Frankreich im Niedergang: Innenminister erklärt Rechtsstaat für obsolet

Bruno Retailleau. Bild: Victor Velter/ Shutterstock.com

Frankreichs neue Regierung setzt auf harte Ausländerpolitik. Rechtsextreme werden umworben. Innenminister stellt Rechtsstaat in Frage. Wohin führt dieser Kurs?

Noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen: Die französische Nationalversammlung hat am Dienstag den Misstrauensantrag der Linksopposition, eingebracht von der sozialdemokratisch ausgerichteten Sozialistischen Partei (PS), mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. 197 Abgeordnete stimmten ihm zu, 289 hätten es sein müssen, damit es durchgeht.

Daran hatte es kaum Zweifel gegeben, da die Oppositionsparteien auf der Rechten – die von den Konservativen abgespaltene Union des droites pour la République (UDR) und dem rechtsautoritären Rassemblement national (RN) –, aber auch in der Mitte in Gestalt der aus Bürgerlichen und "Übersee"-Abgeordneten bestehenden Fraktion LIOT im Vorfeld ihre Ablehnung angekündigt hatten.

Die Macht von Marine Le Pen

Entscheidend war letztlich die Haltung der RN als zahlenmäßig stärkste Oppositionsfraktion. Hätte diese Partei unter ihrer Fraktionsvorsitzenden Marine Le Pen der neuen Regierung von Michel Barnier das Misstrauen ausgesprochen, wäre sie jetzt nicht mehr im Amt.

Die Linkspartei versucht ihrerseits, diese Situation zu nutzen, um zu zeigen, dass die Rechtsaußen und Rechtsextremen in Wirklichkeit gar keine Opposition gegen eine Politik des regierenden Kabinetts sind, die die Bessergestellten begünstigt.

Vor diesem Hintergrund bezeichnete PS-Chef Olivier Faure die Regierung aus wirtschaftsliberalen Macron-Anhängern und Konservativen, vorwiegend der Partei Les Républicains (LR), als "Geisel der extremen Rechten".

Allerdings toleriert Le Pens Partei das Kabinett, ohne selbst zu regieren, was ihr eine komfortable Ausgangsposition verschafft, um Druck auszuüben und sich positiv zu profilieren, ohne die Regierung am Regieren zu hindern.

Geschehen ist das bei einer der ersten Amtshandlungen des neuen Kabinetts: der Verschiebung der bereits angekündigten Rentenerhöhung um ein halbes Jahr auf das kommende Jahr.

Einsparungen bei Renten: Es zeigt sich ein Muster

Offiziell wurde die Maßnahme, die 1,8 Milliarden Euro einsparen soll, damit begründet, dass einer Studie zufolge die soziale Lage der Rentner im Durchschnitt besser sei als die der abhängig Beschäftigten.

Nur musste diese Darstellung inzwischen als falsch korrigiert werden: Rentner haben insgesamt weniger und nicht mehr Geld zur Verfügung als Erwerbstätige oder wirtschaftlich Aktive.

Mehrere Oppositionsparteien haben seit letzter Woche gefordert, diese Einsparung zulasten der Rentner rückgängig zu machen, konnten sich damit aber nicht durchsetzen.

Die Reaktion von Premierminister Michel Barnier ließ jedoch ein Muster erkennen, das die Regierenden und Bessergestellten zeitnah öfter anwenden dürften.

Marine Le Pen von der extremen Rechten, Politiker aus den Reihen der halb mitregierenden, halb oppositionellen Konservativen sowie alle Parteien des Linksbündnisses Nouveau Front Populaire (NFP) hatten Barnier gleichzeitig aufgefordert, von dem Plan Abstand zu nehmen.

Premierminister Barnier zitierte jedoch ausschließlich Marine Le Pen vom RN, als er am Freitag mit den Worten reagierte, er habe die Botschaft "von Frau Le Pen" sehr wohl vernommen und biete ihr an, darüber zu diskutieren, ob es alternative Einsparpotenziale gebe. (Diese sieht der RN immer, und zwar systematisch bei den Sozialausgaben, die angeblich "hauptsächlich Ausländern zugutekommen").

Abgeordnete der Linksparteien wie Antoine Léaument von der Wahlplattform LFI (Das unbeugsame Frankreich) mussten in den folgenden Stunden in TV-Talkshows energisch darauf hinweisen, dass dies doch ihre eigenen Abgeordneten gefordert hätten und nicht nur die "Neofaschisten".

Extreme Rechte hat Grund zum Jubel

Die Majestätsbeleidigung der Opposition kann sich also sehen lassen. Aber auch die extreme Rechte hat Grund zum Jubeln.

Einerseits werden ihre Thesen – auch die härtesten, die sie offiziell vorbringen kann, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten – gerade von Regierungsseite gewissermaßen amtlich bestätigt.

Andererseits gibt das Kabinett Marine Le Pen die bequeme Gelegenheit, sich als moderat darzustellen.

Und so laufen die Tanzschritte in dieser beeindruckenden Choreografie ab.

"Mutige Worte": Grundrechte zur Disposition stellen

Der erklärte Gegner zumindest einiger Aspekte des Rechtsstaates ist amtierender Innenminister und damit oberster Polizeichef des Landes: Sein Name ist Bruno Retailleau. Sein Chef, Premierminister Michel Barnier, steht unter Druck von rechts und das zeigt sich exemplarisch in der Wahl seines Innenministers.

