Frankreichs Demokratie-Farce: Links gewählt, rechts regiert
Rechtsruck bei den Nachbarn. Le Pen gewinnt an Einfluss. Anders als die AfD in Deutschland wird Rechtsaußen hofiert, beobachtet unser Autor in Paris.
In mehreren (ost)deutschen Bundesländern versuchen sich politische Parteien derzeit an einer schwierigen Mehrheitsbildung, von der CDU bis zur Linkspartei oder jedenfalls dem BSW. Geht es doch dabei darum, eine parlamentarische Sitzmehrheit ohne eine erheblich erstarke extreme Rechte hinzubekommen.
In Frankreich versuchen sich Wirtschaftsliberale und Konservative hingegen derzeit am Umgekehrten: einer, ebenfalls schwierigen, Mehrheitsbildung unter Einschluss einer noch stärkeren extremen Rechten.
Klare Ansagen Richtung Le Pens Partei
So jung, so hoch befördert – und sofort kam der Rüffel vom Chef hinterher: "Noch einen von der Sorte, und Du fliegst!"
So blaffte laut Zeugenberichten in den Medien Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier, dessen Regierung am vorigen Samstagabend vorgestellt wurde, Antoine Armand an. Was hatte sich der 33 Jahre junge Amtsinhaber auf einem verantwortungsvollen Posten, dem des französischen Wirtschaftsministers, zuschulden kommen lassen?
Dies: Der Macron-Anhänger Armand, seit Montag dieser Woche Minister für Wirtschaft und Finanzen, hatte erklärt, er werde mit allen Parteien einschließlich den Linksparteien sprechen; aber der rechtsextreme Rassemblement national (RN) zähle nicht zum "Bogen" (arc) der Parteien, die demokratische Grundwerte teilten.
"Kamikazeflieger" in der Regierung
Nicht alle goutierten Antoine Armands Ausspruch. Als einer der Ersten reagierte der frühere Polizeigewerkschafter Matthieu Valet – der 38jährige im Rang eines Kommissars wurde im Juni dieses Jahres für die französische extreme Rechte zum Europaparlamentarier gewählt. Davor wie danach, in seiner alten wie in seiner neuen Funktion, ist er auf mehreren Fernsehkanälen als Interview- oder Talkshow-Gast höchst präsent.
Am Dienstag früh bezeichnete er Armand als "Kamikazeflieger", also als Selbstmordkandidaten, welcher seinen Worten zufolge nicht nur das eigene, sondern "das Überleben der Regierung" aufs Spiel setze.
Benötigt diese doch, wenn nicht die Zustimmung, dann zumindest das Stillhalten des RN im Parlament, will sie ohne und gegen die Linksparteien bestehen.
Noch im Laufe des Tages rief Premier Michel Barnier persönlich bei der Fraktionsvorsitzenden der extremen Rechten in der Nationalversammlung, Marine Le Pen, an und überbrachte ihr quasi seine Entschuldigung.
Dazu erklärte er, "alle politischen Kräfte" müssten "respektiert" werden. Konkret bedeutete dies: vor allem der Rassemblement national. Zwischenfall vorläufig beendet.
Regierung abhängig von extremen Rechten
Die Episode belegt vor allem, wie stark sich das derzeitige Regierungslager, das aus einer heterogenen Assemblage aus wirtschaftsliberalen Macron-Anhänger/inne/n, Konservativen von der ungefähr mit einer ideologisch radikalisierten deutschen CDU-CSU vergleichbaren Partei Les Républicains (LR) und Repräsentanten bürgerlicher Splitterparteien besteht, von der extremen Rechten abhängig gemacht hat.
In den Worten von Thomas Legrand, eines der Starjournalisten der linken Mitte, zuvörderst, "um die Rentenreform (von 2023, Einf. d. A.) und seine auf die Stärkung der Unternehmen gerichtete Sozialpolitik zu retten". Hätten doch die Linksparteien im Falle ihres Regierungseintritt daran unbefugt herumschrauben können.
