Frau Merkel, wir haben ein Problem

Seite 3: Multikulturalismus und Kulturrelativismus

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Woher aber kommt dieses Bedürfnis, Gewalttaten - und viele davon waren keine Kleinigkeit - zu bagatellisieren, nur weil sie von Flüchtlingen begangen werden? U.a. mit dieser Frage beschäftigen sich die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz und der Historiker Heiko Heinisch in ihrem Buch "Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?"

1964 entwarfen die beiden Kanadier, der Soziologe Charles W. Hobart und der Historiker Paul Yuzyk, "die Utopie einer Gesellschaft, in der Menschen verschiedenster Sprachen, Konfessionen, Herkunft und kultureller Traditionen ohne Diskriminierung zusammenleben, sich nicht assimilieren, aber auch nicht segregieren, und sich gegenseitig respektieren und achten sollen ... Die jeweiligen Kulturen haben nach dieser Vorstellung Anspruch auf rechtliche Anerkennung und, falls gewünscht, auf Sonderrechte, ..." Diese Utopie nannten die beiden "Multikulturalismus".

Doch Akzeptanz kann nicht ohne Aufgabe eigener Wertvorstellungen erfolgen. Schwierig wird es, wenn davon grundlegende Prinzipien, wie z. B. universelle Menschenrechte, oder schwer erkämpfte Rechte wie z.B. sexuelle Selbstbestimmung oder Recht auf körperliche Unversehrtheit, berührt sind - und geopfert werden. Für Scholz und Heinisch,Verfasser des Buches "Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?", ist die Theorie des Multikulturalismus "in seiner Tendenz kulturrelativistisch".

Die kulturrelativistische Position fordert das Recht auf kulturelle Differenz und betont dabei die Unvergleichbarkeit verschiedener Kulturen, deren moralisch-ethische Prinzipien jeweils die gleiche Gültigkeit beanspruchen könnten. Sie seien daher in ihrer Vielfalt und in ihrem Status Quo zu erhalten.

Nina Scholz und Heiko Heinisch

Das bedeutet auf die aktuelle Situation übertragen: Kinder-Ehe, Burka, Ehrenmord, Beschneidung, Hand abhacken und Steinigung haben dieselbe Daseinsberechtigung wie das Wahlrecht für Frauen, sexuelle Selbstbestimmung, Bewegungsfreiheit, das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes oder dass Frauen Auto fahren dürfen. Für jede kulturelle Gruppe gelten die entsprechenden Normen, Werte und Traditionen.

Mit Ausnahme der eigenen. Denn: "Der Multikulturalismus gibt sich zumeist radikal antiwestlich", so Scholz und Heinisch. Auch die allgemeinen Menschenrechte würden nicht als universalisierbar betrachtet, da sie Produkt der westlichen Kulturen seien.

Das wiederum nennt sich Kulturrelativismus, und es fiele "Kulturrelativisten naturgemäß schwer, heikle, beziehungsweise verstörende Aspekte einer Kultur (außerhalb der westlichen) zur Kenntnis zu nehmen und zu bewerten".

Mut zur schmerzhaften Wahrheit

Der unbestreitbar vorhandene Rassismus trüge ebenfalls dazu bei, erläuterte Heinisch gegenüber Telepolis:

Dem von Rechtspopulisten kolportierten Bild der muslimischen Horden glauben weite Teile der Linken damit begegnen zu müssen, dass sie einerseits die Ankommenden glorifizieren und andererseits die negativen Eigenschaften der Mehrheitsgesellschaft hervorheben. Zu den Kölner Silvesterereignissen heißt es dann abseits aller Fakten, das sei beim Oktoberfest auch nicht anders.

Heiko Heinisch

Mit dieser Relativierungsstrategie tappten Linke aber ihrerseits in die Rassismusfalle:

Statt sich mit den Menschen, die da kommen, und mit den Gesellschaften, aus denen sie kommen und in denen sie sozialisiert wurden, zu beschäftigen, halten sie ihre vermeintlich schützende Hand über sie. Sie interessieren sich nicht genauer für diese Menschen, sondern machen sie zum Objekt ihrer Politik.

