Fragiles Zusammenleben

Kolumbiens soziale Gegensätze prägen auch das Bild der Hauptstadt Bogotá

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Schicke Siedlungen am Stadtrand und zentrumsnahe Enklaven rund um Shopping-Malls und Bürogebäude auf der einen, irreguläre Armenviertel und verelendete Innenstadtgebiete auf der anderen Seite - was in europäischen Metropolen als Spaltung der Stadt thematisiert wird (Die Spaltung der Stadt), ist in Lateinamerika schon lange Realität. Bogotás neue Stadtverwaltung versucht gegenzusteuern.

Die rasante Verstädterung seit den 1940er Jahren hat in vielen Großstädten Südamerikas zu einem Wachstum geführt, das kaum stadtplanerisch gelenkt war. Trotz des Wildwuchses zeigen die verschiedenen Metropolen einige Gemeinsamkeiten: Die dichtbesiedelten Innenstadtquartiere sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend verelendet, die Reichen haben sich aus dem gemeinsamen Stadtleben verabschiedet und sich in zentrumsferne Siedlungen zurückgezogen, eingezäunt und zum Teil mit eigener Infrastruktur. Auch die täglich neu ankommenden Armen wohnen meist am Stadtrand, in provisorischen Quartieren ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur.

Bogotá liegt auf einer Hochebene in 2.600 m Höhe. Im Vordergrund das Zentrum, Blick nach Westen. Bild: Alexander Guembel

Erste Gegenmaßnahmen ergriffen die Stadtverwaltungen unter dem Stichwort einer "Rückgewinnung der Innenstädte". Einzelne Innenstadtquartiere nahe der Geschäftszentren und pittoreske Altstadtquartiere wurden und werden restauriert. Selten war diese Aufwertung sozialverträglich, wie in Berlin oder Paris zogen oft begüterte Kleinfamilien mit alternativem Anstrich in die ehemaligen Problemviertel.

Bogotás alte Oberstadt: Die Candelaria

In Bogotás Candelaria haben die Bewohner in teils heftigen Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung einen weitgehenden Mieterschutz durchgesetzt. So hat das Viertel zumindest teilweise seine Identität wahren können - Pferdegespanne vor Recyclinghöfen wechseln sich hier mit teuren Lofts in Fußgängerzonen ab.

Die Bewohner von El Cartucho hatten weniger Glück. Die vier Straßenzüge wurden vor drei Jahren komplett abgerissen. Hier entsteht jetzt eine menschenleere Grünfläche mit dem Namen "Park Drittes Jahrtausend". In dem nur drei Blocks vom Präsidentenpalast entfernten Quartier war ob seiner maroden Bausubstanz zum Schluss nahezu jedes Haus besetzt, und nicht nur in der Wahrnehmung paranoider Oberschichten hatten sich hier kriminelle Strukturen und Drogenhandel fest etabliert. Zwar hat die Stadtverwaltung allen Bewohnern neue Unterkünfte zugewiesen, die Umsiedlung in weit entfernte Viertel nützte den Betroffenen jedoch wenig. Denn die meisten leben vom Straßenhandel im Zentrum, dessen Verdienst selten die nun notwendigen Busfahrten erwirtschaftet. Jetzt leben in den umliegenden Viertel deutlich mehr Obdachlose als vorher.

Seit Beginn der 1990er Jahren haben sich die sozialen Gegensätze in ganz Kolumbien verschärft. Sowohl liberale und konservative Regierungen als auch der amtierende Präsident Uribe, dessen Mehrheit sich auf Abspaltungen aus beiden Lagern stützt, haben die beschönigend als Modernisierung bezeichneten neoliberalen Programme des Abbaus staatlicher Transferleistungen vorangetrieben. Investitionserleichterungen und abgeschaffte Einfuhrzölle haben insbesondere der Landwirtschaft zugesetzt, wo Konzerne wie Nestlé heute große Teile des Marktes für Milchprodukte kontrollieren. Das wiederum hat die Landflucht verschärft, deren Hauptursache freilich der Bürgerkrieg in den ländlichen Regionen ist. So musste Bogotá in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt täglich mehr als 100 Neuankömmlinge integrieren - bei einer Arbeitslosenrate, die im Jahr 2000 auf 20 Prozent gestiegen war (aktuell: 13,3 Prozent), und weiteren 33,7 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung, die unterbeschäftigt sind.

