Frankreich: Ausgedehnte Sozialproteste

Demonstration "La Fête à Macron", 5. Mai 2018. Bild: Jules Xénard / CC BY-SA 4.0

Das Nachbarland in Bewegung: Eisenbahnerstreik, Studentenproteste und Kleingruppengewalt von politischen Abenteurern

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Die laufende Woche wird in Frankreich von mehr oder weniger ausgedehnten Sozialprotesten geprägt sein. Zunächst streiken zum Wochenbeginn am Dienstag die öffentlich Bediensteten.

Diese wehren sich unter anderem gegen die Wiedereinführung eines "Karenztags", eines unbezahlten Krankheitstags, den Nicolas Sarkozy zunächst 2012 eingeführt und François Hollande dann 2014 wieder abgeschafft hatte, und gegen Personalmängel in Krankenhäusern und Pflege. Diese Personalnot droht durch den geplanten Abbau von 120.000 Stellen noch verschärft zu werden.

Am Samstag folgt dann eine voraussichtlich breite Mobilisierung, zu welcher ein Bündnis aus rund achtzig Organisationen wie Gewerkschaften, Linksparteien und NGOs aufruft. Ihr offizieller Titel lautet "marée populaire", was schwer zu übersetzen ist (marée bedeutet so viel wie "Meer" oder "Flut", und das Adjektiv populaire verweist auf das französische peuple als Zusammenfassung der Unterklassen - das sich definitiv inhaltlich vom deutschen "Volks"begriff unterscheidet). Oder auch marée humaine, also "Menschenmeer".

Bereits seit Anfang April streiken in regelmäßigen Abständen insbesondere die Bahnbeschäftigten. Hinzu kommt ein, allerdings mit starken Ungleichzeitigkeiten zwischen den Hochschulstandorten verlaufender, Studierendenprotest.

Der Eisenbahnerstreik

Der am stärksten befolgte Arbeitskampf, mit unterschiedlich intensiv ausfallenden Phasen, ist jener der Bahnbeschäftigten. Ein Höhepunkt wurde etwa am Montag, den 14. Mai, verzeichnet. Auch wenn die Direktion der französischen Bahngesellschaft eifrig bemüht war, das Gegenteil zu behaupten, betrug doch auch laut ihren Angaben die Streikbeteiligung an dem Tag 74,4 % bei den Lokführern und 74,3 % bei den Schaffnern.

Der Protest richtet sich zunächst gegen die Versuche der Regierung, Teile des französischen Schienennetzes buchstäblich kaputt zu sparen. Halbe Regionen würden dadurch vom Bahnnetz abgeschnitten. Nach vorliegenden Plänen, die Mitte Februar dieses Jahres auf den Tisch gelegt wurden, sollen 9.000 Streckenkilometer Bahn als "unrentabel" verschwinden.

Frankreich weist derzeit rund 35.000 Streckenkilometer Bahn auf, von denen 30.000 im Betrieb befindlich sind. Es waren in der Geschichte schon einmal 42.500 Streckenkilometer, bei der Gründung der Bahngesellschaft SNCF im Jahr 1937. Doch in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren erfolgte ein erster Rückbau, um den motorisierten Individualverkehr zu fördern (und um massenhaft PKW zu produzieren, trotz ökologischen Irrsinns). Weitere Teilstillegungen erfolgten zu Anfang dieses Jahrhunderts.

Daneben möchte die Regierung in Paris, dass das "Statut", also das öffentlich-rechtlich abgesicherte Modellarbeitsverhältnis für die Bahnbeschäftigten, verschwindet. Alle ab 2020 eingestellten Bahnbeschäftigten sollen privatrechtliche Arbeitsverträge haben.

Bislang gewährleistet das "Statut" den Eisenbahnern eine Jobgarantie - es sei denn, sie lassen sich schwerwiegende dienstliche Verfehlungen zuschulden kommen - und minimale Laufbahngarantien. Dabei handelt es sich um historische Errungenschaften der Arbeiterbewegung.

