Finale Geschäfte: Entführung und Folter

Die Währung "Schmerz" in Tony Scotts Film "Man on Fire"

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Mit welchem Gespür der Hollywood-Film in der Vergangenheit oft "heiße Themen"noch kurz bevor diese überhaupt heiß wurden, aufgegriffen hat, ist schon erstaunlich. Ob nun Wolfgang Petersens Outbreak, der 1995 die darauf folgende Ebola-Epidemie in Zaire vorweg nahm oder Andrew Davis' Collateral Damage, der 2001 sogar verschoben wurde, weil die in ihm abgebildete Gefahr internationaler Terroristen, welche die USA angreifen, kurz vor dem Start des Films traurige Wirklichkeit wurde. Am 9. September, eineinhalb Jahre nach dem Beginn des Irak-Kriegs, erscheint nun Tony Scotts Man on Fire in den Kinos. Der Film nimmt sich eines brandaktuellen Themas an, das eine "unheimliche Nähe"zu zwei zurzeit in allen Medien heiß diskutierten Phänomenen aufweist: Entführung und Folter.

In Mexiko, so beginnt der Film, ist Kidnapping ein gewaltiges Geschäft. Es wird kontrolliert und organisiert von einer Art Industrie, die eng mit der Polizei zusammenarbeitet. Dieser Entführungsindustrie gegenüber steht eine Entführungsverhütungsindustrie, die Sicherheitssysteme, ein Informationsnetzwerk, eine eigene Abteilung des Polizeisystems und natürlich bestens ausgebildete Personenschützer anbietet. Zu letzteren zählt auch Creasy (Denzel Washington), ein ausgebrannter CIA-Agent, der von seinem Freund Rayburn (Christopher Walken) nach Mexiko City gebracht wird, um dort als Bodyguard der kleinen Pita (Dakota Fanning), Tochter eines Großindustriellen, zu arbeiten.

"Nichts motiviert so effizient wie Gewalt"

Creasy ist zunächst darauf bedacht, emotionalen Abstand zu seinem Auftraggeber zu wahren. Nach einer Weile taut er jedoch auf und beginnt eine Freundschaft zu dem kleinen Mädchen, ja, ersetzt schließlich deren dauernd abwesenden Vater. Die Logik des Entführungsthrillers schreibt es vor: Im Moment größter emotionaler Nähe wird Pita auf offener Straße entführt und Creasy beim Versuch ihrer Rettung niedergeschossen. Er erholt sich nur mühsam von seinen Verwundungen und steht nun auch noch unter Anklage, zwei Polizisten (die bei der Entführung anwesend und beteiligt waren) erschossen zu haben. Creasy, noch verwundet, verlässt das Krankenhaus und sucht die Eltern des Mädchens auf. Die haben mittlerweile eine geplatzte Lösegeldübergabe hinter sich und die Nachricht vom Tod der kleinen Pita erhalten. Creasy schwört, in das System der Entführer einzudringen und den Tod zu rächen - koste es, was es wolle.

Das, was Man on Fire als die maximale Katastrophe der bürgerlichen Kleinfamilie inszeniert, lässt sich als Allegorie leicht in größere Zusammenhänge übersetzen. Möglich wird dies vor allem durch den überoffensichtlichen ökonomischen Diskurs, unter dem die mexikanischen Entführungsfälle und der anschließende, retributivistische Feldzug Creasys stattfinden. Nicht nur ist das Geld das Motiv für die Entführer und der Wertmaßstab, mit dem sie das Leben Pitas bemessen, auch werden die Tauschkriterien zwischen Entführern und Unterhändlern mehr als einmal ausgehandelt, bis zum Ende mit "your life for her life" der finale Tausch stattfindet.

Denn in diesem Moment geht es ja nicht mehr um "Leben gegen Leben", sondern um "Leben gegen Tod" - eine Arithmetik, die moralische Kriterien konsequent unter ökonomischen Gesichtspunkten ordnet und nur die letzte Konsequenz der "Entführer-Logik" darstellt, mit der die mexikanische Mafia ihr Geschäft betreibt. Doch die Entführer haben ihre Rechnung im wahrsten Sinne des Wortes ohne Creasy gemacht.