In Vierteln wie Hunza (Bezirk Suba) sind die Aussichten auf formale Beschäftigung gering. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt deutlich über der des Bevölkerungsdurchschnitts. Bild: Torsten Otto

Gegen die Gleichgültigkeit

Die städtische Armut war seit Mitte der 1990er Jahre stark gestiegen. Auf ihrem Höchststand 2001 lebten 55 Prozent der Bogotáner in relativer Armut (mit weniger als umgerechnet 100 Euro monatlich). Etwa eine Million Einwohner (15 %) lebten in absoluter Armut, also ohne ausreichende Nahrungsmittel und sonstige Grundversorgung. Angesichts dessen hatte Eduardo Garzón vom linkssozialdemokratischen PDI (Unabhängiger Demokratischer Pol, kurz Polo) seine Wahlkampagne Ende 2003 auf die Armutsbekämpfung konzentriert. Seit nunmehr zwei Jahren läuft unter dem Namen "Bogotá ohne Gleichgültigkeit" ein Stadtentwicklungsprogramm, das die Kriminalitätsbekämpfung seiner Vorgänger (die Mordrate liegt deutlich unter dem kolumbianischen Landesdurchschnitt) explizit um eine sozialstaatliche Komponente erweitert.

Die Armutsraten sind seither um einige Prozentpunkte gefallen, liegen jedoch weiterhin über dem Stand frühen 1990er Jahre - das Dilemma, unter einer neoliberalen Regierung den Wohlfahrtsstaat lokal wiederzubeleben, kann auch die Stadtverwaltung unter dem ehemaligen Gewerkschaftsführer Garzón nicht lösen. Aber die Umverteilung der städtischen Gelder und eine striktere Kontrolle der fristgemäßen Zahlung von Steuern und Gebühren sowie die Einbeziehung städtischer und großer privater Unternehmen hat neue Ressourcen mobilisiert. Zudem hat es Garzóns Verwaltung geschafft, den öffentlichen Diskurs von neoliberalen Paradigmen zum sozialen Rechtsstaat zu verschieben - von der Idee sozialer Leistungen als Almosen je nach Haushaltslage hin zu sozialen Rechten, von "Sicherheit" als Ergebnis polizeilicher Maßnahmen zu einem Konzept, das vor allem auf Chancengleichheit und der Einbeziehung marginalisierter Bevölkerungsteile beruht.

Sie trennen Welten. Blick vom Viertel Hunza (Estrato 1 und 2) hinauf zu den Ausläufern von Cerros de Niza (Estrato 6) im nordwestlichen Stadtbezirk Suba. Bild: Torsten Otto

Anders als in Reiseführern gern behauptet, kann Bogotá nicht pauschal in den reichen Stadtnorden und den armen Süden unterteilt werden. Die verschiedenen Schichten verteilen sich eher in einem Flickenteppich über die Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole. Freilich wohnen im Norden mehr gutbürgerliche und superreiche Familien als im Süden, doch Armenviertel und "gute" Gegenden gibt es in allen Stadtbezirken.

Die Farben Rot und Gelb markieren arme Wohngegenden (Estrato 1 und 2). Hellblau zeigt kleinbürgerliche Barrios an. Die Farben Hellgrün, Orange und Dunkelgrün klassifizieren gut- und großbürgerliche Viertel. Quelle: Stadtverwaltung Bogotá

Anders als in Buenos Aires oder Managua wohnen in Bogotá Reiche und Arme oft nah beieinander. Das zeigt ein Blick auf die "estratos", die von der Stadtverwaltung eingeführten Nivels zur Bewertung der Wohnlagen und wichtigstes Instrument der Stadtplanung. Estrato eins und zwei umfassen Wohnlagen mit schwacher Infrastruktur, oft irregulär besiedelte Viertel, die später legalisiert wurden. Als Estrato drei gelten kleinbürgerliche Barrios. Die Viertel der Mittel- und Oberschichten werden als Estrato 4, 5 und 6 klassifiziert. Im Bezirk Chapinero im nördlichen Zentrum wohnen beispielsweise 28.000 Einwohner in den estratos eins, zwei und drei, 85.000 in reichen Gegenden. In Ciudad Bolivar hingegen, dem im äußersten Süden gelegenen ärmsten Bezirk der Stadt, wohnen 95 Prozent der Einwohner in den Estratos eins und zwei.