Neid

In der Öffentlichkeit behauptet nun ein u.a. durch die Regierung, aber auch viele bürgerliche Medien geschürter Neiddiskurs, dass es sich dabei um "historisch überkommene Privilegien" handele.

Dies geht einher mit der Falschdarstellung, die Bahnbeschäftigten erhielten unverdient hohe Löhne. So wird dort und anderswo regelmäßig behauptet, der "Durchschnittslohn" von Bahnbeschäftigten liege bei monatlich 3.000 Euro netto.

Dabei handelt es sich jedoch nur um ein mathematisches Mittel zwischen (weit verbreiteten) tiefen Löhnen und (einigen relativ wenigen) hohen Gehältern - französisch salaire moyen - und nicht um einen Durchschnittswert, welcher unter Gewichtung der jeweiligen zahlenmäßigen Bedeutung jeder Lohngruppe errechnet würde (französisch salaire médian).

Real verdienen rund 60 Prozent der Bahnbeschäftigten unter 1.600 Euro monatlich netto (im französischen Sinne, d.h. nach Abzug von Sozialbeiträgen jedoch vor Steuern, da in Frankreich bisher keine Quellenbesteuerung der Einkommen stattfand - was sich allerdings 2019 ändern soll).

Zwei Tage Streik, fünf Tage Wiederaufnahme des Verkehrs

Ein Teil der am Streik Beteiligten zweifelt allerdings an der Strategie der Gewerkschaften. Vier von ihnen sind bei der Bahngesellschaft als représentatifs (entspricht im Deutschen ungefähr: "tariffähig") anerkannt.

Die Mehrheit unter ihnen, konkret die CGT, CFDT und UNSA, wählte in der diesjährigen Auseinandersetzung eine Strategie, die einen festgezurrten Arbeitskampfkalender vom 03. April bis Ende Juni dieses Jahres vorsieht - jedoch gegen die Auffassung der linksalternativen Basisgewerkschaft SUD Rail, die ebenfalls zu den vier anerkannten Branchenverbänden zählt.

Dabei wechseln sich je zwei Streiktage mit je fünf Tagen Wiederaufnahme des Verkehrs hintereinander ab. In der Vergangenheit waren Bahnstreiks eher mit einem unbefristeten Aufruf zur Einstellung der Arbeit verbunden, und der Verkehr wurde wieder aufgenommen, wenn die Regierung nachgab - oder wenn eine Niederlage feststand. Einen solchen, ohne Befristung begonnenen Streik hätte hingegen SUD Rail (unterstützt durch einen Teil der CGT) favorisiert. Dazu kam es bislang jedoch nicht.

Die Fahrgäste

Durch die diesjährige Taktik glauben die Mehrheitsgewerkschaften, Rücksicht auf die öffentliche Meinung zu nehmen - die gegen den Streik zu kippen droht - und die Fahrgäste relativ zu schonen. Ob das nicht nach hinten losgeht? Der Kalender mit 36 bereits geplanten Streiktagen wirkt lang.

In den dominierenden Medien, öffentlich-rechtlichen wie privaten, bläst den Streikenden trotz allem der Wind ins Gesicht: Dort wird gebetsmühlenartig das Leid der Fahrgäste beschworen. Das war zwar auch bei früheren Streiks der Fall, verfing damals jedoch nicht.

Doch die Gewerkschaften sind schwächer als etwa beim "historischen" Bahnstreik 1995, die Entsolidarisierung wuchs auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Streikteilnehmer berichten ferner, früher hätten Vollversammlungen von Streikenden alle 24 Stunden über Fortführung oder Einstellung des Streiks entschieden.

Nun, wo der Kalender durch die Gewerkschaftsführungen "von oben" festgelegt worden sei, bleibe diese Dynamik aber aus. Die aktive Beteiligung an der Basis sei deswegen kleiner geworden, die Versammlungen seien geschrumpft.