Nachdem er eine nahe, emotionale Beziehung zu Pita aufgebaut hat, obwohl sein Beruf als Bodyguard gerade Nähe verbietet und sozusagen "emotionale Distanz" einfordert, ist Creasy bereit, eine weitere Währung ins Spiel zu bringen: körperlichen Schmerz. Mit dem Schmerz und der Drohung findet Creasy eine Währung die noch mehr wiegt, als Geld oder Leben. "Nichts motiviert so effizient wie Gewalt" (Peter Burschel et. al. 1).

Schmerzliche Nähe

Die Folter, die Creasy bei seinem Feldzug durch die Unterwelt praktiziert, bedient sich zwar mit der Androhung von Schmerz desselben Mittels wie die Entführer. Sie ist jedoch innerhalb der allegorischen Struktur das genaue Gegenteil: Wo die Entführung Nah-Beziehungen zwischen Liebenden gewalttätig auseinander reißt und durch das "Entfernen des Objekts der Liebe" beim Subjekt Angst auslöst (oder mit einem Sprichwort gesagt: Mit der Entfernung wächst die Liebe), beruht Creasys Strategie darauf, "schmerzliche Nähe" herzustellen - nämlich die zwischen dem Folterer und dem Gefolterten. Mit dieser Nähe operiert er, um an Informationen zu gelangen, die ihn schließlich zu dem entführten Mädchen führen sollen. Und war der eigentliche "Mittler" auch im Entführungsfall schon ein Medium, nämlich das Telefon, so erhält dies als Schmerz-Übermittler, als Creasy die Familie des Entführers foltert und diesen telefonisch daran "teilnehmen" lässt, eine ganz analoge Aufgabe.

Die Medien als "neutrale Mittler" haben in Man on Fire ohnehin die Funktion, sich zwischen die Sphären des "Guten" und "Bösen" zu schalten und die Rolle des Unterhändlers einzunehmen. Stellvertretend für "die Medien" agiert im Film die Journalistin Mariana. Nachdem sich für Creasy herausgestellt hat, dass die Entführer-Mafia selbst in Polizei und Regierung Einfluss hat, vertraut er nur noch der mutigen Journalistin. Sie ist es auch, die - jenseits aller Neutralität - für Creasy Daten recherchiert, die ihn auf seinem Rachefeldzug voranbringen. Die auf die Spitze getriebene Indifferenz von Recht und Unrecht lässt schließlich allein sie und Creasy als "die Guten" des Films dastehen. Niemandem - selbst der Familie Pitas - ist noch zu trauen. Einzig die Informationen, die durch Zufügung von Schmerz (Creasy) oder durch Diebstahl (Mariana) erlangt werden, scheinen noch richtig und wichtig zu sein.

Man on Fire präsentiert seinen Kämpfer gegen das Unrecht als Helden - daran besteht kein Zweifel. Nicht nur kann er sich des als zu langsam und unfähig geschilderten rechtstaatlichen Gewaltenteilungsprinzips entledigen und "auf eigene Faust" tätig werden, auch scheinen seine Taten durch seine Zuneigung zu dem hilflosen entführten Kind nachvollziehbar zu werden. Creasy hat als Leidender und als Leidzufügender unsere gesamte Sympathie. Der Film bereitet seine Selbstjustiz-Geschichte diffizil vor: Von Beginn an dominieren Nah- und Großaufnahmen. Die emotionale Nähe zwischen Creasy und Pita nimmt der Film damit als optische Nähe vorweg. Übersicht - zumal in der unübersichtlichen Welt Mexiko Citys - ist ein seltenes Gut, auch für Bodyguard Creasy. Sein Mangel an Überblick, der schließlich die Entführung Pitas verschuldet, wird zu unserem Gewinn an Einblick, der uns die großen Zusammenhänge im Kleinen vorführt.

