Feindbild Russland - das "Warum" und wie es überwindbar ist
Wie wirken westliche Narrative in dem Land, das hier als Bedrohung dargestellt wird? Ein Vortrag auf der Sommerakademie des Bundesverbandes des Netzwerks Attac
"Russland bereitet die Besetzung des Donbass vor" - "Die Russen haben sich beim Brexit eingemischt" - das sind Schlagzeilen, die man in der deutschen Presse finden kann.
Zweierlei Maß im Ukraine-Konflikt
Dass sich Russland den Donbass einverleiben wird, ist häufig zu lesen. Als Beleg werden etwa die Manöver russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine oder von Wladimir Putin geschickte Truppen genannt. Dass die Nato überall an Russlands Grenzen ebenfalls Manöver abhält, wird dabei ausgeblendet - oder dass russische Übungen an seinen Grenzen schon seit Jahrzehnten stattfinden, auch bereits zu Sowjetzeiten.
Hier besteht ein Feindbild - und um sich ausgewogen mit der Thematik zu beschäftigen, sollte man sich kritische Fragen stellen, die helfen zu verstehen, wie die Situation wirklich ist. Hat Russland überhaupt die wirtschaftlichen Ressourcen für eine Einverleibung des Donbass? Hier kann man einfach recherchieren, was das russische Bruttoinlandsprodukt angeht, wofür das Land sein Geld ausgibt und bekommt sehr schnell ein Bild, ob es noch bereit ist, zusätzlich solche Summen zu investieren, die dafür nötig wären. Vor allem aktuell kurz vor der Dumawahl, auf die sich Russland vorbereitet.
Die nächste Frage wäre die nach der Unterstützung der russischen Bevölkerung. Hier ist die Antwort nicht unbedingt eindeutig - ein Teil wird es immer willkommen heißen, wenn sich das Territorium vergrößert. Imperialistisches Denken - solche Leute gibt es überall. Sie sind eine Minderheit mit einem Recht auf eine eigene Meinung, aber es sind nicht viele. Man sieht es am Beispiel der Krim, wo laufend Gelder hingeschickt werden müssen - und das bei der aktuellen wirtschaftlichen Situation in Russland.
Zum Dritten stellt sich die Frage, ob es für Russland geopolitisch nicht von Vorteil ist, dass die Ukraine wie jetzt gespalten ist, statt dass ein kleiner Teil von ihr russisch wird. Eine geeinte Rest-Ukraine könnte in diesem Fall der Nato beitreten. Solange die Ukraine gespalten ist, besteht diese Möglichkeit nicht. Ist es für Russland günstig, entlang fast seiner gesamten Westgrenze Staaten des Nato-Blocks zu haben?
Brexit von Vorteil für Russland?
Diese Nachfragen zerstören Feindbilder nicht zu 100 Prozent, aber wenn ich sie stelle, erweitere ich meine eigenen Kenntnisse und werde weniger anfällig für solche Aussagen. Ähnlich verhält es sich bei meinem zweiten Beispiel: Die Russen hätten sich in den Brexit eingemischt. Hier stelle ich wieder eine Frage: Gibt es dafür Beweise? Wenn es solche gäbe, gäbe es ein offizielles Verfahren in London und nicht nur irgendwelche Presseberichte. Außerdem ist das durch den Brexit entstandene engere Verhältnis Großbritanniens zu den USA nicht günstig für Russland.
Es fragt sich auch, ob Russland ohne ein starkes Europa in den Wettbewerb mit China einsteigen will. Ich muss aber betonen: Das bedeutet nicht, dass Russland aktuell keine Schritte unternimmt, die Europa schwächen könnten.
Feindbilder in Russland
Ich möchte hier nicht einseitig klingen. Natürlich gibt es auch in Russland Feindbilder im Bezug auf Europa. Um gerecht zu sein, muss ich hier ebenfalls ein Beispiel anführen. Ein wichtiges Thema, das in Russland immer wieder auftaucht, ist das Thema der sexuellen Minderheiten, etwa der LGBTQ-Bewegung.
Zur Diskussion über das umstrittene ungarische LGBTQ-Gesetz meint die Sprecherin des Russischen Außenministeriums Maria Sacharowa, der Westen lehne Diversität ab, indem man Ungarn darauf fordere, sich an die "europäischen" Normen zu halten. Hier wird ein aufgeklärtes Bild über sexuelle Orientierungen mit Haltlosigkeit gleichgesetzt - und das ist ein bekanntes Feindbild, das es in Russland im Bezug auf Europa gibt.
Feindbilder als Folge der Interessenkluft
Warum entstehen solche Feindbilder zwischen Russland und dem Westen? Hier sehe ich objektive und subjektive Gründe. Ein objektiver Grund ist einfach die fehlende Übereinstimmung nationaler Interessen. So lange wir in einer Welt leben, in der es Nationalstaaten gibt, gibt es auch nationale Interessen, die jedes Land selbst definiert und die sich unterscheiden. Diese Unstimmigkeiten sind schwer zu überwinden, bevor das eigentliche Problem gelöst wird.