Übrigens: Es gibt eine manifeste Solidarität, auch wenn die öffentliche Meinung insgesamt den Bahnstreik laut Umfragen (deren Aussagekraft jedoch umstritten) nur zu rund 40 Prozent unterstützt, schwächer als bei zurückliegenden Streiks wie dem "historischen" von 1995.

Auf Aufruf von prominenten Intellektuellen hin wurde eine Spendensammlung begonnen, um Gelder in spontan eingerichtete Solidaritätskassen einzubezahlen. Dabei kamen bis Anfang Mai bereits über eine Million Euro zusammen.

Bei rund 50.000 Bahnbeschäftigten, die sich zumindest in Teilen am Streik beteiligt hätten - die SNCF beschäftigt derzeit rund 150.000 Personen, wobei ein Prozess der Auslagerung von Filialen seit Jahren begonnen hat -, macht dies etwa zwanzig Euro pro Person aus.

Der Protest der Studierenden

Rund fünfzehn von insgesamt siebzig Universitäten in Frankreich sind seit Ende März/Anfang April mit Vorlesungsboykotten, Blockaden und zum Teil protestbedingten Prüfungsverschiebungen konfrontiert.

Worum geht es dabei? Ein Gesetz unter dem Kürzel ORE (Abkürzung für "Orientierung und Erfolg der Studierenden", orientation et réussite des étudiants), beschränkt ab dem kommenden Herbst den Hochschulzugang. Es wurde, nachdem es im Februar 2018 durch beide Parlamentskammern verabschiedet worden war, am 08. März dieses Jahres von Staatspräsident Emmanuel Macron unterzeichnet und ist damit in Kraft.

Allerdings findet es derzeit noch keine Anwendung, da keine Auswahl beim Hochschulzugang im bereits laufenden Schuljahr (2017/18) mehr stattfindet. Ab dem Frühsommer 2018, wenn die Auswahl-Vorverfahren und -Verfahren beginnen, wird der durch dieses Gesetz vorgesehene Auswahlmechanismus über die Internetplattform Parcoursup (abgekürzt für "Hochschullaufbahn", parcours d’enseignement supérieur) dann greifen.

Streit über die Zugangskriterien

Zunächst führten ihn derzeit einige Fachschaften auf freiwilliger Basis ein. Andere boykottieren die Einführung und bewerten etwa alle Kandidaten mit exakt derselben Punktzahl. Über die Zuteilung von Studienplätzen sollen dabei Algorithmen entscheiden.

Angeblich ganz objektiv nach Eignungsvoraussetzungen. Noten sollen nicht mehr genügen. In eine Datenbank eingespeist werden sollen so erkennbare subjektive Elemente wie "die Bewertung (von Abiturientinnen) durch den Schuldirektor und den Klassenlehrer".

Kritiker halten das Ganze eher für eine Art Lotterie. Man muss dazu sagen, dass im laufenden Studienjahr vor dem Hintergrund einer zu knappen Zahl bereitgestellter Studienplätze tatsächlich buchstäblich ein Losverfahren durchgeführt wurde.

Die neue "Reform" wird in der Öffentlichkeit just damit verkauft, dass dem unwürdigen Losverfahren nun durch eine vorgeblich objektive Kriterien gehorchende Prozedur ein Ende bereitet worden sei. Auf diesem Argument reitet die amtierende Hochschulminister Frédérique Vidal immer gerne herum, um ihr Projekt propagandistisch zu rechtfertigen.

Neben Regierung, Universitätsleitungen und Polizei haben die protestierenden Studierenden jedoch vielerorts einen zusätzlichen, entschlossenen Feind gefunden. Am 22. März fand eine gewalttätige Attacke auf einen besetzten Hörsaal in Montpellier statt.

