Flexible Randbelegschaften

Die Folgen der Wirtschaftskrise treffen vor allem junge und gering qualifizierte Beschäftigte. Doch ihre Probleme sind auch strukturell bedingt - und von langer Hand vorbereitet

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Während sich die Koalitionspartner in Berlin mit Blick auf die bevorstehenden Urnengänge als erfolgreiche Krisenmanager zu profilieren versuchen und das Ende der Talfahrt bereits terminiert zu haben scheinen, sehen viele ihrer realwirtschaftlichen Hoffnungsträger wenig Grund zu voreiligem Optimismus. Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, bemühte Anfang der Woche die größte Boulevardzeitung des Landes, um die Erwartungen flächendeckend einzudämmen. „Das Schlimmste auf dem Arbeitsmarkt liegt ganz klar noch vor uns. Von Entwarnung kann keine Rede sein“, meinte Walter und nannte bei der Gelegenheit auch konkrete Zahlen: „Die Arbeitslosenzahl wird im Winter 2010 über fünf Millionen steigen.“ Mit einer positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt rechnet Walter erst im Frühjahr 2011, in Sachen Wirtschaftswachstum sei im nächsten Jahr allenfalls eine „schwarze Null“ zu erwarten.

Günter Verheugen (SPD) äußerte sich in einem Zeitungsgespräch ähnlich pessimistisch. "Ich bin nicht der Meinung, dass in der Wirtschaftskrise das Schlimmste schon hinter uns liegt. Ich sehe jedenfalls noch kein Licht am Ende des Tunnels", erklärte der Industriekommissar der Europäischen Union.

Unter diesen Umständen kommt es entscheidend auf die politischen Rahmenbedingungen, aber auch auf die Frage an, wie mittelständische Betriebe, Unternehmen und internationale Großkonzerne mit den unmittelbaren Auswirkungen und den zu erwartenden Langzeitfolgen der Krise umgehen. Die Arbeitsforscher Johannes Giesecke und Philip Wotschack vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung haben in einer aktuellen Studie unternehmenspolitische Instrumente analysiert und außerdem die strukturellen Veränderungen berücksichtigt, die in den vergangenen Jahren durch die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsmarkts initiiert wurden. Nach ihrer Einschätzung tragen vor allem die Arbeitnehmer die finanziellen und sozialen Kosten der Rezession. Überdies sind die Lasten innerhalb der Belegschaften denkbar ungleich verteilt.

In der Pufferzone

Die Flexibilisierung des Arbeitmarktes galt - zunächst in liberalen und konservativen, dann zunehmend auch in rot-grünen Regierungskreisen - lange Zeit als zentraler Bestandteil einer erfolgreichen Strukturreform und wurde auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben. Zeitarbeitsverträge und befristete Beschäftigungsverhältnisse, Zeitkonten oder Kurzarbeit sollten die Unternehmen in die Lage versetzen, schnell auf konjunkturelle Entwicklungen reagieren und ihren Personalbestand kurzfristig erhöhen oder reduzieren zu können. Selbst den Arbeitslosen versprach die offizielle Lesart positive Effekte: Trotz ständiger Befristung und schlechter Bezahlung hätten sie immerhin wieder eine Verbindung zum ersten Arbeitsmarkt, neue Kontaktmöglichkeiten und Perspektiven für eine nicht näher definierte Zukunft.

Der Markt hatte allerdings eigene Pläne. Viele Unternehmen nutzten die beschlossenen Maßnahmen um auf eine beständige Senkung der Lohnkosten hinzuwirken und die Aufweichung des Kündigungsschutzes weiter voranzutreiben. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist nun vielerorts nicht mehr zu übersehen.

Viele Unternehmen in Deutschland haben in den vergangenen Jahren – auch unterstützt durch die Hartz-Reformen – neben der Kernbelegschaft eine flexible Randbelegschaft aus Zeitarbeitern und befristet Beschäftigten aufgebaut. (...) In Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs kann sich das Unternehmen relativ schnell von diesen Beschäftigten trennen. Die Randbelegschaft funktioniert damit als Puffer gegen konjunkturelle Schwankungen und trägt dazu bei, den Bestandsschutz der Beschäftigten der Kernbelegschaft zu gewährleisten.

Johannes Giesecke / Philip Wotschack

Nach den Berechnungen der beiden Arbeitsmarktforscher, die durch Zahlen der Bundesagentur für Arbeit oder des Sozio-ökonomischen Panel gestützt werden, sind mehr als drei Millionen Arbeitnehmer in „unsicheren Arbeitsverhältnissen“ beschäftigt. 2,5 Millionen, unter ihnen viele Frauen, gehen einer befristeten Beschäftigung nach, etwa 800.000, diesmal hauptsächlich Männer, verdienen ihr Geld als Zeitarbeiter. In beiden Fällen sind jüngere und gering qualifizierte Arbeitnehmer deutlich überrepräsentiert. Sie haben zwar einen Job – und können so bequem aus der Arbeitslosenstatistik hinausgerechnet werden -, doch die schlechte Bezahlung und das hohe Entlassungsrisiko zeigen deutlich, dass ihre Position nicht das Ergebnis einer effizienten, nachhaltigen und sozial ausgewogenen Arbeitsmarktpolitik ist.