Heiko Heinisch

Um Probleme zu bewältigen, müssten diese zunächst beim Namen genannt werden, so Heinisch:

Menschen, die aus mehrheitlich muslimischen Staaten nach Europa kommen, kommen aus konservativen, extrem patriarchalen Gesellschaften, aus Gesellschaften, in denen weitgehende Geschlechtertrennung herrscht, die sehr autoritär strukturiert sind, eine hohe Affinität zu Gewalt aufweisen und die sehr stark religiös durchdrungen sind - und zwar von einem zum Fundamentalismus neigenden Islam.

Das muss man zur Kenntnis und ernst nehmen, denn Menschen geben ihre Einstellungen, Wertvorstellungen und Vorurteile nicht an der Grenze ab, und somit darf es nicht verwundern, dass sich unter den Flüchtlingen viele befinden, die ein Geschlechter-, Frauen- und Gesellschaftsbild in sich tragen, das mit unseren Vorstellungen kollidiert, die einem konservativen bis fundamentalistischen Islam anhängen, beziehungsweise von diesem geprägt sind und die europäischen Gesellschaften verachten.

Heiko Heinisch

Was tun?

Zu allererst hieße es, wachsam sein, so Hélie-Lucas: "Die erste Stufe sind Angriffe auf die legalen Rechte der Frauen (Forderung eines besonderen 'muslimischen' Familienrechts; Geschlechtertrennung in Krankenhäusern, Schwimmbädern, etc.), verbunden mit partikularistischen Forderungen im Schulbereich (das Recht auf Kopftuch für Lehrerinnen, nicht laizistische Bildungsgänge etc.). Die zweite Stufe sind gezielte Angriffe gegen Zuwiderhandelnde (Steinigung von Frauen und Homosexuellen etc.) und gegen alle Laizisten, …, Journalistinnen, Schauspielerinnen, Musiker, Karikaturisten … Die dritte Stufe sind wahlloses Angriffe gegen jedes Verhalten, das nicht dem islamischen Ideal entspricht."

Auch der algerische Schriftsteller Kamel Daoud sieht die "Prägung" als grundlegendes Problem, "dass der Flüchtling aus einer Kultur-Falle kommt, die vor allem von seinem Verhältnis zu Gott und zur Frau bestimmt wird", schreibt er in dem Buch "Der Schock".

Die Aufnahme der vor dem Islamischen Staat Flüchtenden, der Asylbewerber, wird im Westen von einer Überdosis Naivität genährt: Man erkennt im Flüchtling nur seinen Status, nicht aber seine Kultur; er ist das Opfer, das eine Projektion oder ein Gefühl von menschlicher Pflicht oder ein Schuldgefühl beim westlichen Menschen hervorruft … Es reicht nicht, Papiere auszustellen, und Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünfte unterzubringen, um der Sache gerecht zu werden. Man muss dem Körper Asyl bieten, aber auch die Seele davon überzeugen, sich zu ändern … Auf der anderen Seite versteht man noch nicht, dass Asyl nicht nur bedeuten kann, 'Papiere' zu bekommen, sondern auch die gesellschaftliche Übereinkunft der Moderne zu akzeptieren.

Kamel Daoud

Höchste Zeit also, die Bundesregierung nachhaltig an ihre Pflichten zu erinnern. Und darauf zu pochen, dass in Menschen investiert wird, statt in Millionen Euro teure Überwachungsanlagen, die in diesem Jahr am Kölner Hauptbahnhof anlässlich des Jahreswechsels installiert werden.

Literatur
Alice Schwarzer (Hrsg), "Der Schock - Die Silvesternacht von Köln", Kiepenheuer und Witsch, Köln

Heiko Heinisch, Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?, Passagen Verlag, Wien

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