Frankensteins Erben
Artificial Life, Astrobiologie und Leben als Strukturerhaltung: Gespräch mit dem Neuroinformatiker Daniel Polani von der Universität Lübeck
Ein menschlicher Körper, fast vollständig durch Bandagen verhüllt, liegt auf einem Operationstisch. Riesige Kondensatoren sammeln die Energie von Blitzen, um sie gezielt in diesen Körper zu leiten. Da, eine Hand zuckt! Dann öffnet das Wesen die Augen. Es lebt!
Mit diesen Visionen aus James Whales "Frankenstein"-Verfilmung von 1931 hat die heutige Realität der Forschungen zu Künstlichem Leben wenig zu tun. Es sind keine Mad Scientists, die sich vom 18.-20- März zum 5th German Workshop on Artificial Life des Instituts für Neuro- und Bioinformatik in Lübeck zum Gedankenaustausch treffen, sondern seriöse Wissenschaftler, überwiegend Informatiker und Biologen. Und sie produzieren auch keine Amok laufenden Monster, sondern spüren dem Wesen des Lebens nach oder kümmern sich um so profane Dinge wie die Optimierung von Maschinenabläufen. Daniel Polani, Mitorganisator der Tagung, erläutert die Realität von Artificial Life im Gespräch.
Herr Polani, der wohl immer noch prominenteste Experte für künstliches Leben ist eine fiktive Person und heißt Viktor Frankenstein. Sind Sie mit dessen Arbeiten vertraut?
Daniel Polani: Den Roman von Mary Wollstonecraft Shelley habe ich leider noch nicht gelesen. Aber ich kenne einige Verfilmungen des Stoffes. Die Figur des Frankenstein verkörpert ja einen alten Menschheitstraum: das Nachvollziehen des Schöpfungsaktes.
Frankenstein stützte sich dabei im Wesentlichen auf die Chemie, das heißt, er führte das Leben auf rund 100 Grundelemente zurück. Heute ist Künstliches Leben ein Gebiet der Informatik. Die kommt mit nur noch zwei Grundelementen aus. Verbessert diese Reduzierung die Erfolgschancen?
Daniel Polani: Nun, Frankenstein ist natürlich mit allen Vorteilen einer fiktiven Figur ausgestattet. Mit der realen Forschung stehen wir dagegen noch ganz am Anfang. Unser Ziel ist es, die Prinzipien des Lebens zu verstehen. Ob es uns tatsächlich gelingen wird, sie auf Null und Eins zu reduzieren, ist dabei noch keinesfalls absehbar.
In dem Aufruf zu Ihrem Workshop ist auch viel von Biologie und Soziologie die Rede. Wo genau zwischen diesen Disziplinen ist Künstliches Leben angesiedelt?
Daniel Polani: Im Grunde genommen ist es mehr Biologie als Informatik. Wenn es auf Seiten der Biologen trotzdem noch Berührungsängste gibt, liegt das auch an der Geschichte des Fachs, bei dem jahrhundertelang die Beobachtung im Mittelpunkt stand. Theoretische Betrachtungen bekommen etwa mit Darwin und Mendel zunehmend Gewicht, aber erst in jüngster Zeit ist die Erforschung der Grundprinzipien des Lebens, unabhängig von dessen konkreter Ausformung auf Basis der Kohlenstoff-Chemie, möglich geworden. Seit etwa 15 Jahren verfügen Computer über genügend Rechenleistung, um nicht-triviale künstliche Welten simulieren zu können.
Gibt es bestimmte Schwerpunkte der Forschung?
Daniel Polani: Wir haben ein sehr interdisziplinäres Publikum. Neben Biologen und Informatikern interessieren sich Physiker und Mathematiker, aber auch Soziologen, Psychologen und Philosophen für das Gebiet. Jeder hat seine besonderen Fragestellungen. Die Soziologen etwa finden Interesse an den Formen der Interaktion zwischen Softwareagenten. Mathematiker fragen dagegen nach abstrakten Formalismen zur Beschreibung der Strukturen des Lebens, bzw. nach den Strukturen des Lebens selbst. Worin besteht zum Beispiel der Vorteil für Organismen, bestimmte Unterstrukturen oder Modularisierungen hervorzubringen? Warum ist ein organisierter "Bauplan" für ein Lebewesen überhaupt vernünftig?
Versuchen Sie beispielsweise, mathematisch den Übergang von Einzellern zu vielzelligen Organismen oder die Entstehung geschlechtlicher Vermehrung nachzuvollziehen?
Daniel Polani: Die "Kosten des Sex", ausgedrückt im Aufwand an Energie und außerdem in der Gefährdung der Individuen, sind dermaßen hoch, dass die zweigeschlechtliche Vermehrung einen ungeheuren selektiven Vorteil enthalten muss, damit sich das überhaupt rechnet. Ich vermute, dass dieser Vorteil in der Möglichkeit des Austauschs von Modulen, also Lösungen für Teilprobleme, besteht. Wir kennen das auch auf der Ebene der Sprache: Durch einen formalisierten Austausch bestimmter Teilinformationen lassen sich oft erhebliche Effizienzgewinne erzielen.
Auf dem Workshop geht es aber nicht nur um solche grundlegenden Fragen?
Daniel Polani: Nein, wir haben auch sehr anwendungsbezogene Beiträge, in denen es etwa um das Design von Maschinenabläufen geht. Andere, theoretischere Arbeiten beschäftigen sich mit der Charakterisierung gekoppelter Verhaltensweisen bei Softwareagenten oder mit der erwähnten Modularisierung von Lebensformen. Wir selbst bemühen uns an unserem Institut, mit Hilfe von Artificial-Life-Methoden die Anordnung von DNS-Sequenzen besser zu verstehen.