Noch einmal sei der Film kurz von vorne aufgerollt: Die Französinnen und Franzosen stimmten im Juni und Juli dieses Jahres gegen die Politik von Emmanuel Macron. Dies war vor allem im ersten Wahlgang der diesjährigen Parlamentswahlen, am 30. Juni, markant. Im zweiten Durchgang am 07.07. stimmten die Französinnen und Franzosen mehrheitlich, um den rechtsextremen RN am Durchmarsch zum Regieren zu hindern.
Dabei nahmen es linke Wählerinnen und Wähler auch in Kauf, Wirtschaftsliberale zu wählen, um Rechtsextreme zu verhindern; zum Teil auch umgekehrt, wenngleich in geringerem Ausmaß.
Eine Mischung aus all dem, was verhindert werden sollte
Im Endergebnis wurde das Bündnis der Linksparteien zur stärksten parlamentarischen Kraft, wenn auch nur mit einer relativen Mehrheit von 32 Prozent der Sitze; die Liberalen wurden zur zweitstärksten Kraft, die Rechtsextremen unerwartet und dank eines spontanen antifaschistischen Reflexes nur zur drittstärksten.
Noch dahinter schnitten die Konservativen ab, mit 5,7 Prozent für ihre zentrale Partei (Les Républicains, LR) und ein paar Zerquetschten für ihre Verbündeten von kleineren bürgerlichen Parteien, insgesamt rund sieben Prozent.
Und was gibt es nun zum Dank? Eine Mischung aus all dem, was verhindert werden sollte. Ein Drittel Konservative mit betont reaktionärer Ausrichtung, eine Hälfte Wirtschaftsliberale und einen tüchtigen Schuss Rechtsextreme.
Letztere regieren zwar nicht mit, von ihrer Tolerierung dürfte aber kurz- und, falls diese nicht vorzeitig stürzt, mittelfristig das Überleben dieser Regierung abhängen. Links durfte bekanntlich nicht zum Zuge kommen.
Die neue Regierung zählt neunzehn Vollminister/innen und neunzehn Staatssekretariate; von diesen 38 Posten besetzen die Macron unterstützenden Parteien insgesamt zwölf. Die konservative Partei, die größte Wahlverliererin mit unter sieben Prozent der Stimmen (und unter fünf bei der Präsidentschaftswahl 2022), besetzt ihrer zehn.
Der starke rechte Mann: Innenminister Bruno Retailleau
Das "einzige politische Schwergewicht" laut den Worten des TV-Journalisten und Polit-Analysten Bruno Jeudy ist dabei der vom rechten Flügel der Konservativen kommende künftige Innenminister (und bisherige Vorsitzende der Senatsfraktion von LR), Bruno Retailleau.
Er wird das politische Profil der Regierung in den, für Teile der seit Jahr und Tag zu diesen Themen aufgeheizten und -hetzten öffentlichen Meinung wichtigen, Fragen der "Inneren Sicherheit" sowie der Einwanderung maßgeblich prägen.
Bei seiner Amtseinführung am Montag früh betonte er, er stehe "für eine Rückkehr zur Ordnung: Ordnung auf den Straßen und Ordnung an den Grenzen." Diese Worte hatten irgendwie einen Klang wie Bellen.
Politische Herkunft
Bruno Retailleau kommt ursprünglich nicht einmal aus der UMP – der unmittelbaren Vorläuferpartei, zwischen 2002 und 2015, der jetzigen konservativen Hauptpartei Les Républicains –, sondern aus einer rechten Splitterpartei unter dem Namen Mouvement pour la France (MPF).
Es handelte sich um die Kleinpartei des rechtskatholischen Vicomte (Grafen) Philippe de Villiers, der sich in den frühen Neunzigerjahren von der rechtsliberalen Sammelpartei UDF abspaltete und erstmals bei der Präsidentschaftswahl vom April 1995 mit 4,74 Prozent der abgegebenen Stimmen einen Achtungserfolg erzielte.
Der MPF versuchte eine Scharnierfunktion zwischen der konservativen und der extremen Rechten, bei jener Wahl 1995 verkörpert durch Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen, einzunehmen.
