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Seite 3: Neoliberale Phänomene
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Ein Blick in die USA offenbart, dass es in dieser Krise einmal mehr sehr viele Verlierer und einige wenige Gewinner gibt (deren Gewinn aber beträchtlich ist). Während beispielsweise in der zehnten Woche der Corona-Krise in den USA die Zahl der Arbeitslosen auf mehr als 40 Millionen schnellte, durften sich laut Forbes die Milliardäre über einen durchschnittlichen Vermögenszuwachs von 16,5 Prozent freuen. Die fünf reichsten US-Milliardäre konnten ihren Reichtum um insgesamt 75,5 Milliarden Dollar steigern. Das Nettovermögen des Amazon-Gründers und CEO Jeff Bezos wuchs in den vergangenen zwei Monaten um ein knappes Drittel auf 147,6 Milliarden Dollar. Das Vermögen von Mark Zuckerberg legte um 25 Milliarden US-Dollar zu. Bill Gates, Warren Buffett und Larry Ellison wurden "nur" um 15,5 Milliarden reicher, wobei ersterer 8 Milliarden US-Dollar zulegte.
Covid-19 vergrößert aber nicht nur radikal den bereits tiefen Graben der Ungleichheit (der Lockdown hat besonders stark die ärmeren Menschen getroffen), sondern der Virus tötet besonders häufig ärmere Menschen. Entsprechend unterstrich die FAZ: "Es gibt eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit." Und die Zeit betonte "Gesundheit ist eine zutiefst ungleich verteilte Ressource."
Nicht zuletzt sind insbesondere die Länder in der Welt stark von Covid-19 betroffen, in denen die Ungleichheit am höchsten ist, wie der Journalist Jörg Schindler bemerkt. So ist in den USA und Brasilien die Ungleichheit sehr ausgeprägt. In Europa leiden Spanien, Italien und Großbritannien am stärksten unter Covid-19. Zugleich sind es die drei ungleichsten Länder. Überspitzt kann man formulieren, dass Covid-19 durch die Intensivierung der Ungleichheit die Voraussetzung für seine Verbreitung verbessert. Es vergrößert die Ungleichheit massiv. Daher ist ein solider Sozialstaat auch für die Gesundheit der Menschen überlebenswichtig.
Erste Anzeichen
Es gibt einige bedenkliche Hinweise, dass die Politik reflexartig in die neoliberalen Werkzeugkiste greift, um der Krise zu begegnen. So forderte Friedrich Merz, die staatlichen Leistungen auf den Prüfstand zu stellen (also quasi genau die lebenserhaltenden Maßnahmen).
Man durfte daher gespannt sein, wie das Konjunkturpaket der Regierung gerade auf die Frage der zunehmenden Ungleichheit und der sozialen Schieflage des Landes reagiert. Es gibt einige positive Aspekte zu verzeichnen (Verzicht auf Abwrackprämie, Kinderbonus für Eltern oder die finanzielle Entlastung der Kommunen sowie Kaufkraftstärkung), aber "zur Ankurbelung der Konjunktur und um der sozialen Spaltung entgegenzuwirken, hätte man besser niedrige Renten und Löhne sowie das Kurzarbeitergeld erhöht", wie Sarah Wagenknecht zu Recht kritisiert. Ebenso ausgelassen wurde die Möglichkeit, durch staatliche Investitionen in soziale Infrastruktur und neue Arbeitsplätze das Land sozialer zu machen und die Explosion der Ungleichheit zu begrenzen. Symptomatisch: Pflegekräfte und kinderlose Leistungsempfänger gehen leer aus. Es hat sich ausgeklatscht.
Erwähnt werden sollte auch Sahra Wagenknechts Kritik: "Nur Elektroautos mit bis zu 6000 Euro zu fördern, ist ökologisch unsinnig und sozial ungerecht, denn nur Besserverdiener können sich ein solches Auto leisten! Die Verkehrswende wird man mit dem Paket nicht voranbringen - die zugesagten Zuschüsse für Bahn und ÖPNV reichen nicht einmal, um die Einnahmeausfälle durch die Coronakrise zu decken."
