Folter und Hinrichtungen: AI erhebt schwere Vorwürfe gegen syrische Regierung

Bild: amnesty

Amnesty-International-Bericht: Nach Aussagen von Zeugen sollen im Militärgefängnis Saydnaya zwischen 2011 und 2015 mehrere Tausend Gefangene systematisch und willkürlich gefoltert und gehängt worden sein

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Die Syrien-Berichterstattung in den westlichen Medien erreichte bei der Darstellung des Kampfes um Aleppo einen Höhepunkt ungeheuerlicher Einseitigkeit. Einer Kampagne gleich schienen sich Berichte großer amerikanischer, britischer, französischer und deutschen Medien darauf geeinigt zu haben, die bewaffnete Opposition nach einem infantil-idiotischen Schema als die "gute Seite" darzustellen und ihre Gegner, namentlich Assad und Putin, als Ausgeburten der Hölle, welchen der mörderische Sinn danach stand, die Stadt Aleppo ihrer Herkunft gemäß ebenso zur Hölle zu machen.

Irreführung der Öffentlichkeit mit Methode

Dass die oppositionellen Milizen nicht nur in Aleppo, sondern auch in anderen Teilen Syriens von Dschihadisten, al-Qaida-Abkömmlingen und -Brüdern und kaum weniger radikalen oder extremistischen Salafisten beherrscht wurden und noch werden, wird erst allmählich und in kleinen Formulierungsänderungen berücksichtigt. Von "Rebellen" ist kaum mehr die Rede. Dass sich nun Teile der Führung Ahrar al-Shams, einer vom Westen unterstützten taliban-inspirierten Salafisten-Miliz, dem neuen al-Qaida-Dachverband in Syrien anschließen, müsste auch dem hartnäckigsten Rebellen-Sympathisanten langsam die Augen öffnen. Ein bisschen wenigstens.

Auf die Irreführung der Öffentlichkeit wurde hier während der Kämpfe in Aleppo mehreren Berichten (vgl. z.B. Aleppo: Der syrische Dschihad und der Etikettenschwindel) hingewiesen.

Wer sich dazu die aktuellen Ausführungen des erfahrenen Nahostkriegs-und krisenberichterstatters Patrick Cockburn zur Berichterstattung im Irak und in Syrien durchliest, muss zur Kenntnis nehmen, auf welch' dünnen Boden all diejenigen ihre Überzeugungen bauen, die den großen Medien vertraut haben:

Im Fall Syrien haben die fabrizierten Nachrichten und die einseitigen Berichte die News-Agenda in einem Maße erobert, das wahrscheinlich seit dem 1. Weltkrieg nicht mehr beobachtet wurde.

Patrick Cockburn

Die Aussage ist etwas plakativ, was mit der Dreistigkeit zu erklären ist, mit der die Propaganda geschürt wurde. Es war, wie Cockburn noch einmal ausführt, viel Geld im Spiel, das für die PR der bewaffneten Gegner der Regierung Baschar al-Assads eingesetzt wurde. Nun ist es für Außenstehende, die peu à peu mitbekamen, wie weit die Anreize zur Desinformation reichten, schwer, noch Vertrauen in die Berichterstattung über Syrien aufzubringen.

Zweifel an bestimmten Erzählmustern

Nicht nur Medien haben enorm an Glaubwürdigkeit eingebüßt, was letztlich auch an der aufgeflammten Fake-News-Debatte abzulesen ist, der Zweifel betrifft auch Organisationen, die sich in der Krisenzone politisch positionieren. Aus dieser Vorsicht heraus ist der aktuelle Bericht von Amnesty International am besten mit spitzen Fingern anzufassen, umso mehr als die Vorwürfe gegen die Regierung Baschar al-Assad sich dem eingangs beklagten Erzählmuster nahtlos fügen.

Mit "Human Slaughterhouse", frei übersetzt "menschliches Schlachthaus" ist ein 48seitiger Bericht überschrieben, der bereits in der Unterzeile klar macht, worum es geht: Massenhängungen und Vernichtung von Menschen im syrischen Gefängnis Saydnaya.