Angebliche "Aufrechenbarkeit" von Gewalt und Gegengewalt

Diese großen Zusammenhänge - und damit komme ich auf die eingangs erwähnte "unheimliche Nähe zum Zeitgeschehen" zurück - beruhen nicht in einer vermeintlich breiten Akzeptanz von Folter und Selbstjustiz, sondern vor allem auf dem Entlarven des ökonomischen Prinzips, jener angeblichen "Aufrechenbarkeit" von Gewalt und Gegengewalt (Folter und Entführung), wie sie derzeit durch die Nachrichten aus dem Irak suggeriert wird. Nach den spektakulären TV-Bildern über die von US-Soldaten begangenen Misshandlungen an irakischen Kriegsgefangenen in Abu Ghraib wurden die Entführungsfälle im Irak schnell unter dem Verdacht der "Abrechnung" gehandelt. Pro Bild vom Gefolterten ein Gegenbild vom Entführten.

Diese quitproquo-Logik suggerierte vor kurzem sogar der Kulturwissenschaftler Boris Groys in einem Vortrag über den "Potlatsch"- einem Tauschhandel, der nicht mit Gaben, sondern gegenseitigen Verlusten operiert. Groys, der in den Folterbildern mit den Menschenhaufen Ähnlichkeiten zu den "Körper-Orgien" der Wiener Aktionisten (Mühl/Nitsch) sah, interpretierte diese Form der Folter als "künstlerischen Aufruf zur Gegenkunst" - welchen er dann mit den Videoinszenierungen kniender Geiseln vor islamistischen Entführern beantwortet sieht.

Der Zynismus, der hinter solchen kulturtheoretischen Interpretationen von Folter und Entführung zu stehen scheint, ist in der Vergangenheit häufiger hinterfragt worden: So fragen etwa die Herausgeber des Buches "Das Quälen des Körpers - Eine historische Anthropologie der Folter"in ihrer Einleitung: "Läuft nicht jeder, der darum bemüht ist, Gewalt kulturell zu deuten, Gefahr, diese Gewalt auch zu legitimieren?"2 Gerade die Übersetzung von "Schmerz" in die eine abstrakte Sprache philosophischer Interpretation birgt die Gefahr, den Schmerz selbst auszublenden und ihn auf ein Gedankenspiel zu reduzieren. Sicherlich: Schmerz ist nie mitfühlbar, aber gerade die "Entfernung" vom eigentlichen Phänomen durch Metaphorisierung macht ihn nicht einmal mehr mitteilbar.

Die Autoren obigen Textes stimmen daher ein in ein "Plädoyer für die 'Nahaufnahme'", die mit der Einsicht einhergehe, "Gewalt, vor allem: physische Gewalt, nicht jenseits der Gewalt in den Blick nehmen, analysieren, deuten und verstehen zu können - in ihren 'Ursachen' etwa, sondern nur in den Praktiken, in den Formen, Prozessen und Ordnungen der Gewalt selbst."3

Anteilnahme auf allen Ebenen

Derlei "Nahaufnahmen"(im doppelten Wortsinne) ist ein Film wie Man on Fire durchaus zu liefern im Stande. Er versetzt seine Zuschauer in die Situationen von Opfern und Tätern und ermöglicht sogar den Perspektivwechsel. Regisseur Tony Scott bedient sich dazu empathischer Inszenierungstechniken, von denen die vielzähligen Nah- und Großaufnahmen nur einen Teil ausmachen. Auf allen Ebenen versucht der Film Anteilnahme zu evozieren: Angefangen bei der standardisierten dramatischen Erzählung über den Einsatz der Musik bis hin zu authentisierenden Ästhetiken (etwa dem häufigen Einsatz von Untertitelungen - selbst da, wo sie überflüssig sind, weil sie das ohnehin Gesagte nur verdoppeln ohne es zu übersetzen oder zu kommentieren).

Man on Fire verfügt damit über eine Möglichkeit, die sprachlicher Mitteilung nicht gegeben ist. Eines seiner Gewalt-Bilder sagt mehr als tausend Worte. Kino dieser Art ist in der Lage, den nüchternen, vorselektierten, zensurierten und bereits interpretierten Nachrichten jene Wortlosigkeit entgegenzusetzen, wie sie die Gewalt hinterlässt. Der Film führt seinen Diskurs über Annäherung und Entfernung als Strukturprinzipien von Liebe und Gewalt konsequent auf jeder Ebene und bis zum Schluss. Deshalb sind die letzten Bilder von Man on Fire die dramatischsten - weil sie zeigen, dass die Rechnung, die mit dem Schmerz kalkuliert, kein Nullsummenspiel sein kann.