Finanz-Wikinger in Seenot

Ist ein Ende der "Island-Saga" in Sicht?

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Seinen Befürwortern zufolge vollbringt der Kapitalismus Wunder, so genannte „Wirtschaftswunder“. Auf wessen Kosten die gehen, wird dabei in der Regel diskret verschwiegen. Einer der letzten Schauplätze dieser „Wunder“ war Island. Doch mit der weltweiten Finanzkrise scheint jetzt auch dort die irdische Normalität zurückzukehren.

Einige Rahmendaten der Island-Saga, wie sie die „Financial Times“ in einem Leitartikel am 25.März nannte, waren in der Tat beeindruckend. Seit 1996 bewegte sich das jährliche Wirtschaftswachstum (einen kurzen Einbruch im Jahr 2002 ausgenommen) stets zwischen 4% und 6,5%. Vollbeschäftigung ist auf Island noch kein Fremdwort: Die Arbeitslosigkeit liegt inzwischen unter 1%, der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung bei rekordverdächtigen 84,2% - und das obwohl sich die Zahl der Arbeitsimmigranten seit 1998 mehr als verfünffachte.

Zugleich betrug 2007 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf offiziellen Schätzungen zufolge in Kaufkraftparitäten 39.400 Euro und lag damit nur knapp hinter der Schweiz (39.800 KKP). Während der Anteil des Fischfangs und der Fischverarbeitung deutlich zurückging, boomte die IT-Branche und der Finanzsektor. In den letzten zwölf Jahren schwang sich die kleine Insel im Nordatlantik mit ihren 313.000 Einwohnern zu einem veritablen Kapitalexporteur auf. Allein 2006 beliefen sich die isländischen Direktinvestitionen im Ausland auf 6,5 Milliarden Euro bzw. ein Drittel des BIP. Das Bankwesen steuerte 2006 ein Zehntel der Wirtschaftsleistung bei und damit doppelt soviel wie ein Jahrzehnt zuvor. Zeitgleich schrumpfte der Anteil von Fischerei und Industrie von 33% auf weniger als 20%.

Isländische Banken und Investment-Gesellschaften wie Glitnir (ehemals Islandsbanki), Kaupthing und Landsbanki, Exista, FL Group und Straumur-Budaras erwarben stattliche Beteiligungen an American Airlines, Finnair, der Kaufhaus-Kette Debenham, der Commerzbank, der norwegischen Storebrand-Bank und der finnischen Sampo Group. Die Baugur-Gruppe übernahm die traditionsreichen dänischen Kaufhäuser Illum und Mahasin du Nord und strebt nun für drei Milliarden Dollar auch einen Mehrheitsanteil an der US-Warenhauskette Saks an. Zumeist wurde dabei in Branchen investiert, die hohe Renditen versprachen, jetzt aber besonders unter den Turbulenzen auf den Finanzmärkten leiden, und oftmals wurde der Einstieg über Kredite finanziert. Das wird den „Finanz-Wikingern“ nun zum Verhängnis.

Charme-Offensive gen Westen

Im Gefolge der durch die maroden Subprime-Darlehen in den USA ausgelösten weltweiten Finanzkrise sind dem mit hohen Zinsen via „Carry Trade“ angelockten internationalen Kapital starke Zweifel an der Liquidität und Standfestigkeit des isländischen Modells und seiner Banken und Investmentfonds gekommen. So wies die „Financial Times“ darauf hin, dass „jede Bank verwundbar ist und die Dimension von Kaupthing, Glitnir und Landsbanki im Verhältnis zu den 4,3 Milliarden Dollar Einlagen der Isländischen Zentralbank sowie einem Bruttoinlandsprodukt des Landes von nur 17 Mililarden Dollar Investoren verständlicherweise nervös macht“.

Eine Abwertung des Ratings der drei Großbanken durch die Agentur Moody’s tat ihr Übriges. Seit Jahresbeginn verlor die isländische Krone 22 Prozent an Wert und damit so stark wie keine andere europäische Währung. Der isländische Aktienindex ICEX büßte seit dem 1. Januar 2008 in Kronen 35% und in Euro mehr als 50% ein. Sorgen bereitet darüber hinaus eine wachsende Inflation von aktuell 6,8% (Ziel waren 2,5%!) sowie das hohe Handels- und Leistungsbilanzdefizit. Als Reaktion stellte die isländische Zentralbank eine „sehr straffe Geldpolitik“ in Aussicht und hob die Leitzinsen einen Tag nach Ostern um satte 1,25% auf nun 15% an. Eine international recht einsame Spitzenposition. Die „Financial Times“ hält denn auch eine „Rezession“ in Island für „wahrscheinlich“.

