Fragwürdige "Heldentat"

Vor 90 Jahren, am 21. Juni 1919 gab Konteradmiral Ludwig von Reuter den Befehl zur Selbstversenkung der im schottischen Scapa Flow "internierten" ehemaligen Kaiserlichen Hochseeflotte. Damit sollte verhindert werden, dass die Kriegsschiffe der deutschen Marine in die Hände der Siegermächte fielen.

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Mit dem am 11. November 1918 im französischen Compiègne unterzeichneten Waffenstillstand war der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. Laut den Bestimmungen des Vertrags sollte der Hauptteil der kaiserlichen deutschen Hochseeflotte bis zum Abschluss eines Friedensvertrags in Scapa Flow „interniert“ werden: einer von den Orkney-Inseln gebildeten windgeschützten Bucht vor der Nordküste Schottlands. Während des Krieges war sie lange Zeit Hauptstützpunkt der Grand Fleet im Rahmen der britischen Fernblockade. Dabei wurden die Nordseezugänge nicht nur am Ärmelkanal, sondern auch zwischen Schottland und Norwegen für die deutsche Schifffahrt gesperrt.1

Die deutsche Flotte in Scapa Flow (November 1918)

Alle wertvollen Ausrüstungsteile, wie z. B. nautische Instrumente, der über 74 deutschen Schiffe – 11 Großlinienschiffe (Schlachtschiffe), 5 Große Kreuzer (Schlachtkreuzer), 8 Kleine Kreuzer und 50 Torpedoboote – waren vor dem Auslaufen am 19. November in Wilhelmshaven entfernt, die Verschlüsse der Kanonen ausgebaut und die Besatzungen entwaffnet worden. Erst drei Wochen zuvor hatten die meuternden revolutionären Heizer und Matrosen das Gros der Offiziere von Bord gejagt. Im Glauben, die Schiffe würden als „vorübergehendes Pfand“ beim Friedensschluss nach Deutschland zurückkehren, hatte auch der Oberste Soldatenrat die Mannschaften aufgerufen, „im Dienste des Vaterlandes der neuen deutschen Republik ihre Wehrkraft zu erhalten“.

Die Aufsicht über die deutsche Flotte, die am 21. November 1918 im Firth of Forth, der Bucht von Edinburgh, eintraf, hatten die Alliierten dem Oberkommandierenden der Grand Fleet, Admiral Sir David Beatty übertragen. Der gestaltete den Empfang der deutschen Schiffe zu einer großen Siegesparade mit einem gigantischen Flottenaufgebot: 90.000 Mann auf 370 Schiffen – eine „sichtbare Demonstration“ (Beatty) des Kriegbeitrags der Grand Fleet, die es tatsächlich nicht vermocht hatte, die deutsche Hochseeflotte zu besiegen.2

Am 27. November trafen die letzten Schiffe des Überführungsverbands in Scapa Flow ein und gingen für die kommenden sieben Monate vor Anker – gemäß Waffenstillstandsvertrag mit reduzierten Besatzungen. Von insgesamt 20.000 Mann wurden im Laufe des Dezembers 15.000 Mann nach Kiel und Wilhelmshaven überführt.

Die SMS Derfflinger sinkt vor Scapa Flow

Am 18. Januar 1919 hatte in Paris die Friedenskonferenz begonnen, an der 32 Staaten vertreten waren. Am 7. Mai 1919 gaben die Siegermächte in Versailles der deutschen Delegation ihre Friedensbedingungen bekannt. Für die Annahme stellten sie der deutschen Seite ein Ultimatum bis zum 21. Juni. Deutschland, dem zusammen mit seinen Verbündeten die alleinige Kriegsschuld (Kriegsschuldartikel 231) zugewiesen wurde, musste sich zu weitgehender Entwaffnung verpflichten. „Die Entwaffnungsbestimmungen sollten Deutschland der Entente gegenüber wehrlos machen, ohne es zugleich eines Grenzschutzes im Osten und einer Macht zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung zu berauben.“ (K.D. Erdmann). Nach seinem gescheiterten „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) sollte Deutschland demnach wehrhaft genug bleiben, um der Entente als Bollwerk gegen den Bolschewismus von Nutzen zu sein. Unter anderem wurde die Kriegsmarine auf eine Stärke von 15.000 Mann drastisch reduziert, U-Boot-Waffen gänzlich untersagt. Die zukünftige Verwendung, Aufteilung oder Vernichtung der deutschen Hochseeflotte war einer der strittigsten Punkte der Friedensverhandlungen und konnte bis zum Schluss nicht geklärt werden.