In seinen Reihen war unter anderem der damalige Bürgermeister der Pariser Vorstadt Montfermeil, ein gewisser Pierre Bernard (Jahrgang 1934, lebt noch), aktiv. Auf ihn wurde die breitere Öffentlichkeit aufmerksam, als er am 25. Juli 1996 persönlich an der Beerdigung des Anführers der Miliz unter dem Vichy-Regime (1940 bis 44), Paul Touvier, teilnahm. Touvier starb, nach einer Verurteilung wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", in Haft.
Dass der MPF-Parteigründer Philippe de Villiers selbst mit mindestens einem Bein bereits der extremen Rechten angehörte, bestätigte sich später auf absolut unzweideutige Weise, denn er gehörte 2022 dem Wahlkampfstab des explizit rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour an.
Der frühere Journalist Zemmour griff damals und auch später regelmäßig Marine Le Pen für ihre ideologische "Aufweichung" und mangelnde ideologische Konsequenz an. Jüngst bezeichnete er den RN sogar als "sozialistisch".
Positionierungen: Migranten, Abtreibung, Homosexualität
Von Retailleau selbst stammt u.a. der Ausspruch während der urbanen Revolten oder Riots im Juli 2023 infolge des Todes des 17-jährigen Nahel Merzouk in der Pariser Vorstadt Nanterre:
Wir haben es mit Franzosen dem Papier nach zu tun. Aber leider sehen wir, dass Angehörige der zweiten, dritten Generation zu ihren ethnischen Ursprüngen zurücksinken (wörtlich: régresser, deutsch auch: regredieren).
Bruno Retailleau, französischer Innenminister
Dies konnte nur dann Sinn machen, wenn man davon ausgeht, ihre Vorfahren seien von Natur aus gewalttätige Wilde gewesen, zu denen die Reise nun zurückginge – und nicht etwa, die Gewalt in den Vorstädten sei in erster Linie ein Produkt der französischen Gesellschaft.
Retailleau stimmte bei der auch international vielbeachteten Abstimmung vom 08. März 2024 als einer von fünfzig Konservativen gegen die Aufnahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in die französische Verfassung.
Ferner stimmte er auch in der Vergangenheit u.a. gegen das gesetzliche Verbot und die Abschaffung von so genannten Konversionstherapien, d.h. so genannten Therapien, bei denen Angehörige oder von ihnen Beauftragte versuchen, jungen Homosexuellen ihre Homosexualität auszutreiben, was oft einer Form psychischer Folter gleichkommen kann.
Die Lufthoheit der Partei von Marine Le Pen
Der RN seinerseits wird sich die Lufthoheit am Tresen des Café du commerce – das Äquivalent zum deutschen Stammtisch – nicht nehmen lassen wollen. Es könnte also noch zu manchen Überraschungen, vielleicht auch Polemiken kommen.
Ansonsten hat die rechtsextreme Partei schon vor der jüngsten Bildung der Regierung angekündigt, diese "unter demokratische Überwachung" zu stellen. Dies bedeutet, er könnte ihr die Unterstützung im Parlament entziehen, wenn ihre Politik gar zu unpopulär wird. Es fragt sich nur, an welchen Punkten.
Eine erste heftige Auseinandersetzung, die auch das Regierungslager direkt durchzieht, deutet sich bei der Steuerpolitik an. Angesichts der hohen Staatsverschuldung sind auch RN-Konservative gewillt, zeitlich befristete Steuern auf Großvermögen und Sondergewinne von Unternehmen – etwa im Energiesektor – zu erheben, um die Staatsfinanzen zu stabilisieren.
Ex-Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und Ex-Innenminister Gérald Darmanin, beides Macron-Anhänger, die nun von ihren bisherigen Exekutivposten auf die Parlamentsbänke zurückkehrten, nahmen dagegen eine fundamentalistisch vorgetragene Gegenposition ein: keinerlei Steuererhöhungen, keinerlei!
Der RN laviert dazwischen, nahm zunächst ebenfalls eine fundamentale Anti-Steuererhöhungs-Position ein, will jedoch inzwischen bei manchen Sondergewinnen mit sich reden lassen – fordert aber im Ausgleich spürbare Steuersenkungen für die Mittelklassen, um dort Klientel zu gewinnen. Den Regierungskurs abzustecken, wird nicht einfach werden.