Derweil versucht sich Ministerpräsident Geir Haarde von der rechtsgerichteten Unabhängigkeitspartei in den letzten Tagen mit einer Charme-Offensive in der Finanzmetropole New York, wo er die Bewegungen auf den Kreditmärkten etwas hilflos als „vollkommen aus dem Rahmen fallend und nicht gerechtfertigt“ kritisierte. Die „Financial Times“ vermerkte süffisant: „Ein Zyniker könnte behaupten, dass einem solche Kommentare irgendwie bekannt vorkommen.“ Dass Haardes Beteuerungen mehr Vertrauen erwecken als die Stellungnahmen von Islands renommiertestem Ökonomieprofessor Thor Herbertsson ist höchst zweifelhaft. Dessen „Entwarnung“ kulminierte in dem Satz: „Sagen wir es so, Island ist nicht stärker in Gefahr als die Wall-Street-Banken.“

Wahrscheinlicher ist, dass auch Island der Orientierung von Deutsche Bank-Chef Ackermann und diversen Anderen folgt, den neoliberalen Zyklus mit seinem Glauben an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ beendet und wieder verstärkt staatlich interveniert und reguliert. Tatsächlich hat Haarde am Mittwoch angekündigt, in den Devien- und Aktienmarkt zu intervenieren.

Eine Renaissance der „guten alten Zeit“ wird es allerdings wohl kaum geben. Weder die in den 80er Jahren erfolgte Schaffung eines Kapitalmarktes noch der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum 1994 noch die 1995 erfolgte Öffnung für ausländischen Direktinvestitionen oder die Unabhängigkeit der Notenbank und der Übergang zu freien Wechselkursen im Jahr 2001 werden rückgängig gemacht werden. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass (nach dem Vorbild der deutschen IKB) im Falle eines Bankrotts eine der 2001 privatisierten Banken wieder verstaatlicht wird – entsprechend der bekannten Neigung zur Privatisierung der Profite und der Vergesellschaftung der Verluste. Zu erwarten ist in jedem Fall eine Änderung der Steuerpolitik. Um für ein „gutes Investitions- und Geschäftsklima“ zu sorgen, waren in den letzten Jahren etappenweise die Unternehmenssteuern von über 50% auf 18% gesenkt worden.

„Isländer arbeiten hart und sie feiern hart!“

Neben flachen Hierarchien, kurzen Entscheidungswegen, den persönlichen Beziehungsgeflechten einer überschaubaren Bevölkerung, wo beinahe jeder jeden kennt, und der Mentalität des „Alles ist möglich, solange es nicht ausdrücklich verboten ist!“, war ein wesentliches Geheimnis des isländischen „Wirtschaftswunders“, wie so oft, auch die intensive Ausbeutung der vorhandenen und importierten Arbeitskraft. Offiziell beträgt die Arbeitszeit 40 Stunden pro Woche und besteht ein Urlaubsanspruch von 24 Tagen plus 15 Feiertage, doch sind zwei oder drei gleichzeitig ausgeübte Jobs keine Seltenheit und zeugen die Statistiken von langen Arbeitstagen.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ lag nur zum Teil richtig als sie in einer Reportage vom 3. November 2007 vermutete: „Diese Mentalität scheint sich über Generationen herausgebildet zu haben, um auf der rauen Insel zu überleben.“ Vielmehr kommt hier zum Tragen, dass Island mit einem Durchschnittsalter von nur 35 Jahren über die jüngste Bevölkerung und über ausländische Arbeitsimmigranten vor allem aus Polen und Litauen verfügt, die am Polarkreis ihr Glück zu machen versuchen. Der Burn-out-Effekt steht also erst noch bevor. Bis dahin gilt das Motto eines jungen isländischen Reiseunternehmers Jón Kari: „Isländer arbeiten hart und sie feiern hart!“ Kari, der früher für die Fluggesellschaft Iceland Air arbeitete, hat daraus ein florierendes Geschäft gemacht. Er organisiert Wochenendtouren durch das rege Reykjaviker Nachtleben für erlebnishungrige amerikanische und europäische Yuppies. Preis: 450 US-Dollar pro Person.