Retailleau spricht von der sogenannten Ausländerpolitik, einem Themenfeld, in dem auch relevante Teile der Bevölkerung gerne bereit sind, Grundrechte und Verfahrensgarantien zur Disposition zu stellen.

Die Art und Weise, wie er dies tut, schockiert selbst einen ausgewiesenen Kenner der Materie in Frankreich, der seit Jahren mit den Notwendigkeiten der Terrorismusbekämpfung und damit oft auch mit den realen Belastungen rechtsstaatlicher Normen konfrontiert ist, die in diesem Bereich mitunter hart auf die Probe gestellt werden:

Ich habe Schwierigkeiten, zu verstehen, wie man solche Reden schwingen kann. (…) Der Rechtstaat ist notwendiger Bestandteil der Demokratie, weil er ein Instrument zur Eingrenzung der Staatsgewalt darstellt, um die Ausübung der Grundrechte zu ermöglichen. Natürlich sind diese Äußerungen beunruhigend.

François Molins, Regionalfernsehsender France bleu Loire Océan

Der 71-jährige Molins war von 2011 bis 2018 Generalstaatsanwalt in Paris und ermittelte in dieser Funktion zu den dschihadistischen Anschlägen von Mohamed Merah im Frühjahr 2012, auf Charlie Hebdo und den Konzertsaal Bataclan 2015 sowie in Nizza 2016 – damals war die Pariser Staatsanwaltschaft noch frankreichweit für terroristische Straftaten zuständig, wofür inzwischen eine eigenständige Behörde geschaffen wurde. Anschließend war Molins bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2023 Generalstaatsanwalt am Kassationsgerichtshof, dem obersten Gericht in Straf- und Zivilsachen.

Er reagierte damit direkt auf Äußerungen des seit dem 23. September amtierenden Innenministers. Retailleau hatte fünf Tage nach seinem Amtsantritt in der inzwischen deutlich von der extremen Rechten kontrollierten Sonntagszeitung JDD erklärt:

Der Rechtstaat ist weder unantastbar noch heilig. (…) Aber die Quelle des Rechtsstaates, das ist die Demokratie, das souveräne Volk.

Bruno Retailleau

Was er damit meinte, war unmittelbar, dass man sich nicht zu lange mit Verfahrensfragen aufhalten dürfe, wenn der Volkswille weniger Ausländer im Land wolle.

Auch ein Referendum, also eine Volksabstimmung über genau diese Frage, hält der Minister für wünschenswert und greift damit eine traditionelle Kernforderung der extremen Rechte in Frankreich auf.

Inzwischen haben 170 Abgeordnete und vor allem Senatoren der seit Kurzem mitregierenden konservativen Partei Les Républicains (LR) diese jüngsten Äußerungen in einem gemeinsamen Gastbeitrag für die Tageszeitung Le Figaro unterstützt.

Im Senat, dem parlamentarischen "Oberhaus", ist die LR derzeit deutlich stärker vertreten als in der Nationalversammlung. Retailleau war bis zu seiner kürzlichen Ernennung zum Minister Vorsitzender der Senatsfraktion der Rechtspartei.

Historisch kommt er allerdings nicht aus den Reihen der LR oder ihrer Vorgängerpartei, der 2002 gegründeten UMP von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy, der Bruno Retailleau erst 2012 beitrat, sondern aus einer weiter rechts stehenden Kleinpartei: dem Mouvement pour la France (MPF, "Bewegung für Frankreich") des rechtskatholischen Grafen Philippe de Villiers.

Dieser versuchte seit Anfang der 1990er Jahre eine Scharnierposition zwischen Konservativen und Rechtsextremen einzunehmen. Im Wahlkampf 2021/22 war de Villiers einer der wichtigsten Berater des neofaschistischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour.

Auch der Parlamentskandidat des rechtsextremen Rassemblement National (RN) im Frühjahr, der Rechtsanwalt Pierre Gentillet, lobte vergangene Woche in der Sonntagszeitung JDD die "mutigen Worte" des Ministers und kommentierte sie mit einem Wortspiel: Heute gebe es keinen Rechtsstaat ¬– Etat de droit – mehr, sondern nur noch einen "Haufen Recht" – tas de droit.

Sarah Knafo, Europaabgeordnete der inzwischen zusammengeschrumpften Partei Reconquête von Éric Zemmour und seiner Lebensgefährtin, erklärte ihrerseits gegenüber dem ihrer Strömung nahestehenden Privatsender CNews:

Er (Retailleau) hat uns glücklich gemacht.

Der letzte Schritt: Auftritt Marine Le Pen

Den letzten Schritt machte dann Marine Le Pen: Um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, sie selbst sei doch ganz gemäßigt, warf sie im Laufe des vergangenen Wochenendes ein, der Rechtsstaat sei doch sehr wichtig und müsse respektiert werden.

Damit profilierte sie sich am vergangenen Sonntag bei einer Veranstaltung in Nizza. Zwar sind ihre eigenen öffentlichen Positionen in der Sache in vielen Bereichen noch radikaler als die des amtierenden Innenministers. Aber der PR-Coup ist gelungen.