Es gibt Themen, die aus dieser nationalstaatlichen Sicht gegensätzlich interpretiert werden. So ist die Erweiterung der Nato für westliche Länder, die dort Mitglied sind, eine Erweiterung der Demokratie. Wie wirkt sie auf die Länder, die nicht dort Mitglied sind? Ist es für diese Länder eine Gefahr, einen militärischen Block an der eigenen Grenze zu haben? Gleiches gilt für die ABM-Raketenabwehrsysteme in Europa. Gegen wen sind sie gerichtet? Das ist eine immanent wichtige Frage - eine Frage der Sicherheit dieser Länder, die sich bedroht fühlen. Für die Länder, die sie voran treiben, ist es umgekehrt eine zusätzliche Sicherheit.
Eine ähnliche Frage stellt sich bezüglich nationaler Konflikte - jede Seite ist von der Richtigkeit ihrer Position überzeugt. So erklärt Russland seine Präsenz in Syrien damit, dass man vom legitimen Präsidenten Assad dazu eingeladen wurde, wie es der UNO-Charta entspricht. Die USA und die westlichen Staaten vertreten hier natürlich eine andere Meinung.
Ich will hier nicht schwarz malen. Gemeinsame Sicherheitssysteme in Europa und die Lösung globaler Probleme - ein Beispiel ist der Klimawandel - sind im Interesse aller Seiten. Dazu gibt es auch viele Äußerungen von Staatsoberhäuptern. Positiv ist auch, dass der Mensch an sich in den internationalen Beziehungen eine größere Rolle spielt als früher - das macht es schwieriger, illegitime Aktionen zu unternehmen. Die Menschen sind auch über elektronische Kommunikation wie das Internet stärker vernetzt als früher. Dort bekommt jeder die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern.
Subjektive Feindbilder mit psychologischem Hintergrund
Es gibt auch subjektive Gründe für Feindbilder, die in den Bereich der Psychologie hinein spielen. Etwa eine Angst mit geschichtlichem Hintergrund. Ein negatives Beispiel ist hier etwa das Verhältnis zwischen Polen und Russland. Polen hat schwerwiegende Erfahrungen in der Sowjetzeit gemacht - und entsprechende Stereotypen wirken bis heute. Sie vergiften die Beziehungen zwischen beiden Staaten.
Eine weitere subjektive Ursache ist einfach fehlendes Interesse. Wenn ich mich für ein Land nicht sonderlich interessiere, reichen mir vereinfachte Informationen. Ich brauche keine Überprüfungen, möchte nichts in Frage stellen. Das ist sehr schade und hängt auch von der Präsentation des jeweiligen Landes ab. Hier muss auch Russland an seinem Image arbeiten.
Aber wenn ein professioneller Journalist oder ein sachlicher Experte auf ein Land blickt, darf er seinen Blick nicht auf diese Weise trüben lassen. Gerade im Bezug auf Vereinfachungen. Sie nehmen uns die Möglichkeit, Kleinigkeiten zu entdecken, die zeigen, dass das große Bild nicht stimmt.
Vereinfachungen werden leider von Politikern und Journalisten genutzt, um eine breite Masse anzusprechen. Eine oberflächliche Analyse ist in jedem Fall einfacher. Viele lesen sie, viele kaufen sie. Für eine tiefere Analyse interessieren sich nur wenige oder zahlen dafür. Über sie kommt man nicht so stark in die Diskussion. Viel hängt hier von der Gesellschaft ab, von uns.
Feindbild-Bekämpfung durch kritisches Denken
Ein ehrlicher und offener Dialog ist nur möglich, wenn Menschen ehrlich über Zustände berichten, wenn das kritische Denken aktiviert ist. Dieses besteht für mich aus drei Komponenten. Zunächst muss ich die Positionen aller beteiligten Seiten kennen, vor Augen haben.
Zweitens muss ich die Motivation der Hauptbeteiligten verstehen, das "Warum". Es sollte einem immer merkwürdig vorkommen, wenn die Regierung eines Landes einen zunächst nicht nachvollziehbaren Schritt unternimmt, dessen Bevölkerung aber diesen Schritt unterstützt. Das bedeutet, das es eine überwiegende Motivation gibt, die man nicht außer Acht lassen kann.
Drittens muss man den Kontext verstehen, das globale Umfeld und die Zustände, in denen diese oder jene Entscheidung getroffen wird. Es ist auch wichtig, eine eigene Arroganz gegenüber dem anderen abzulegen. Das Denken: "Bei mir ist es richtig" - "Ich weiß, wie das bei Ihnen gemacht werden muss" - und die Empfehlung es genauso zu tun. Das funktioniert selten und verursacht häufiger Missverständnisse und schlechte Gefühle. Man lehnt es sofort ab, will Kritik nicht akzeptieren, da sie gleich von Anfang an unsachlich wirkt. Sie wirkt vielleicht sogar eher beleidigend.