Am Morgen des 21. Juni 1919, einem herrlichen Frühsommertag, verließ die Grand Fleet bei spiegelglatter See die Bucht von Scapa Flow zu einem Manöver in der Nordsee. Der Verlauf der Verhandlungen in Versailles schien kritisch; der deutsche Flottenkommandant Konteradmiral Ludwig von Reuter behauptete in seinem 1921 erschienenen Erinnerungsbuch3, er habe vermutet, dass die deutsche Regierung den Friedensvertrag von Versailles nicht annehmen und deshalb in Kürze wieder der Kriegszustand herrschen werde. Für die deutsche Marineführung war es eine Frage der Ehre, dass die Flotte den Briten im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen auf keinen Fall unzerstört in die Hände fallen durfte. Von Reuter nutzte daher die günstige Gelegenheit. Mit dem zuvor vereinbarten Signal Z. gab der Admiral den Befehl zur Selbstversenkung der Flotte. Die Vorbereitungen hierzu hatte man bereits zuvor getroffen, ohne dass die britischen Bewacher es bemerkt hatten. Die Seeventile der deutschen Schiffe wurden geöffnet, die Verschlüsse anschließend unbrauchbar gemacht, die Türen zwischen den wasserdichten Abteilungen geöffnet und im offenen Zustand verkeilt; außerdem wurde die Kriegsflagge gehisst.

Untergang der SMS Bayern

Als die deutschen Matrosen ihre Schiffe fast gleichzeitig mit Rettungsbooten verließen, glaubten die britischen Wachmannschaften zuerst an eine Revolte und eröffneten das Feuer auf die Boote. Hierbei sowie im folgenden Handgemenge wurden zwei deutsche Offiziere und sechs Soldaten getötet sowie fünf verwundet.4 Als die Engländer bemerkten, was wirklich geschah, war es für ein erfolgreiches Eingreifen zu spät. Als erstes Schiff versank um 12.16 Uhr die SMS Friedrich der Große, als letztes um 17 Uhr die SMS Hindenburg. Lediglich das Großlinienschiff SMS Baden, die drei Kleinen Kreuzer SMS Emden, SMS Frankfurt und SMS Nürnberg sowie 11 Torpedoboote konnten durch das Eingreifen britischer Seeleute an der Selbstversenkung gehindert und in seichtes Wasser geschleppt werden. Damit war der Kern der Kaiserlichen Marine zerstört und so der drohenden Beschlagnahme der Briten entzogen.

Die SMS Baden wurde als einziges gößeres Schiff nicht versenkt

Das aus den versenkten Schiffen ausdringende Öl tötete in den nächsten Jahren alles Leben an der Küste. Die Wracks wurden zwischen 1923 und 1939 größtenteils gehoben. Sieben Schiffe verblieben bis heute am Meeresgrund – sie sind ein beliebtes Ziel von Tauchausflügen. Bis heute wird gelegentlich hochwertiger Stahl aus den Wracks geborgen. Da dieser Stahl noch vor der Zeit der oberirdischen Nukleartests hergestellt wurde, finden sich in ihm keine Beimengungen von radioaktivem Staub. Er eignet sich deshalb besonders zum Bau und zur Abschirmung von hochempfindlichen Messgeräten, etwa in der Nuklearmedizin (z. B. Gamma Counter, Ganzkörperzähler).

Ein Gebot der Ehre?

Von deutschen Marinehistorikern wurde die Selbstversenkung, zum Teil auch noch nach 1945, als eine heroische Tat gefeiert. Es sei ein Gebot der Ehre gewesen, die Schiffe nicht dem Gegner zu überlassen. In deutschen Militärkreisen feierte man sie darüber hinaus als eine Tilgung der „Schmach“ vom Herbst 1918, als Matrosen der deutschen Hochseeflotte in Kiel durch ihre Rebellion die Novemberrevolution eingeleitet hatten. Für diese fragwürdige Heldentat zahlte Deutschland allerdings einen gehörigen Preis. Die Alliierten verlangten nicht nur die Übergabe anderer, zum Teil moderner Schiffe, die den Grundstock für die neue Reichsmarine hätten bilden sollen, sondern auch den größten Teil der noch bestehenden deutschen Handelsflotte.

Konteradmiral Ludwig von Reuter

Die Versenkung der Schiffe war ein Bruch der Waffenstillstandsbedingungen, die es verboten, militärische Ausrüstung zu zerstören. Von Reuter wurde deswegen des Vertragsbruches beschuldigt und in Kriegsgefangenschaft genommen, während die Offiziere und Mannschaften der Rumpfbesatzungen in England als Kriegsgefangene interniert wurden. Dennoch waren die Briten über die Selbstversenkung insgeheim nicht traurig, hatte doch hinter den Kulissen unter den Siegermächten längst das Tauziehen um die Kriegsbeute begonnen. Bei einer Aufteilung der deutschen Flotte hätte Großbritannien zudem seine Rivalen zur See gestärkt, was nicht in seinem Interesse liegen konnte.

