Frankreich verlängert Ausnahmezustand um drei Monate

Staatspräsident Jacques Chirac äußerte sich erstmals zu den Unruhen, Sarkozy will Ausländer ausweisen, die sich an der Gewalt beteiligen, und Sozialhilfe kürzen, wenn es sich um Minderjährige handelt

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Trotz einer Abschwächung der Unruhen will die französische Regierung den Ausnahmezustand um drei Monate verlängern. Das Vorhaben passierte am Montag das Kabinett und soll heute von beiden Kammern des Parlaments in Paris beschlossen werden. Ein letzte Woche verhängtes Dekret (Erklärung des Ausnahmezustands als Antwort auf die Unruhen) läuft am 21. November ab, falls das Parlament dem Entwurf nicht zustimmt. Das widerspricht Äußerungen darüber, dass sich die Unruhen dem Ende näherten. Der Innenminister will nun auch mit Ausweisungen von Einwanderern beginnen, während sich das Phänomen auf andere Länder ausbreitet.

Mit 284 abgefackelten Autos und 115 Festgenommenen fiel die Nacht vom Sonntag auf Montag etwas ruhiger aus, als die Nächte zuvor. In der Nacht vom Freitag auf Samstag war noch einmal ein Anstieg auf 502 zu verzeichnen, am Samstag auf Sonntag waren es 374. Trotzdem soll der am 9. November dekretierte Ausnahmezustand heute um drei Monate verlängert werden.

Erstmals kam es auch zu Unruhen im Zentrum einer Großstadt. Am Samstag stießen Jugendliche und die Polizei in der historischen Altstadt von Lyon aufeinander. Daraufhin verhängte der Präfekt im gesamten Département Rhône ein Kundgebungsverbot. Schon zuvor war eine nächtliche Ausgangssperre für Jugendliche unter 16 Jahren in Lyon und Umgebung in Kraft.

"Eine Sinnkrise, eine Orientierungskrise, eine Identitätskrise"

Polizeisprecher zeigen sich aber zuversichtlich, dass bald eine Beruhigung zu erwarten sei. Im Vergleich zur letzten Woche sprach der Pariser Polizeichef Pierre Mutz von einem „fast normalen Wochenende“. Der Chef der Nationalpolizei Michel Gaudin erklärte am Sonntag: „Die Lage dürfte sich bald normalisieren.“

Im Gegenteil dazu stehen die Handlungen der Regierung. Abgesehen von schönen Worten, setzt die Regierung auf Repression, um die Lage in den Griff zu bekommen. Daran ändert auch nichts, wenn der Staatspräsident Jacques Chirac gestern Abend im Fernsehen davon sprach, mit Gewalt könne kein Problem gelöst werden. Chirac war für sein Schweigen heftig kritisiert worden, erst nach fast drei Wochen nahm er direkt zu den Unruhen öffentlich Stellung.

Er sieht in den Vorgängen „eine Sinnkrise, eine Orientierungskrise, eine Identitätskrise". Das französische Integrationsmodell sei nicht gescheitert, sondern es stehe jetzt auf dem Spiel. „Wir bauen nichts Nachhaltiges auf ohne Respekt“, erklärte Chirac. Die „Verschiedenheit“ der Gesellschaft sei eine Stärke der „großen Nation“. Ähnlich phrasenhaft klang sein Aufruf zum Kampf gegen Rassismus, Intoleranz und Diskriminierung.

Gegenüber dem Aufbau einer Freiwilligen-Gruppe, die jungen Menschen bei der Jobsuche helfen soll, fühlen sich geplanten Repressionsmaßnahmen greifbarer an. So bekräftigte der Staatschef auch: „Wir werden mit Festigkeit antworten, gerecht sein und auf die französischen Werte vertrauen.“ In dem Duktus liest sich auch die Presseerklärung, mit der nach der eilends vorgezogenen Kabinettsitzung gestern die Verlängerung des Ausnahmezustands gerechtfertigt wurde: „Die Schwere und die Ausbreitung dieser Gewalt in vielen urbanen Zentren, die sich ohne Unterschied gegen Personen und Sachen richtet, rechtfertigen die Maßnahme.“ Dabei fällt auf, dass sie meist in Gegenden eingesetzt wird, die gar nicht von Unruhen betroffen sind (Frankreich und der Ausnahmezustand). Im Bezirk Alpes-Maritimes (Meeralpen) gibt es die meisten Ausgangssperren, doch hat jemand etwas von brennenden Autos in Nizza oder Cannes gehört?