Identitäre gegen Linke

Am 24. März wiederholten sich vergleichbare Ereignissen in Lille, am 28. März im ostfranzösischen Strasbourg. In der Nacht vom 5. zum 6. April wurde ein Angriff auf die besetzte Fakultät von Tolbiac in Paris - einem ausgelagerten sozialwissenschaftlichen Fachbereich der Sorbonne - versucht, jedoch erfolgreich abgewehrt. Am 12. April wurde ein weiterer Versuch an einer ausgelagerten Fachschaft der Universität Paris-IV an der Porte de Clignancourt verzeichnet.

Das Vorgehen besteht meist darin, dass zehn bis zwanzig teilweise vermummte, mit Knüppeln oder Baseballschlägern, mitunter auch mit Elektroschockern ausgestattete Angreifer gegen einige Dutzend, von ihnen als "Linke" identifizierte", Besetzer oder streikende Studierende losgehen.

Als Urheber konnten mehrere, oft gemeinschaftlich agierende Kräfte identifiziert werden. Zu ihnen zählen Gruppierungen aus der "identitären" Bewegung. In Lille wurden Aktivisten der Jugendorganisation Génération identitaire unter den Angreifern identifiziert.

In Montpellier wurde ein Hochschullehrer unter den gewalttätigen Jungmännern ausgemacht. Es handelt sich um den Rechtshistoriker Jean-Luc Coronel de Boissezon. Letzterer verkehrte in rechtskonservativen Kreisen, taucht jedoch auch auf einem Foto von einer Demonstration der Ligue du Midi ("Liga des Südens") von vor zwei Jahren auf. Diese Gruppierung zählt zu den Identitären.

Auch die aus dem monarchistischen Nationalismus kommenden, den antisemitisch-royalistischen Schriftsteller Charles Maurras (verstorben 1952) verehrende Action française (AF) zählt zu dem militanten Bündnis. Ihr Sprecher Antoine Berth bekennt sich in Le Monde vom 10. April lautstark zur Beteiligung seiner Organisation an universitären "Anti-Blockade-Aktionen" gegen linke Versuche, den Lehrbetrieb zu bestreiken.

Nicht zuletzt sind auch die Reste oder Nachfolger der 1969 gegründeten, seit Ende der neunziger Jahre jedoch marginalisierten, gewalttätigen Studierendenorganisation GUD (Groupe Union Défense) an den Attacken beteiligt.

Dadurch dass - auch vor dem Hintergrund verbreiteter ökonomischer und beruflicher Zukunftsangst - doch ein relevanter Prozentsatz an Studierenden gegen die Möglichkeit Stellung bezieht, der Protest könnte Prüfungsphasen "gefährden", fühlen die Rechtsextremen sich in diesem Jahr stärker als bei früheren Hochschulprotesten von einem günstigen Umfeld umgeben und dadurch ermutigt.

Aufflammen der Protestbewegung

Die erzwungene Auseinandersetzung mit den gewalttätigen Faschisten verlieh den, seit Januar/Februar dieses Jahres zunächst ziemlich schleppend anlaufenden Studierendenprotesten zunächst neue Nahrung und führte Ende März zu einem Aufflammen der Protestbewegung. Die Studierendenschaft in Lille rief damals etwa, infolge der ersten Prügelattacke in Montpellier, zum frankreichweiten Streik und zu einer Zentraldemonstration in Montpellier auf.

Obwohl seit der zweiten Aprilhälfte nun an vielen Universitäten die Abschlussprüfungen begonnen haben, wurde der Betrieb und auch der Prüfungsablauf nun mancherorts blockiert. Am spektakulärsten war die Blockade der von der Universität Nanterre ausgelagerten Abschlussprüfungen am "Nationalen Examensstandort" in Arcueil-Cachan südlich von Paris.

Doch die Universitätsleitungen versuchen die Hindernisse zu umgehen, etwa indem nun an der Hochschule Nanterre individualisierte Prüfungen online abgelegt werden.

Generell läuft die soziale Protestbewegung derzeit allgemein Gefahr, auf zwei Klippen (oder eine von beiden) aufzulaufen, da die Streikbewegung als ihr zentraler Bestandteil derzeit nicht so durchschlagende Ergebnisse erzielt, dass das Land oder auch nur der Transportsektor dadurch komplett lahmgelegt würde.