Die einmalige Gelegenheit, dass der Staat seinen neugefunden Handlungsspielraum nutzt, um dem destruktiven Treiben der Wirtschaft enge Grenzen zu setzen, wurde verspielt. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurde es nicht zur Bedingung für staatliche Förderung der Betriebe gemacht, dass sie in dieser Zeit keine großen Dividenden ausschütten und ihre Manager nicht mit hohen Boni beglücken dürfen. Insbesondere hätten nur Unternehmen staatliche Förderung beantragen dürfen, wenn die Bedingung erfüllt ist, dass sie Gewinne nicht in Steueroasen verschieben oder Steueroasen und Schattenfinanzplätze zur Steuervermeidung nutzen. Beispielsweise die Lufthansa. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein Unternehmen, das von Steuergeldern gerettet werden will, seinen fairen Teil an Steuern selber entrichten sollte und keine Maximierung der Steuervermeidung betreibt.
Auch eine Vermögenssteuer und Steuererhöhungen für das oberste Prozent der Gesellschaft, wurden nicht beschlossen. Diese bleiben im Neoliberalismus weiterhin ein rotes Tuch. Die Tatsache, dass der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty mit einer monumentalen historischen Analyse detailliert nachgewiesen hat, dass diese positiv für Gesellschaft und Wirtschaftswachstum seien und sie gerade in der aktuellen Krise fordert, ändert an der reflexartigen Ablehnung nichts.
Generell "weist das Konjunkturpaket wie alle bisherigen Corona-Hilfsmaßnahmen des Staates eine verteilungspolitische Schieflage auf", wie der Soziologe Christoph Butterwegge schreibt: "Die am härtesten von der Pandemie betroffenen Personengruppen werden hingegen nur am Rande bedacht, wenn überhaupt."
Die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes macht zwar auf den ersten Blick gerade in sozialer Hinsicht viel Sinn, weil "diese Steuerart arme Personen, die einen Großteil ihres Einkommens in den Alltagskonsum stecken (müssen), am härtesten trifft." Denn, so Butterwegges Sorge: "Nur wird kaum ein Händler wegen der befristeten Mehrwertsteuersenkung die Preise seiner Waren für ein halbes Jahr senken, sondern fast jeder Unternehmer wird die geringere Abführung ans Finanzamt als eigenen Gewinn verbuchen."
Anstatt des Gießkannenprinzips fordert Butterwegge: "Familien im Transferleistungsbezug wäre eher mit einem Ernährungsaufschlag in Höhe von 100 Euro pro Monat gedient, wie ihn Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen seit Wochen fordern. Denn viele Lebensmitteltafeln sind geschlossen worden und die Preise für zahlreiche Nahrungsmittel in den vergangenen Wochen gestiegen."
Aus diesem Grunde auch hätte gerade eine besondere Berücksichtigung der Hartz-IV-Empfänger im Konjunkturpaket erfolgen müssen. Hätte. Lutz Hausstein bemerkt: "Während an anderen Stellen der Gesellschaft Milliarden von Euro ausgegeben werden, erhalten gerade die, denen es am schlechtesten geht, nicht die geringste Unterstützung. Forderte schon eine Gemeinschaft von zivilen gesellschaftlichen Organisationen am 2. Mai 2020 einen Mehrbedarf von 100 Euro monatlich auf Sozialleistungen, so brachte die Bundestagsfraktion der Grünen einen Gesetzesantrag für eben diesen Mehrbetrag von 100 Euro in den Bundestag ein. Die Grundlagen dieses Antrags sind mehr als plausibel. Nicht nur, dass, wie durch die Studienreihe "Was der Mensch braucht" mehrfach belegt, der Regelsatz schon vom Grunde her erheblich zu niedrig ist und kaum zum Überleben reicht, hat sich diese Situation durch die Folgen der Coronakrise noch einmal deutlich verschärft. (…) Dennoch wurde der Antrag der Grünen zum Mehrbedarf mit einer satten Mehrheit im Bundestag abgelehnt."