Multilinguale Tarifverträge

Geld dafür ist bei Akademikern, Angestellten und Facharbeitern durchaus vorhanden. Bereits 2005 verdiente ein Ingenieur (ohne Überstunden!) 5.970 Euro, ein Elektriker 4.390 Euro, eine Verkäuferin im Einzelhandel 3.750 € und ein LKW-Fahrer 3.340 € brutto monatlich. Angestellte im Reisebüro kamen auf ca. 2.815 €, Sekretärinnen auf 2.680 € und Köche auf 2.305 €. Das Ganze bei Lebenshaltungskosten, die etwa 20% über dem deutschen Niveau liegen. Wesentlich schlechter sieht es hingegen für die – vor allem ausländischen – Arbeitskräfte aus, die oftmals nur den Mindestlohn von 1.200 Euro monatlich erhalten und vom El Dorado bisher kaum profitierten.

Trotz der günstigen Bedingungen des langjährigen Booms gelang es dem Isländischen Gewerkschaftsbund ASI erst Mitte Februar 2008 – nach eigener Einschätzung – „historische Tarifverträge“ durchzusetzen, bei denen die von der hohen Inflation bereits recht angegriffene, unterste Lohngruppe eine besonders starke Anhebung erfuhr (plus 213 Euro im Öffentlichen Dienst). In der Privatwirtschaft sollen alle Löhne in diesem Jahr um 184 Euro, im kommenden um weitere 138 Euro und in 2010 um 66 € steigen. Zur Absicherung gegen die Inflation ist weiter vorgesehen, dass jeder Beschäftigte, der seit dem 2.Januar 2007 für denselben Arbeitgeber arbeitet, bei entsprechender Inflation Anspruch auf einen Verlustausgleich von 5,5% in diesem Jahr und von 3,5% im nächsten Jahr hat. Trotz eines beinahe beispiellosen gewerkschaftlichen Organisationsgrades von 88% in der Privatwirtschaft hinterlässt allerdings auch in Island die tief verwurzelte Sozialpartnerschaft ihre Spuren. Immerhin sollen die Tarifverträge nun erstmals auch ins Englische, Polnische, Litauische und Russische übersetzt werden, damit die der isländischen Sprache meist nur sehr unzureichend mächtigen Migranten endlich erfahren, welche Rechte und Ansprüche sie haben.

Auf einen politisch-parlamentarischen Wandel, das heißt auf ein Ende der seit 2007 amtierenden Großen Koalition aus der konservativ-liberalen Unabhängigkeitspartei (Sjálfstæðisflokkurinn; 36,6%, 25 Sitze) und der Sozialdemokratischen Allianz (SDA – Samfylkingin; 26,8%, 18 Sitze) brauchen sie nicht zu hoffen. Voraussetzung dafür wäre eine Abkehr der Letzteren von ihrer Orientierung an Tony Blairs „Neuer Mitte“, die Ende der 90er Jahre dazu führte, dass ein Teil der linkssozialdemokratischen Volksallianz die Bildung der SDA ablehnte und 1999 mit kleineren sozialistischen und grünalternativen Gruppen zur Grün-Linken Bewegung (Vinstrihreyfingin – grænt framboð) fusionierte. Diese neue Linkspartei war mit einem Zuwachs von 5,5% auf nun 14,3% und 9 Sitze die eigentliche Gewinnerin der Parlamentswahlen am 12.Mai 2007, bei denen die Sozialdemokraten 2,4% und die linksliberale Fortschrittspartei (Framsóknarflokkurinn) 6% verlor. Ein Mitte-Links-Bündnis hätte im Althing, dem isländischen Parlament mit 34 der 63 Sitze, zwar eine klare Mehrheit, doch spricht wenig für eine solche Konstellation. Im Unterschied zu Deutschland hat die Große Koalition in Reykjavik eine lange Tradition. Sie regierte das Land bereits von 1959-1971, während sozialdemokratische geführte Kabinette bislang immer nur kurze Intermezzi (1947-49, 1958/59 und 1979/80) blieben.

Vielleicht helfen stattdessen ja die aufmunternden Worte und das Mitgefühl der „Financial Times“, die am 25.März darauf hinwies, dass Rezession nicht gleichbedeutend mit einer Finanzkrise sei, und es „schade wäre, wenn die Panik am internationalen Markt die wirtschaftliche Abschwächung, die notwendig ist, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen, schlimmer machen würde als nötig“. Es wäre aber wohl das erste Mal, dass der Kapitalismus sentimental wird.