Das Feindbilddenken zu überwinden, ist eine sehr wichtige Aufgabe. Sie bedeutet das Durchbrechen eines Teufelskreises, in dem schlimmer Journalismus für ein dankbares Publikum produziert wird. Es ist der springende Punkt, was das Publikum nachfragt, verursacht das Angebot - es muss sich auf sein Publikum ausrichten. Will dieses eine gute, tiefere Analyse, wird es sie am Ende geben, da sie gekauft wird.
Fragen für einen besseren Journalismus
Es muss berichtet werden, wie es ist, nicht wie es sein muss oder ich es sehe. Berichtet werden muss mit Fakten, Details und allen Meinungen - ein breites Spektrum davon, statt ein voneinander Abschreiben. Das hängt auch davon ab, wie viele Korrespondenten man in den anderen Ländern hat. Wenn es nur wenige gibt, haben sie einfach nicht die Möglichkeit, alles mit eigenen Augen zu sehen und korrekt wiederzugeben. Dann beginnt das Abschreiben, die Dinge werden nicht mehr analysiert. Das schadet am Ende der Qualität der Berichterstattung.
Das Thema "Kritik des anderen Landes" ist für mich das schwierigste: Wo ist die Grenze zwischen konstruktiver Kritik und Einmischungsversuch? Hier möchte ich nur drei Fragen stellen, die ich mir auch selbst stelle. Meine Antworten sind einfach meine Meinung - alles andere wäre unehrlich.
Kann eine Einmischung von außen überhaupt unparteiisch sein? Hier gibt es unterschiedliche Ansichten, aber ich kenne kein Beispiel, wo es so ist - ich würde mich freuen, eines zu erfahren.
Nicht einmal ein Beispiel, wo die Einmischung in die inneren Angelegenheiten erfolgreich war und wirklich ein positives Ergebnis gebracht hat. Das ist keine Überraschung. Denn so lange wir in einer Welt von Nationalstaaten leben, mit einer Vorherrschaft nationaler Interessen, hat jedes Land seine eigenen. Eine Unparteilichkeit ist da nicht möglich - so funktioniert das System. In einer globalen Welt ohne nationale Regierungen könnte es anders sein.
Die zweite Frage wäre für mich, ob man die Zustände in einem Land von außen objektiv beurteilen kann. Kann ich mir über das andere Land eine Meinung bilden, die der Realität entspricht? Ich finde es schwer, aber möglich. Wenn man das Land besucht, die Leute kennenlernt, sich mit der Mentalität und Kultur auseinandersetzt, ergänzt sich das Bild und man erkennt die Ursachen dafür, was passiert.
Entscheidung über anderer Länder Schicksal?
Die dritte Frage ist, ob man über Entwicklungen in einem anderen Land entscheiden kann. Das ist die schwerste Frage. Ich werde sie nicht im Bezug auf Russland beantworten, ich kann mich nicht von dem lösen, was in meinem Land passiert. Gedanken habe ich mir aber auch über die Situation in Weißrussland gemacht. Das Land ist uns sehr nahe, wir sprechen eine Sprache und haben eine sehr ähnliche Kultur, gute Beziehungen.
Als es damals Proteste in Belarus gab, für faire Wahlen und Bürgerrechte, haben das in Russland wie in Europa viele Leute begeistert verfolgt. Ich denke, viele Menschen in Belarus würden eine solche Liberalisierung willkommen heißen, aber sie protestieren in der jetzigen Situation nicht mehr. Sie sind häufig auch gegen Sanktionen, die nun vom Westen verhängt werden.
Kann man sie deswegen verurteilen? Kann man sagen, sie tragen nichts zur Entwicklung ihres Landes bei? Auf keinen Fall. Es ist das Leben dieser Menschen, das Leben, das sie leben. Ob ein Mensch entscheidet, zu protestieren oder daheimzubleiben, ist seine eigene Sache. Ich kann nicht sagen "Ihr müsst wieder auf die Straße gehen und für Bürgerrechte kämpfen". Ich kann auch nicht sagen "Ihr müsst weiter daheim bleiben". Das ist ihr Land und ihre Situation. Auch im Fall der Sanktionen sind sie die Hauptbetroffenen. Und hier kann und darf ich mich nicht einmischen.
Julia Dudnik ist Master-Absolventin im Fach Internationale Beziehungen an der Moskauer Elite-Hochschule MGIMO. Aktuell arbeitet sie als freie Journalistin für verschiedene deutsche Medien, darunter Telepolis. Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den sie im Rahmen der diesjährigen Sommerakademie des Netztwerks Attac hielt.
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