Von der Deutschen Reichsregierung wurde die Versenkung nachträglich gebilligt. Die zurückkehrenden Offiziere und Mannschaften wurden in Deutschland mit Jubel begrüßt, von Reuter als Held gefeiert, der die Ehre der deutschen Flotte gerettet habe. Er wurde 1939 unter dem Naziregime zum „chargierten Admiral“ befördert.

Anhang:

Geheimschreiben des Chefs der deutschen Admiralität, Admiral von Trotha5

Brief des Konteradmirals von Trotha, Chef der deutschen Admiralität, der im Panzerschrank des Konteradmirals von Reuter auf der SMS Emden gefunden wurde.

Chef der Admiralität, Berlin, 9. Mai 1919

Euer Hochwohlgeboren haben dem Korvettenkapitän Stapenhorst gegenüber erneut den Wunsch des Internierungsverbandes zum Ausdruck gebracht, über das Schicksal desselben und die vermutliche Beendigung der Internierung unterrichtet zu werden. Das Schicksal dieses unseres bedeutendsten Flottenteiles wird sich voraussichtlich durch die gegenwärtigen Verhandlungen zum Präliminarfrieden endgültig entscheiden. Aus Pressenachrichten und Erörterungen im englischen Oberhaus ergibt sich, dass unsere Gegner mit dem Gedanken umgehen, den Internierungsverband uns durch den Friedensvertrag vorzuenthalten.

Sie schwanken zwischen einer Vernichtung oder Aufteilung untereinander. Gegen letztere werden Bedenken laut. Diesen feindlichen Absichten steht das bisher unwidersprochene deutsche Eigentumsrecht an dem Verbande gegenüber, in dessen Internierung wir bei Abschluss des Waffenstillstandes nur willigten, weil wir dem Gegner für die Dauer des Waffenstillstandes eine wesentliche Schwächung der Gefechtskraft der deutschen Flotte zugestehen mussten. Dieser ausgesprochenen Auffassung haben die Gegner weder bei Abschluss des Waffenstillstandes noch bei seiner Verlängerung widersprochen.

Dagegen haben wir ihr erneut Ausdruck gegeben, als wir im Februar 1919 gegen die unbegründete Internierung in einem feindlichen Hafen protestierten, dieses Vorgehen als einen Bruch des Waffenstillstandes bezeichneten und die nachträgliche Überführung in einen neutralen Hafen forderten; allerdings blieb dieser Protest unbeantwortet. E. H. mögen überzeugt sein, dass es die selbstverständliche Pflicht unserer Marineunterhändler in Versailles sein wird, das Schicksal des Internierungsverbandes mit allen Mitteln zu verteidigen und eine unseren Traditionen und dem unzweideutigen deutschen Recht entsprechende Lösung herbeizuführen. Hierbei wird an erster Stelle die Bedingung stehen, dass der Verband deutsch bleiben soll, dass sein Schicksal, wer auch immer es unter dem Druck der politischen Lage gestalten möge, nicht ohne unsere Mitwirkung bestimmt und von uns selbst vollzogen wird, und dass eine Auslieferung an den Feind ausgeschlossen bleibt.

Wir müssen hoffen, dass diese gerechten Forderungen sich im Rahmen unserer gesamtpolitischen Stellung zur Friedensfrage erfolgreich behaupten lassen. Ich bitte E.H., den Offizieren und Besatzungen der internierten Schiffe im Rahmen des Möglichen meine Befriedigung darüber auszudrücken, dass sie zu ihrem Teile so nachdrücklich zur Erfüllung unserer ehrlichen Hoffnung beitragen, dass der Internierungsverband unter deutscher Flagge verbleiben wird, und ihnen unseren festen Wunsch mitzuteilen, dass ihre gerechte Sache obsiegen wird. Es steht zu erwarten, dass diese Haltung die deutsche Delegation bei der Friedenskonferenz in ihren Bestrebungen unterstützen wird. Das Schicksal der gesamten Marine wird von dem Erfolg dieser Bestrebungen abhängen. Es ist zu hoffen, dass sie zu einer Beendigung der Internierung, die durch den Wortbruch unserer Feinde so unmenschlich geworden ist, führen wird. Ihre Leiden und die daraus folgenden Belastungen werden von der ganzen Marine beklagt. Sie werden für immer unvergessen bleiben und den internierten Besatzungen zu Ehren gereichen.

An den

Befehlshaber des Internierungsverbandes, Herrn Konteradmiral von Reuter, Scapa Flow