Auf der einen Seite steht das Abdriften in eine politisch zunehmend unkontrollierte Kleingruppengewalt, die auch eine Reihe erlebnisdurstiger Heranwachsender, Adrenalinsteigerungen suchender "anpolitisierter Protest-Hooligans" und politischer Abenteurer vom Schlage "Insurrektionalisten" anzieht.

Kleingruppengewalt von politischen Abenteurern

Am 1. Mai dieses Jahres wurde dies auf der Pariser Demonstration zum internationalen Arbeitertag deutlicher denn je. Zwar hätte man zunächst als Erfolg verbuchen können, dass der sich vor die Gewerkschaftsvorstände und ihren offiziellen Spitzenblock setzende Demo-Teil - seit Frühjahr 2016 offiziell als cortège de tête (Demoblock am Kopf) bezeichnet - größer denn je ausfiel.

Die Polizeipräfektur schätzte ihn offiziell auf 14.500 Personen an jenem Tag, und die dahinter laufende Gewerkschaftsdemo auf 20.000. (Die CGT sprach für letztere von 55.000, was ziemlich übertrieben schien.)

Das ist zwar insofern grundsätzlich positiv, als viele Menschen, die der Kontrolle durch etablierte politische und gewerkschaftliche Apparate zu entgehen versuchen, unter ihnen auch viele empörte oder sich radikalisierende junge Gewerkschafter/innen, ebenfalls in diesen "Spitzenblöcken" laufen.

Doch die Schattenseite zeigte sich ebenfalls sehr schnell, denn in den Reihen dieser Demo vor der Demo (in welche der gewerkschaftliche Ordnerdienst nicht hinreicht, zum Guten wie zum Schlechten) agierten vermummte und behelmte Kleingruppen, und dies keineswegs nur zum Guten. Deren Anzahl wiederum wurde durch die Polizeipräfektur schnell auf "1.200" beziffert.

Entkoppelte Gewalt

Die weitgehend von politisch definierten Zielsetzungen entkoppelte Gewalt, einmal entfesselt, richtete sich auf Bau- und Personenkraftzeuge, die in Brand gesteckt wurden; aber auch ein McDonalds-Restaurant in der Nähe des Austerlitz-Bahnhofs wurde angezündet.

Die Gewalt zeigte dabei ihre, pardon - aber nennen wir die Dinge beim Namen - asoziale Seite, denn darüber liegen Wohnungen, um die die Akteure sich offensichtlich unbekümmert zeigten. Die Gewalt ging an jenem Tag tatsächlich nicht zuerst von der Polizei aus.

Diese wartete vielmehr zunächst 45 Minuten lang in Ruhe ab, bis die - für gesamtgesellschaftliche Legitimation des Polizeieinsatzes günstigen - Fernsehbilder produziert waren, und griff erst danach ein. Dies sorgte für einige Polemiken und Unterstellungen, wonach etwa Provokateure aktiv gewesen sein sollen oder auch - wie der Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon behauptete, bevor er es öffentlich zurücknahm -, dass "rechtsextreme Banden" marodiert hätten und nicht Demo-Teilnehmer. Die Wirklichkeit war jedoch eine andere.

Inzwischen gibt es auch aus dem linksradikal-antiautoritären Lager eine dezidierte, scharfe Selbstkritik an dem Vorgehen von Kleingruppen an diesem 1. Mai, das als "autoritär" gegenüber den übrigen Protestierenden und Demo-Teilnehmern charakterisiert und mit dem Agieren von Hooligans verglichen wird.

Wahllose Verhaftungen

Nachdem sie eine Weile lang - von Seiten der politischen Einsatzleitung: taktisch motiviert - abwartete und zusah, griff die Polizei dann doch noch ein, umkesselte rund 200 Menschen und nahm rund 150 fest. Angeblich, so verlautbarte die Polizeipräfektur zunächst, handele es sich dabei um den "harten Kern".

