Flüchtlingskrise: Niemand kontrolliert Lukaschenko

Lukaschenko spiele absichtlich die Rolle des "Verrückten", sagte ein Politologe der russischen Tageszeitung Kommersant. Foto: Serge Serebro, Vitebsk Popular News / CC-BY-SA-4.0

Der belorussische Präsident handelt nicht als verlängerter Arm Moskaus oder überhaupt in dessen Interesse. Das zeigt gerade seine Drohung, der EU den Gashahn abzudrehen

Die Situation an der polnisch-belorussischen Grenze ist weiter unverändert ernst. Eine Reporterin der russischen Tageszeitung Kommersant, die vor Ort war, schätzt die Anzahl der Geflüchteten im Grenzcamp auf bis zu 4.000, etwa 20.000 sollen nach Angaben der polnischen Behörden bisher insgesamt nach Belarus eingereist sein, um in die EU, bevorzugt nach Deutschland weiterzuziehen. Einige haben auch das Ziel Großbritannien. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass etwa über das Mittelmeer in Italien in diesem Jahr 55.000 Flüchtlinge angelandet sind.

Im Grenzcamp sollen sich laut Kommersant zu 90 bis 95 Prozent irakische Kurden aufhalten. Kleinere Gruppen seien Libanesen oder Afghanen, ein Teil bestehe aus jungen Männern von 20 bis 30 Jahren, ein anderer aus vollständigen Familien.

Auch die Minsker Menschenrechtsaktivistin Aljona Tschechowitsch bestätigt in der lettischen Onlinezeitung Medusa diese Zusammensetzung und spricht vor allem von kurdischen Geflüchteten, die als Fluchtgrund Angst vor Terroranschlägen in ihrer Heimat angeben. Um vor Ort anzukommen, hätten sie im Schnitt pro Person 3.000 US-Dollar ausgegeben, die sie meist durch den vorherigen Verkauf ihres kompletten Hab und Guts beschafft hätten.

Die Lebensbedingungen im Lager sind prekär, Lebensmittel knapp, mit Lagerfeuern versuchen die Geflüchteten, sich warmzuhalten. Einige Zelte stehen auf polnischen Territorium, aber diesseits der dortigen Sperranlagen. Nachts wird das Camp von Scheinwerfern von polnischer Seite erhellt, Lautsprecherdurchsagen fordern die Bewohner von dort zum Gehen auf. Viele der Bewohner haben laut Kommersant erst vor Ort erfahren, dass die Grenze geschlossen ist und ein Weiterkommen hier erst mal nicht möglich.

Flüchtlingslager wird von Belarus dauerhaft geduldet

Das Flüchtlingslager könnte noch länger bestehen bleiben. Wie die Moskauer Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta berichtet, hat der belorussische Präsident Alexander Lukaschenko selbst gesagt, das Lager könne gerne den ganzen Winter über bestehen - und seinen stellvertretenden Ministerpräsidenten Juri Nazarow in seinem eigenen "Humor" angewiesen, Brennholz ins Lager liefern zu lassen.

Weniger scherzhaft klingt eine weitere Bemerkung Lukaschenkos, der behauptet, die Flüchtlinge würden sich bewaffnen und hätten die Waffen dazu aus dem Donbass erhalten. Experten glauben laut der Nesawisimaja Gaseta jedoch nicht an diese Behauptungen des weißrussischen Staatsoberhaupts, da der Donbass von hier weit entfernt ist und Waffen von dort bisher in Belarus nie aufgetaucht seien. Auch die russischen Reporter vor Ort berichten von nichts, was über Drahtscheren hinausgeht.

Es ist damit zu rechnen, dass neben dem großen Lager viele Flüchtlingsgruppen alleine auf eigene Faust in der Grenzregion unterwegs sind. Versuchte Grenzdurchbrüche finden häufig weit entfernt von dort statt, die Kurierfahrer, die die Flüchtlinge in die Grenzregion bringen, fragen in Minsk ganz offen, ob es zum Camp oder in einsames Gelände abseits davongehen soll.

Die weißrussischen Behörden halten sich trotz zahlreicher anwesender Truppen weitgehend im Hintergrund. Aufgrund von viel Militär auf beiden Seiten der Grenzen besteht weiter die Gefahr von Provokationen und einer Eskalation. Eine Mitverantwortung der Weißrussen für die Situation besteht in der aktuell bewusst leichtfertigen Ausstellung von Touristenvisa. Auch wenn diese abgelaufen sind, werden deren Inhaber laut Aljona Tschechowitsch an der Grenze nicht von den Sicherheitskräften behelligt, solange sie sich nicht wieder ins Landesinnere bewegen. Das belorussische Recht sehe hier eigentlich eine Festnahme und die Ausweisung ins Herkunftsland vor.

An einer Rückkehr ins Hinterland würden die Migranten gehindert, was nach Auffassung Tschechowitschs auch die gewaltsamen Durchbruchsversuche an der Grenze mit erkläre, trotz des Einsatzes von Tränengas und Schüssen in die Luft von polnischer Seite. Der Transport der Flüchtlinge innerhalb von Belarus zur Grenze ist dagegen privatwirtschaftlich organisiert über normale Kurierfahrer mit Minivans, wie man sie in Osteuropa überall an Bahnhöfen und Flughäfen findet. Die Behörden sind hier nur in Form einer stillschweigenden Duldung beteiligt.