Giesecke und Wotschack weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass von allen im ersten Halbjahr 2008 beendeten Verträgen zwischen Zeitarbeitsfirmen und Zeitarbeitnehmern weniger als die Hälfte auf drei oder mehr Monate ausgerichtet war. Zwei Drittel der befristeten Beschäftigungsverhältnisse wiesen eine Laufzeit von maximal 12 Monaten auf.

Mit dem Übergang in Arbeitslosigkeit sind daher viele dieser Beschäftigten akut armutsgefährdet. Fraglich ist, ob es ihnen bei einer Erholung der Konjunktur gelingen wird, dem Kreislauf aus unsicherer Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu entkommen.

Johannes Giesecke / Philip Wotschack

Die Forscher befürchten, dass sich der Arbeitsmarkt immer entschiedener zur Mehrklassengesellschaft entwickelt und massive Interessenkonflikte auch innerhalb einzelner Belegschaften unvermeidlich werden könnten.

Die wachsende Bildungskluft zu anderen Beschäftigtengruppen, die sich in der geringeren Teilnahme temporär Beschäftigter an betrieblicher Weiterbildung fortsetzt, könnte zu einer Verschärfung der Spaltungen am Arbeitsmarkt führen. Für die Gruppe der befristet Beschäftigten kommt erschwerend hinzu, dass das im Teilzeit- und Befristungsgesetz festgeschriebene Wiederbefristungsverbot einer Rückkehr zum alten Arbeitgeber entgegensteht.

Johannes Giesecke / Philip Wotschack

Ein Konto für die Krise

Auch die großzügige Einrichtung von Arbeitszeitkonten soll der Flexibilisierung dienen, und tatsächlich machen mittlerweile etwa 40 Prozent der abhängig Beschäftigten von der Möglichkeit Gebrauch, Überstunden und Zeitguthaben anzusparen. Dabei handelt es sich zumeist um Angestellte und Facharbeiter, während gering Qualifizierte und untere Einkommensgruppen nur selten über entsprechende Konten verfügen.

Doch selbst innerhalb der sogenannten Kernbelegschaft zeichnen sich Probleme ab, weil die Zeitguthaben oft nicht mehr für eine Auszeit zwecks Kindererziehung, Weiterbildungsmaßnahmen oder einen vorzeitigen Ausstieg aus dem aktiven Erwerbsleben zur Verfügung stehen. Auch wenn einige Unternehmen bereits separate und jeweils zweckgebundene Konten führen, dient die Mehrheit der Guthaben offenbar ausschließlich zur Krisenbewältigung. In Zeiten einer positiven Konjunkturentwicklung werden Zeitpolster angespart, wenn die Aufträge zurückgehen, schmelzen sie wieder zusammen.

Der Abbau von Überstunden und Zeitguthaben zur Überbrückung von Auftragsflauten ist eine Verlagerung betrieblicher Kosten auf die Beschäftigten. Denn diese setzen ihre Zeitguthaben ein, um einen möglichen Einkommens- oder Arbeitsplatzverlust zu vermeiden.

Johannes Giesecke / Philip Wotschack

„Allemal besser als Arbeitslosigkeit“

Auf Anregung von Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) verlängerte die Bundesregierung im Mai 2009 die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes noch einmal auf nunmehr 24 Monate. Ab dem 7. Monat sollen die Unternehmen künftig keine Sozialversicherungsbeiträge mehr zahlen müssen, die Verpflichtung auf zielgerichtete Weiterbildungsmaßnahmen in dieser Zeit entfällt.

„Kurzarbeit ist das Instrument, um in der Krise Arbeit zu sichern“, glaubt der Minister und sieht in der Neuregelung trotz diverser Beeinträchtigungen finanzieller und psychologischer Art einen „Schutzschirm für Arbeitsplätze“.

Kurzarbeit ist für niemanden leicht. Kurzarbeit ist kein Urlaub. Die Arbeitnehmer verzichten auf einen Teil ihres Gehalts. Das bedeutet oft empfindliche Einbußen. Aber es ist allemal besser als Arbeitslosigkeit.

Olaf Scholz

Auch die Agentur für Arbeit plädiert mit erkennbarer Leidenschaft und historischem Bewusstsein für ein unternehmenspolitisches Instrument, das vor fast 100 Jahren erstmals angewandt (Kali-Gesetz) wurde und am 16. Februar 1924 mit der „Kurzarbeiterunterstützung“ der „Verordnung über die Erwerbslosenunterstützung“ seine Kriege und Krisen überdauernde Form bekam.