Grob skizziert, und ohne zunächst Zahlen zu nennen, lässt sich das Ergebnis der einjährigen Recherche, von Dezember 2015 bis Dezember 2016, der Menschenrechtsorganisation so zusammenfassen: Oppositionelle wurden seit Ausbruch des Aufstandes gegen die Regierung im Jahr 2011 in wachsender Zahl in das Militärgefängnis Saydnaya gebracht, wo sie geschlagen, gefoltert und auch vergewaltigt wurden, unter unsäglichen Bedingungen inhaftiert und schließlich in Reihen aufgehängt, nachdem ihnen aufgrund ihrer Aussagen unter Folter von einem fadenscheinigen Militärgericht kurzer Prozess gemacht wurde - Dauer ein paar Minuten.

Höllenkreise

Es sind einige Höllenkreise (z.B. 35 Foltertechniken) , welche die Opfer bis zuletzt durchlaufen -manche sind zu leicht, um beim Hängen gleich zu sterben, die Henker helfen dann nach. Mit "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie die AI-Anklage lautet, ist das nur unzureichend umschrieben. Der Bericht geht unter die Haut. Seine politische Brisanz bekommt er dadurch, dass der staatlichen Willkür, die hier geschildert wird, Systematik in einem monströsen Ausmaß vorgeworfen wird.

Laut Hochrechnungen der Menschenrechtsorganisation sollen nämlich "zwischen 2011 und 2015 im syrischen Militärgefängnis Saydnaya zwischen 5.000 und 13.000 Menschen im Geheimen aufgehängt worden sein". Bei den meisten Getöteten handele es sich um Zivilisten, denen Kritik an der Regierung vorgeworfen wird, schreibt Amnesty. Das und die höchstgenannte Zahl, die in vielen Überschriften auftauchte, laufen auf einen Vorwurf der Kategorie hinaus, die einen Vergleich mit totalitären Gewaltherrschaften der schlimmsten Art geradezu aufdrängen. Wie sieht es nun mit der Quellenlage aus?

Die Quellen, Erfahrungen, Gehörtes und Hochrechnungen

Der Bericht basiert auf Schilderungen "von 84 Zeugen und Experten", darunter "Gefängniswärter und Behördenvertreter, aber auch ehemalige Häftlinge, Richter und Anwälte", schreibt Amnesty in der Kurzzusammenfassung. Im Orginalbericht ist zu erfahren, dass es 31 Zeugen Gefangene in Saydnaya waren, dazu gibt es vier Zeugen, die entweder als Wächter oder in einer anderen Position in Saydnaya gearbeitet haben, sowie drei syrische Richter, von denen man aber nicht weiß, ob sie Erfahrungen mit der mörderischen Praxis vor Ort gemacht hatten.

Die Schwierigkeit des Nachweises besteht nun genau darin, dass die Hinrichtungen durch Hängen im Geheimen durchgeführt wurden. Der Bericht weist an mehreren Stellen deutlich darauf hin. Niemand war in dem Gebäude, wo die Gefangenen in Reihen gehängt wurden. Solche Zeugen hat Amnesty nicht. So liegt viel an der Glaubwürdigkeit der Schilderungen der ehemaligen Gefangenen, die anscheinend durch Glück, Beziehungen oder Lösegeld oder eine Amnestie freikamen.

Notwendig wäre ein Gerichtsverfahren

Sie beschreiben regelmäßige Vorgänge und Abläufe, wie das Prügeln vor der Hinrichtung, den Marsch des leidvollen Gefangenenzuges in gebückter Haltung zu dem geheimnisvollen Gebäude, wo die Hinrichtungen stattfanden und die An- und Abfahrt von Leichenwagen, Särge, die getragen werden, Schuhe, die eingesammelt werden und gewisse Geräusche, die diejenigen hörten, die über dem Hinrichtungsort inhaftiert waren. Das ist alles mehr oder weniger angreifbar und muss in ordentlicher Weise vor Gericht geprüft worden.

