.) über Medikamente, die Förderung der privatisierten Telemedizin, die sie schon seit langem vorschlagen - sie versuchen, die Vorstellung loszuwerden, dass eine arme Person in der Lage sein sollte, einen Arzt von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Sie sehen diese Entwicklungen auch als Blockade eines staatlichen Einzahlersystems in den USA - sie glauben, dass die Krise dies weniger wahrscheinlich gemacht hat als zuvor. (...) Was nun passieren wird, ist ein weit verbreiteter Fernunterricht, sogar auf elementarer Ebene. Damit wird der Heimunterricht gefördert, etwas, wofür sie sich schon immer eingesetzt haben. Es fördert die Privatisierung der Grundschulbildung, und das ist großartig.
Philip Mirowksi
Mirowski ist auch deutlich pessimistischer, ob der Weckruf gehört werden wird: "Aber die Linke schenkt dem überhaupt nicht genügend Aufmerksamkeit. (...) Die Linke spricht ständig von einer helleren Welt, die entstehen könnte - aber sie schaut nicht auf die tatsächliche Politik, die sich gerade jetzt vor ihren Augen abspielt."
Zeit für einen Systemwechsel?
Alan Greenspan, der damalige Vorsitzende der amerikanischen Bundesbank, erklärte ein Jahr vor der Finanzkrise unverblümt:
Wir haben das Glück, dass die politischen Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Markwirtschaft ersetzt wurden. Mit Ausnahme des Themas der nationalen Sicherheit spielt es kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident sein wird. Die Welt wird durch die Marktkräfte regiert.
Alan Greenspan
Sollte es tatsächlich so sein, dass angesichts der aktuellen Corona-Krise einmal mehr das bekannte Diktum des Philosophen Frederic Jameson seine Geltung beweist: "Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus."
Ideen für einen radikalen Wandel, der die Lehren aus der aktuellen Krise ziehen will, gibt es durchaus. So denkt die für die radikale Linke eher unverdächtige FAZ in dem Artikel "Ein Kunde ist kein Patient" über eine Regulierung der Pharma-Industrie und eine zentral gestaltende Rolle des Staates nach: "Es bedeutet auch nicht zwingend, dass nun staatliche Pharmaunternehmen aufgebaut werden sollten. Es bedeutet nur eine stärkere Intervention in die pharmazeutische Grundsicherung, die nicht einfach dem Gewinnkalkül überlassen werden sollte, so als sei dieses Kalkül die mit immer demselben Zitat von Adam Smith belegbare Lösung aller Probleme." Durchaus zustimmend wird ein Beitrag des "British Medical Journal" zitiert, der im Titel die Frage aufwirft: "Ist es an der Zeit, die Pharmaindustrie zu verstaatlichen?"
Einen Schritt weiter geht Jan Korte (Die Linke) in einem Gastbeitrag für Spiegel Online:
Warum nicht nächste Sitzungswoche einen Vierjahresplan zur vollständigen Entprivatisierung des Gesundheitswesens beschließen? (…) Wenn Bundesminister gerade abfeiern, dass Menschen solidarisch mit ihren Nachbarn sind und denen helfen, die es brauchen: Warum nicht den ganzen Staat wieder so organisieren? Dann kann am Ende dieser furchtbaren Krise, in der es jetzt darum geht, Menschenleben zu schützen, eine Chance liegen: Drei Jahrzehnte in der deutschen und internationalen Politik, in der der Markt alles war, der Mensch und die Gemeinschaft aber nichts, zu beenden. Und für unsere Kinder eine neue Ära der Solidarität und der Demokratie einzuleiten.
Jan Korte
Philip Mirowski ist pessimistisch, was Änderungen zum Positiven betrifft. Der Grund hierfür besteht hauptsächlich darin, dass sich die Linke in der Problembeschreibung täuscht:
Die Bevölkerung wird merken, dass etwas grundsätzlich falsch läuft. Aber wie reagieren sie darauf? Leute von der Linken scheinen geneigt zu sein, zu projizieren, dass die Marktorganisation das Problem ist - aber das glaube ich nicht. Ich glaube, die Dinge werden viel eher eine politische Wende nehmen. Sie werden versuchen, alle möglichen Sündenböcke dafür zu finden, wer verantwortlich ist, da die Neoliberalen einen allgemeinen Nebel der Post-Wahrheit fördern. Und der könnte sich genauso gut gegen die Linke wenden.
Philip Mirowski
Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".
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