Auch in der aktuellen Situation spielt die Kurzarbeit eine wichtige Rolle. Wie Giesecke und Wotschack nach vorläufigen Angaben der Bundesagentur ermittelten, hat sich die Zahl der Betriebsmeldungen im ersten Quartal 2009 im Vergleich zum Vorjahresquartal mehr als verzehnfacht. Für rund 1,1 Millionen Arbeitnehmer wurde Kurzarbeit beantragt, ihr durchschnittlicher Arbeitsausfall betrug 35,5 Prozent.

„Besser als Arbeitslosigkeit“ mag die Kurzarbeit sein, aber sie bedeutet für die Betroffenen erhebliche finanzielle Einschränkungen, die bei Geringverdienern schnell in ein konkretes Armutsrisiko münden können. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Unübersichtlichkeit der aktuellen Wirtschaftslage: Sollte die Krise länger andauern als bislang erwart und prognostiziert, wird auch die Kurzarbeit die Beschäftigten nicht vor Entlassungen schützen können.

Auf den "unteren Ebenen der Arbeitsplatzhierarchie"

Giesecke und Wotschack ziehen aus den Befunden einen eindeutigen Schluss: „Arbeitsmarktflexibilisierung ist per se kein Allheilmittel“. In der Krise führen die geläufigsten Bewältigungsstrategien vielmehr zu einer ungleichen Verteilung von Kosten und Risiken, mit der sich einerseits junge und gering qualifizierte Menschen - je nach Branche, Position, Qualifikation, Einkommen oder Geschlecht aber auch die Kernbelegschaften auseinandersetzen müssen.

Für die Zukunft müsste die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes daher mit ausreichender sozialer Absicherung verknüpft werden. Und für Unternehmen gilt: Sie sollten in Zeiten guter Konjunktur Reserven aufbauen, die zur Bewältigung von wirtschaftlichen Abschwüngen genutzt werden können. Diese Reserven sollten gerade den Beschäftigten der Randbelegschaften zur Verfügung stehen, denn sie tragen die größten Risiken.

Johannes Giesecke / Philip Wotschack

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Schon vor fünf Jahren kamen Wirtschaftswissenschaftler bei der Betrachtung der Reformvorhaben der Schröder-Regierung zu einem Ergebnis, das dem des Wissenschaftszentrums Berlin nahezu wörtlich entsprach.

Generell kann aber die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht als Allheilmittel zur Lösung der Beschäftigungsprobleme angesehen werden. In erster Linie muss dazu die wirtschaftliche Dynamik verstärkt werden.

Werner Eichhorst, Susanne Koch, Ulrich Walwei, Norbert Berthold, Ronald Schettkat, Ronnie Schöb: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes - Wunderwaffe gegen die Arbeitslosigkeit?

Übrigens sind auch die Randbelegschaften keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Bereits in den 70er und 80er Jahren wurde über eine „harte innerbetriebliche Segmentation zwischen Stamm- und Randbelegschaften" diskutiert, wobei sich diese vor allem aus Frauen und ausländischen Arbeitnehmern rekrutierten. Randbelegschaften, so konstatierten Christoph Köhler und Peter Preisendörfer in einer Untersuchung aus dem Jahr 1988, besetzten in früheren Jahren "die schlechter bezahlten Arbeitsplätze in der Produktion" und bildeten somit "die unteren Ebenen der Arbeitsplatzhierarchie".

Während die Stammarbeitsplätze überwiegend von deutschen Männern besetzt wurden, waren ausländische Männer und Frauen weitgehend auf Randarbeitsplätze verwiesen. Diese Gruppen trugen auch die Hauptlast der Beschäftigungsanpassung in Kontraktionsphasen.

Christoph Köhler / Peter Preisendörfer

Parteien und Gewerkschaften hatten demnach ausreichend Zeit, einen politischen Schutzschirm über die immer stärker ausfasernden Ränder des ersten Arbeitsmarkts zu spannen. Die SPD sei die "Partei der Arbeit" wollte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am vergangenen Wochenende festgestellt wissen. In den vergangenen Jahren hat sie allerdings - wenn überhaupt - als Partei der Inhaber eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatzes agiert, und das gilt selbstredend ebenso für die große Mehrheit aller anderen Mandatsträger im Deutschen Bundestag. Auch der DGB und seine Unterorganisationen setzen auf Bestandssicherung und kümmern sich traditionell lieber um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in der Lage sind Mitgliedsbeiträge zu entrichten. Doch die Zahl der Menschen, die in prekären Arbeitsverhältnissen unterschiedlichster Art lebt, wird aller Voraussicht nach weiter zunehmen. Eines Tages könnten sie auch Wahlen entscheiden.