Die neue Stadtverwaltung hat die Subventionen für Bewohner der Estratos eins und zwei deutlich erhöht. Bei Strom- und Wasserversorgung sowie Telefongebühren sind es bis zu drei Viertel der Gebühren. Darüberhinaus konzentriert sich das Programm auf Distrikte mit hohem Anteil der unteren Estratos, von Suba im Nordwesten über Bosa und Kennedy bis Ciudad Bolivar und Usme im äußersten Süden, wo in Wasser- und Stromversorgung, Straßenbau und öffentliche Schulen investiert wird. Mit dem Ausbau der Grünflächen, Radwege und des Schnellbusnetzes konnte sich die Stadtverwaltung auch unter den wohlhabenderen Bewohnern vergleichsweise hohe Zustimmungsraten zu sichern. 60 Prozent der Bogotáner - ein Drittel mehr als 2002 - geben heute an, die Stadt entwickle sich zum Positiven.

Bezirk Suba, Ortsteil Rincón. Bild: Torsten Otto

Ein Kernstück des Stadtentwicklungsplans ist die Bekämpfung des Hungers. Schließlich geben in Umfragen 12 Prozent von mehreren tausend Befragten aus allen Schichten und Vierteln an, mindestens einem Haushaltmitglied keine drei Mahlzeiten zur Verfügung stellen zu können. Derzeit erhalten in Stadtteilkantinen und in der Schulspeisung täglich 400.000 Kinder kostenlos oder zu symbolischen Beiträgen eine Mahlzeit. "Bogotá sin hambre" bleibt zwar eine Zukunftsvision, für ein städtisches Programm handelt es sich jedoch um eine beachtliche Zahl, die zudem mit einer Reduzierung der Verschuldungsrate der Stadt um ein Drittel seit dem Amtsantritt Garzóns einhergeht.

Eine emanzipatorische Perspektive?

Dass die Vergünstigungen für die etwa drei Millionen Bogotaner in den Estratos eins und zwei mit einer Stabilisierung des Haushaltes einhergehen, hat pauschale Kritik von rechts weitgehend verstummen lassen. Auch unter konservativen und liberalen Stadträten herrscht grundsätzliche Zustimmung zum Stadtentwicklungsplan. Gefordert wird von dieser Seite vor allem die Ausweitung auf Bewohner des Estrato drei. Diese "Sandwich"-Bevölkerung kommt nicht mehr in den Genuss von Vergünstigungen, hat aber oft nicht genügend Geld, um sich privat abzusichern.

Kritisiert wird zudem, dass viele Aktionen wenig nachhaltig seien und unzureichend untereinander verbunden. So hat die Stadtverwaltung zwar die Zahl städtischer Oberschulen und die Zahl der zu kostenloser Ausbildung Berechtigter deutlich erhöht, über die Qualität der Schulbildung sagen solche statistischen Erfolge allerdings nicht viel aus. So meint Víctor Manuel Gómez von der Universidad Nacional:

Ein armer Abiturient in Bogotá zu sein, ist keine angenehme Situation. Denn die jährlich 70.000 Schulabgänger Bogotás stehen mit etwa 200.000 Abiturienten aus dem Umland und den anderen Teilen Kolumbiens im Wettbewerb um die 15.000 Studienplätze, die staatliche Universitäten in der Stadt anbieten. Und fast alle Studienplätze sind Langzeitausbildungen, die ärmere Studenten oft nicht finanzieren können.

Alimentation oder Selbstermächtigung? Bild: Alexander Guembel

Die Kritik von links steht im Zusammenhang mit einem grundsätzlichen Vorwurf gegenüber sozialdemokratischen Ansätzen: Das Programm ziele trotz aller Rhetorik sozialer Rechte nicht auf die Beteiligung und Selbstermächtigung der Betroffenen, sondern deren Alimentierung. Die Kritik am "Assistenzialismus" der Stadtverwaltung ist nicht ganz unberechtigt. Für Projekte, die sich nicht unter die Fittiche eines der städtischen Programme stellen wollen, gibt es kaum noch Unterstützung. Juliana Vélez, die eine autonom arbeitende Stadtteilinitiative in Ciudad Bolivar leitet, berichtet:

Die Leute vom Pólo sind wie Staubsauger. Die kommen, evaluieren und saugen dich in ein Programm unter ihrer Aufsicht. Wenn du nicht mitmachst, bist du raus.