Niemand glaubt ernsthaft, dass Frankreich in Gefahr ist. Es handelt sich um eine propagandistische Maßnahme, mit der eine angeschlagene Regierung versucht, Handlungsfähigkeit zu beweisen. Weil sie keine Rezepte hat, wie sie mit dem seit Jahrzehnten geschaffenen Problem umgehen soll, setzt sie vor allem auf Repression und schöne Worte. 1968, als Studenten und Arbeiter auf die Barrikaden gingen, wurde kein Ausnahmezustand verhängt. Angesichts der ernsten Lage hatte sich damals aber der Staatspräsident Charles de Gaulle per Hubschrauber nach Baden-Baden abgesetzt, um die Krise aus dem Hauptquartier der französischen Truppen im sicheren Deutschland zu verfolgen. Eingesetzt wurde die Maßnahme bisher nur zweimal und immer wenn es die Franzosen zweiter Klasse betraf. 1961, als sich die Unruhen aus der ehemaligen Kolonie Algerien auf das Mutterland ausbreiteten, später wurde sie 1984 in der so genannten Überseebesitzung Neu-Kaledonien angewandt.

An einer Annahme im Parlament wird wohl auch die heftige Kritik nichts ändern. Der Regierungssprecher Jean-François Copé nahm das Ergebnis der heutigen Debatte vorweg und erklärte, die Maßnahme trete ab dem 21. in Kraft. Die Präfekten können dann weiter Ausgangssperren verhängen, Hausdurchsuchungen können ohne richterlichen Beschluss durchgeführt werden und der Verkauf von Kraftstoffen kann eingeschränkt werden. Bisher wurde davon in etwa 40 Städten Gebrauch gemacht. Copé beeilte sich aber zu erklären, die vollen drei Monate müssten nicht ausgeschöpft werden. „Das Vorhaben öffnet die Möglichkeit, die Ausnahmemaßnahmen vor Ablauf durch ein Dekret aufzuheben.“

Die Richtergewerkschaft hat sich jedenfalls klar gegen die Regierung gestellt. In einer gestern veröffentlichten Erklärung stellte sie fest, die Maßnamen „greifen schwer in Freiheiten“, wie die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Organisationsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre ein. Internationale Abkommen sähen vor, dass darüber „vollständig der Generalsekretär der UNO und der Europarat informiert werden muss“. Ein Zusammenschluss aus 12 Gewerkschaften und antirassistischen Gruppen und Globalisierungskritikern hat in einer gemeinsamen Stellungnahme erklärt: „Man reagiert nicht auf eine soziale Krise mit einem Ausnahmeregime“. In einer derartigen Lage müsse der „polizeiliche Ausnahmezustand durch den sozialen Ausnahmezustand ersetzt werden.“

Härte und die Lösung des "Image-Problems"

Doch die Regierung geht in eine ganz andere Richtung. Innenminister Nicolas Sarkozy lässt deshalb an einem neuen Gesetz arbeiten. Das sieht die Streichung der Sozialhilfe bei den Familien vor, deren minderjährige Kinder an Krawallen beteiligt waren. Damit würde eine Art Sippenhaft eingeführt.

Ähnlich populistisch will Sarkozy zu Beginn dieser Woche die ersten Einwanderer in ihre Herkunftsländer abschieben, wenn sie wegen der Beteiligung an Krawallen verurteilt wurden. Diese Möglichkeit der Abschiebung besteht gegenüber Einwandern mit einer regelmäßigen Aufenthaltsgenehmigung und Asylanten im Falle einer „schweren Bedrohung für die öffentliche Ordnung“. Sarkozy erklärte: „Die Einwanderungsgesetze lassen Abschiebungen zu, ich bin der Minister und wende die Gesetze an.“ Betroffen sollen fast 200 der über 2000 Verhafteten sein.

SOS-Rassismus hat derlei Abschiebungen als „illegal“ bezeichnet und an den Staatsrat appelliert, sich zu dem Vorhaben zu äußern. Interessant ist auch, dass ausgerechnet Sarkozy den Schutz vor derlei Ausweisungen 2003 ausgeweitet hatte, wie er sie jetzt fordert. „Inhuman“ hatte er sie einst bezeichnet, weil sie zur Zerstörung der Familien führten. Es sei eine „doppelte Strafe“ einen Menschen nach der Verbüßung der Strafe zusätzlich auszuweisen.

Frankreich will auch dem Image-Verlust begegnen, das es derzeit feststellt. Außenminister Philippe Douste-Blazy bestätigte: „Es stimmt, wir haben ein Image-Problem.“ Die französischen Botschafter sollten in ausländischen Medien die Politik der französischen Regierung erklären. Der Außenminister hatte sich am Donnerstag persönlich mit Vertretern von 40 ausländischen Medien getroffen. Möglich ist auch, dass der Ministerpräsident Dominique de Villepin den Vorgang nun wiederholt. Der Außenminister warnte davor, dass jedes Land Schauplatz ähnlicher Vorgänge werden könne.

Tatsächlich werden nun auch in Belgien, Holland und in Griechenland Autos abgebrannt. In Brüssel verhaftete die Polizei am Wochenende 50 Personen, 30 Autos waren angezündet worden. Autos brannten auch in Lieja, Charleroi, Louvain-la-Neuve und Binche. Auch in der holländischen Stadt Rotterdam wurden zwei Autos angezündet. Die Polizei war schon im Vorfeld verstärkt worden. In Griechenland wurden zwei Autohäuser angezündet, 13 Autos verbrannten und weitere 10 wurden beschädigt.