In Wirklichkeit wurden, man ist versucht zu schreiben: "natürlich", nicht die unmittelbaren Urheber von tatsächlich problematischen Aktionen festgenommen, sondern vielmehr wahllos alle, die sich zur falschen Zeit in der falschen Zone befanden.

Zu ihnen zählten auch "gewaltferne" Menschen, die einfach der Demonstration von ihrem Ankunftsort her entgegenlaufen wollten, um sich unterwegs irgendwo einzureihen. Prozesse in diesem Zusammenhang haben bereits begonnen, die ersten drei endeten jedoch mit Freisprüchen respektive einer Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro. Ende Mai und Anfang Juni dieses Jahres folgt nun die nächste Welle von Prozessen in diesem Zusammenhang.

Die (links-)sozialdemokratische Vereinnahmung

Die zweite Klippe ist jene der (links-)sozialdemokratischen Vereinnahmung. Vor allem, nachdem sich die linkssozialistische und in Teilen linksnationale Wahlplattform La France insoumise (abgekürzt LFI oder FI; ungefähr: "Das aufsässige Frankreich") von Jean-Luc Mélenchon im Zusammenhang mit der sehr erfolgreichen Demonstration vom Samstag, den 05. Mai, auf Profilsuche exponierte.

Diese fête à Macron (doppeldeutig; ungefähr übersetzt: "eine Party für Macron", aber eben auch: "Emmanuel Macron kann was erleben!") war ursprünglich durch ein Initiativentreffen am Abend des 4. April im Pariser Gewerkschaftshaus anberaumt worden.

Doch an jenem Samstag war die Wahlpartei LFI äußerst sichtbar präsent und verteilte Pappschilder mit Slogans und Sprüchen, die durch Teile des Publikums dankbar aufgegriffen und zur Demonstration mitgenommen wurden.

Dies erweckte den Eindruck, die Wahlplattform LFI sei in der Demonstration omnipräsent, was jedoch so nicht zutraf: Diese war heterogen zusammengesetzt, wobei jedoch die organisierte gewerkschaftliche Komponente relativ schwach ausfiel.

Der Protestzug zeigte durchaus einen Erfolg: Die Beteiligung dürfte laut Beobachtungen des Verfassers dieser Zeilen, an dem die Demonstration - an einer breiten Stelle - 120 Minuten lang vorbeizog, bei rund 60.000 bis 70.000 gelegen haben. Insgesamt war der Aufzug von guter Stimmung und viel fantasievollen Darbietungen gekennzeichnet.

Doch für böses Blut sorgte, dass die Führungsriege von LFI auf einem Bus neben den laufenden Demonstrationsteilnehmern herfuhr und Parteiboss Jean-Luc Mélenchon von dessen Empore herab die Teilnehmer mit Reden zudeckte. Dies generierte heftige Kritik - man mache nicht eine "Party", um einem modernen König einzuheizen, damit sich ein anderer wie ein Monarch aufführe, hieß es etwa.

Ein in der Linken zirkulierender Text dazu trug die Überschrift: "Steigt von Eurem Bus herunter!".

Auch waren Spannungen zwischen Mélenchon einerseits und François Ruffin andererseits bereits vor Ort zu verzeichnen. Letzterer ist einerseits selbst Abgeordneter für LFI in der Nationalversammlung, zählte andererseits jedoch zu den überwiegend aus Basisbewegungen kommenden Initiatoren der Demonstration. Dies wurde von bürgerlichen Medien begierig aufgegriffen.

Nur wenn die Protestbewegung sich weder in die partei- und staatsfromme Basis einer neuen Sozialdemokratie (unter Mélenchon) verwandelt noch in Abenteurertum und Kleingruppengewalt im Zeichen einer vermeintlichen "Radikalisierung" verfällt, wird sie auf Dauer Erfolg haben können.