Nimmt man den Schutz des menschlichen Lebens ernst, kann man leider nur schlussfolgern, dass die Nichtberücksichtigung das Leben der betroffenen Menschen stark gefährdet. Die Menschen, die die größten Lasten des Lockdowns getragen haben, werden nicht entlastet und berücksichtigt. Es findet kein zweiter Akt der Solidarität statt. Nein, ein Ende neoliberaler Wirtschaftspolitik kann man wohl kaum vermelden.
Lackmustests
Inwiefern der Neoliberalismus als Sieger vom Platz geht, wird sich unter anderem daran zeigen, was mit den Krankenhäusern geschieht. Denn vielen Krankenhäusern drohen derzeit ohne geeignete Finanzierungsinstrumente erhebliche Defizite, so dass Insolvenzen und weitere Privatisierungen die Folge sein könnten. Dies würde in der Konsequenz zu einer Verstärkung des Diktats der Effizienz führen und genau die falsche Lehre aus der Krise ziehen.
Wenn allen Ernstes die Antwort des Staates auf die wirtschaftliche Schieflage der Krankenhäuser darin besteht, in die neoliberale Werkzeugkiste zu greifen und wider besseren Wissens die Vorschläge der Bertelsmann-Stiftung umzusetzen und Krankenhäuser noch weiter zu privatisieren und abzubauen, wäre es offenbar, dass der Neoliberalismus auch aus dieser Krise gestärkt hervorgeht.
Ein zweites Feld, auf dem sich entscheiden wird, inwiefern Wirtschaftsinteressen und neoliberale Wirtschaftspolitik sich durchsetzen können, ist die Forschung nach einem Impfstoff. Aktuell gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen. Auf der einen Seite ist beispielsweise die Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der EU zu nennen, die bisher 7,4 Milliarden EUR zur Verfügung gestellt haben, damit die Forschung an einem Impfstoff, die Verbesserung der Diagnose und die Forschung in die Behandlung von Covid-19 massiv befördert und beschleunigt werden. Der besondere Punkt hierbei: Der Impfstoff soll ein öffentliches Gut sein und zu einem für alle Länder erschwinglichen Preis angeboten werden (hier eine detaillierte Analyse).
In eine ähnliche Richtung geht eine weitere Initiative der WHO, die die Länder dazu ermuntern will, die Forschung über Coronavirus-Behandlungen miteinander zu teilen und alle Medikamente patentfrei herzustellen. Dies würde bedeuten, dass sie je nach Bedarf gerecht verteilt werden könnten. In den USA haben die Demokraten im Repräsentantenhaus zudem einen Plan angekündigt, sicherzustellen, dass Medikamente und Impfstoffe für Covid-19 für alle erschwinglich und zugänglich sind.
Auf der anderen Seite zeichnet sich aktuell ein Kampf der Pharma-Unternehmen an, die Gewinnmaximierung mit dem Impfstoff möglichst wenig einzuschränken und einmal mehr den Markt entscheiden zu lassen. Trotz der desaströsen Erfahrungen, als in den 1990er Jahren Millionen Menschen in Afrika an AIDS starben, weil Medikamente unerschwinglich waren. So sucht die Pharmabranche in den USA gemeinsam mit den Republikanern sicher zu stellen, dass die Rechte an einem Impfstoff beim Unternehmen bleiben.
Die Initiative der WHO über eine kooperative und transparente Forschung sowie patentfreier Medikamente wird zwar von Ländern wie Kanada, Deutschland, Chile, Israel und Ecuador aktiv unterstützt, Großbritannien aber verweigerte seine Zustimmung und Giganten wie Pfizer, GlaxoSmithKlein und AstraZeneca ihre Teilnahme.
Wird sich einmal mehr die Marktlogik durchsetzen? Oder kommt es erstmals zu einer kooperativen Lösung, die bewusst Marktmechanismen und Gewinnmaximierung außer Kraft setzt? Hieran, ebenso wie bei der Gestaltung des Krankenhaussektors wird sich konkret entscheiden, ob einmal mehr neoliberale Konzepte sich durchsetzen.
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