Die DNS gilt ja mittlerweile fast als das "Lebensmolekül" schlechthin. Weitere Grundbausteine, die auch bei der Suche nach Leben im All eine wichtige Rolle spielen, sind etwa Aminosäuren oder Kohlenhydrate. Gibt es zu diesen biochemischen Bausteinen informationstheoretische Entsprechungen in der Artificial-Life-Forschung?
Daniel Polani: Wir möchten herausbekommen, welche strukturellen Elemente essentieller Bestandteil des Lebens und welche bloß "zufälliges Implementationsdetail" sind. Wenn man allen derartigen Ballast abwirft, stellt sich uns Leben, salopp formuliert, derzeit als Strukturerhaltung über längere Zeitskalen dar, obwohl die zugrundeliegende "physikalische" Dynamik wesentlich kurzlebiger ist.
Wie bitte?
Daniel Polani: Von einer naiven physikalischen Perspektive aus gesehen, würde man a priori erwarten, dass (sehr plakativ formuliert) Strukturerhaltung und Dynamik komplementär zueinander sind. Um es plastisch zu machen: Ein Gas zum Beispiel ist in ständiger Veränderung begriffen, also hoch dynamisch, eventuelle initiale Strukturen verlieren sich dadurch sehr schnell. Ein Kristall dagegen hat eine klar definierte Struktur, aber im Vergleich zum Gas nur eine geringe Dynamik, wodurch die Kristallstruktur über einen längeren Zeitraum erhalten bleibt. Ein lebendes System hat beides, eine deutlich ausgeprägte Struktur, die trotz hoher Dynamik weitgehend erhalten bleibt. Die Struktur eines Menschen etwa bleibt über 80 Jahre in einem sehr hohen Maße erhalten, obwohl etwa die Materie seines Körpers in erstaunlich kurzen Intervallen von wenigen Jahren regelmäßig komplett ausgetauscht wird.
Mit Ihren Fragen nach den Grundprinzipien des Lebens, unabhängig von seinen konkreten Erscheinungsformen auf der Erde, müssten Sie sich eigentlich mit der Astrobiologie treffen. Die strebt ja auch über das irdische Leben hinaus.
Daniel Polani: Ja, die Astrobiologie ist gewissermaßen empirischer Natur, indem sie die Datenbasis zu erweitern sucht. Artificial Life verfolgt dagegen eher einen theoretischen, oder besser: synthetischen Ansatz.
Ist es denkbar, dass wir mit der Schaffung künstlichen Lebens im Computer oder in Form von Robotern eine neue Entwicklungsstufe in der Evolution des Lebens anstoßen? Von der Seite der Astrobiologie gefragt: Möglicherweise finden wir im All eines Tages Leben, das auf der Grundlage von Silizium funktioniert ? und einst von kohlenstoffbasierten Lebewesen bewusst geschaffen wurde?
Daniel Polani: Natürlich ist das denkbar. Das wäre in etwa einem Gebäude vergleichbar, dessen Entstehung kaum noch nachvollziehbar ist, weil das Baugerüst, mit dessen Hilfe es einst hochgezogen wurde, nicht mehr da ist. In der Geschichte des irdischen Lebens kennen wir solche Entwicklungssprünge bislang nicht. Aber vielleicht bringen wir tatsächlich gerade einen hervor.
Werden künstliche Lebewesen eines Tages über ihre Schöpfer nachdenken und eine eigene Religion entwickeln?
Daniel Polani: Abgesehen von ihrem spirituellen Aspekt ist die Religion ja ein vorwissenschaftlicher Versuch, sich die Welt zu erklären und die Wahrnehmung der Dinge in eine Ordnung zu bringen. Es ist möglich, dass die Lebewesen im Computer ihr Zusammenleben zunächst auf eine quasi-religiöse Grundlage stellen. Aber im Lauf der Zeit sollten sie dann eigentlich zur wissenschaftlichen Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge vordringen.
Welche Rechte haben künstliche Lebewesen? Ist es in Ordnung, wenn Roboter sich zur Belustigung der menschlichen Zuschauer gegenseitig zerstören, weil es ja "nur Maschinen" sind?
Daniel Polani: Es gibt in Steven Spielbergs Film "AI" so eine Szene, in der harmlose Roboter allein zur Befriedigung des Publikums auf verschiedenste Weisen zerstört werden. Dort wird die Frage eindeutig negativ beantwortet. Ich persönlich habe für offene, willkürliche Zerstörungswut nicht das geringste Verständnis, egal, ob es dabei um Roboter geht oder andere Dinge. Aber sobald Roboter leidensfähig sind, ist noch einmal eine besondere, ethische Grenze erreicht.
Ich möchte zum Schluss noch einmal auf Frankenstein zurückkommen. Der muss sich von seinem Geschöpf folgende Klage anhören: "Vermaledeiter Schöpfer! Was musstest du ein Monstrum formen, von dem selbst DU mit Grausen dich gewandt?" Haben Sie keine Angst, dass Ihre Computerwesen Sie eines Tages etwas Ähnliches fragen könnten?
Daniel Polani: Ich glaube nicht, dass künstliche Lebewesen zu den Menschen in Konkurrenz treten müssen. Ich sehe in Zukunft eher eine Ergänzung oder Verschmelzung. Wenn wir uns nicht selbst auslöschen, was immer noch eine reale Gefahr ist, werden wir uns wahrscheinlich zu einer Cyborg-Zivilisation entwickeln.
Halten Sie es für möglich, dass die Menschheit sich entschließt, diesen Weg nicht zu gehen und auf die Entwicklung entsprechender Technologien zu verzichten?
Daniel Polani: Das würde eine ungeheure kollektive Willensstärke erfordern, an die ich nicht glaube. Nein, das halte ich für so gut wie ausgeschlossen.