Aus den Beobachtungen, die im Bericht geschildert werden, ergibt sich ein Bild von Abläufen, das stimmig erscheint, sie fügen sich zu diesem Bild des "Schlachthauses" zusammen. Aber es ist für den Leser nicht leicht zu entscheiden, wie solide die Beobachtungen sind, manchmal fußen sie auf Erzählungen und Gehörtem oder Wahrnehmungsfragmenten.

Zusammenfassend: An der Pein, die Gefangene in dem Gefängnis Saydnaya durchmachen, dürfte es keinen Zweifel geben, außer man negiert die Aussagen der Zeugen von AI völlig und hält alles für eine ausgemachte, fabrizierte Geschichte.

Folter in Syrien

Dagegen spricht aber, dass es in Syrien schon vor dem Krieg Folter gab und eine Menge Geheimdienste, die wahrscheinlich nicht immer so zimperlich mit festgenommenen Oppositionellen umgingen, wie dies in manchen Anekdoten von Syrern auch geschildert wird. Die USA machten sich unter George W.Bush während des Irakkriegs die geheimen Gefängnisse in Syrien für eigene Folterbefragungen zunutze.

Mit den eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Gegnern ab 2011 ist der Umgang sicher nicht harmloser geworden. Da es mehrere Zeugen sind, die von Särgen sprechen, die regelmäßig nach bestimmten,bekannten Abläufen abgeholt wurden, ist diese Behauptung nicht einfach wegzuwischen, zumal sie, wie gesagt, zu anderen Erfahrungen passt.

Es sei denn, man folgt der apologetischen Einstellung "Was nicht sein darf, gibt es nicht" und blendet alles aus, was einem idealisierten Bild der Regierung unter Baschar al-Assad widerspricht. Überprüfen lässt sich das Vorgebrachte schwerlich. Sich einfach über die grauenhaften Erfahrungen anderer mit dem Argument hinwegzusetzen, das ist ja alles erfunden?

Allerdings tut Amnesty dem vertrauensvollen Leser nicht gerade einen Gefallen mit den Luftbildern von sogenannten Massengräbern. Sie lassen sich schwer oder gar nicht verifizieren. Luftbildern ist umso weniger zu vertrauen, seit Regierungen damit Schindluder getrieben haben, um wie im Fall Irak einen fatalen Krieg loszutreten

Die Zahlen

Wie man dann mit den Zahlen umgeht, ist das nächste Problem. Grundlage sind die geschilderten Beobachtungen der Zeugen, deren Glaubwürdigkeitsproblematik eben geschildert wurde, über die Abläufe im Gefängnis. Daraus hat Amnesty eine ungefähre Tages-Schätzung ermittelt, die man wie folgt dann hochrechnet und zu einer Summe zwischen 5.000 und 13.000 Todesopfern kommt:

If between seven and 20 were killed every 10-15 days from September to December 2011, the total figure would be between 56 people and 240 people for that period. If between 20 and 50 were killed every week between January and November 2012, the total figure would be between 880 and 2,200 for that period. If between 20 and 50 people were killed in 222 execution sessions (assuming the executions were carried out twice a week twice a month and once a week once a month) between December 2012 and December 2015, the total figure would be between 4,400 and 11,100 for that period. These calculations produce a minimum figure of 5,336, rounded down to the nearest thousand as 5,000, and 13,540, rounded down to the nearest thousand as 13,000.

Amnestybericht "Slaughterhouse", Seite 17

Mag jeder selbst nachvollziehen, inwieweit man dem folgen kann oder mag. Feststeht, es ist in Syrien noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Und, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, selbst wenn es nur ganz wenige Opfer wären, die derart ums Leben gebracht wurden, so wäre nicht daran zu rütteln, dass es sich dabei um Verbrechen und Willkürmord handelt.