Lukaschenkos Erdgas-Drohung

Schlagzeilen machte Lukaschenko unlängst damit, dass er im Falle der angedrohten EU-Sanktionen gegen ihn wegen seiner "Flüchtlingshilfe" den Europäern den Gashahn abdrehen will. Dies bezog sich auf die durch sein Land laufende Jamal-Pipeline, die im Besitz des russischen Gazprom-Konzerns ist. Der weißrussische Politologe Artjom Schrajbman hält gegenüber Kommersant einen solchen Schritt für unrealistisch: Lukaschenko würde hiermit massiv russische Interessen verletzen, was für ihn nicht ungefährlich sei.

Aber man könne bei Lukaschenko auch nicht zu 100 Prozent sicher sein, wann er nur bluffe und wann nicht, Schrajbman. Über die aktuelle Praxis, Migranten in die EU durchzulassen, habe Lukaschenko auch seit Jahren gesprochen. Niemand habe ihm geglaubt und nun sei es Realität. Lukaschenko spiele absichtlich die Rolle des "Verrückten" in der Weltpolitik.

Sie basiere darauf, den Gegner glauben zu lassen, dass er zu allem fähig sei und man sich besser nicht mit ihm anlege. Der Vorgang zeigt aber auf jeden Fall, dass die Argumentation für die demnächst eröffnete Nord-Stream-2-Pipeline, sich von Lieferstörungen durch Transitstaaten unabhängig machen zu müssen, durchaus schlüssig ist.

Weitere Vorwürfe gibt es von westlicher Seite gegen die russische Fluggesellschaft Aeroflot und auch gegen Turkish Airlines. Beide würden Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Belarus bringen, sie bestreiten das jedoch. Gegen die Aeroflot werden sogar Sanktionsdrohungen laut, die Turkish Airlines kündigten an, keine Bürger des Irak, Syriens und aus dem Jemen mehr nach Minsk zu transportieren.

Eskalation im Interesse Lukaschenkos und polnischer Konservativer

Auch Lukaschenko stößt in seiner hemdsärmeligen Aggressivität weitere Warnungen gen Westen aus und droht etwa mit einer allgemeinen Schließung des Transitverkehrs nach Russland durch Belarus, was angesichts der geschlossenen Grenze zwischen der Ukraine und Russland den Personen- und Warenverkehr zwischen der EU und Russland empfindlich stören würde. Aller Austausch müsste sich dann auf die Nordroute über das Baltikum oder Finnland konzentrieren, die dafür nicht ausgebaut ist.

Der russische Politologe Walery Karbalewitsch glaubt laut der Nesawisimaja Gaseta, dass Lukaschenko den Konflikt mit der EU gerne eskalieren möchte. Diese Einschätzung teilt der russische Journalist Maxim Samorukow vom Moskauer Carnegie-Zentrum, sieht aber gleichfalls Eskalationsbereitschaft bei Polen und den baltischen Staaten.

Gerade konservative Kräfte in diesen Staaten nutzten die Krise innenpolitisch, um ihren Kampf gegen "Überfremdung" und "postsowjetische Diktatoren" demonstrativ zur Schau zu stellen und Feindbilder aufzubauen. Aktuell wirke nach Meinung der Experten die Gesamtreaktion des Westens noch hilflos und uneinheitlich - die meisten Staaten fühlen sich von dem Vorgang nicht betroffen, auch die USA.

Russland sieht sich nicht beteiligt, ist aber betroffen

Russland plädiert in diesem Konflikt für direkte Gespräche zwischen der EU und Weißrussland, Präsident Putin hat solche selbst angeregt. Selbst möchte er den Vermittler trotz entsprechender Kontaktaufnahme durch Kanzlerin Merkel nicht spielen und lässt die aktuelle Eskalation mehr oder weniger geschehen. Eine Mitverantwortung Moskaus für das Flüchtlingsdilemma in Belarus, die immer wieder von russlandkritischen westlichen Experten und Presseleuten ausgesprochen wird, weisen in Russland nicht nur Offizielle zurück.

Auch in der dortigen Bevölkerung und Fachwelt betrachtet man sich selbst in der Angelegenheit als unbeteiligten Dritten. Maxim Samorukow betont, dass es keinen Beleg für eine russische Beteiligung an Lukaschenkos aktuellen Aktionen gibt. Es sei aus russischen Eigeninteresse überhaupt nicht nachvollziehbar, warum Moskau sich an der momentanen Eskalation beteiligen sollte.

Die russische Außenpolitik wird laut Samorukow auch dem Baltikum oder Polen nicht bei der Lösung des Problems helfen. Die Vorstellung von Lukaschenko als "Marionette" Moskaus sei falsch, das Staatsoberhaupt alleine kontrolliere seine staatliche Maschinerie. Dennoch werde das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen durch die Krise weiter belastet, was im Sinne Lukaschenkos sei, da dann diese vertiefte Front die weißrussisch-russischen Meinungsverschiedenheiten überlagere und ein stärkerer Gegensatz seine Unterstützung durch Moskau sichere.

Aktuell scheint Lukaschenko völlig außer Kontrolle Moskaus zu geraten. Samorukow sieht Lukaschenkos Politik als von Emotionen gelenkt, vom Wunsch nach Rache an westlichen Nachbarn für seine dortige Ächtung nach Jahren der Kooperation, etwa in der sogenannten östlichen Partnerschaft der EU, in der Belarus unter dem aktuellen Präsidenten ja beteiligt war.

Nachdem dort Emotionen wegen der traurigen Menschenrechtssituation im Weißrussland genutzt wurden, baut er jetzt auf solche, die sich gegen die Praktiken der Polen richten. Wo die Emotion regiert, ist für sachliche Lösungen wenig Platz, was für Lukaschenko ebenso wie die benachbarten EU-Staaten gilt.

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