Freie Wähler in Bayern auf Rekordhoch: Hubert Aiwanger – eine deutsche Karriere
Über die "Jugendsünde" des Ministers wurde viel diskutiert. Geschadet hat es ihm nicht, im Gegenteil. Was das für unseren Blick auf die neuen Länder bedeutet.
Wäre der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger wirklich Opfer einer linksliberalen Kampagne, die ihn Wählerstimmen kosten sollte, so wäre sie nach hinten losgegangen. Aiwangers Freie Wähler lagen am Dienstag – knapp einen Monat vor der Landtagswahl – in einer Umfrage des Bayerischen Rundfunks (BR) bei 17 Prozent. Mit 11,6 Prozent mussten sie 2018 vorlieb nehmen. Im Vergleich zum Mai dieses Jahres haben sie fünf Prozentpunkte zugelegt und ihren bisherigen Höchstwert erreicht.
Berichte über seine "Jugendsünden", Aussagen ehemaliger Mitschüler über seine stramm-rechte Gesinnung in jungen Jahren, seine zögerliche Entschuldigung und seine Selbstdarstellung als Opfer einer "Schmutzkampagne" haben ihn offenbar für eine Zielgruppe, die sich irgendwo zwischen CSU und AfD bewegt, nur noch sympathischer gemacht.
Mit dieser Möglichkeit war zu rechnen – die Süddeutsche Zeitung (SZ) müsste naiv gewesen sein, um das völlig auszuschließen, als sie zuerst über das antisemitische Flugblatt berichtete, das er mit 17 Jahren bei sich getragen hatte und als dessen Verfasser er verdächtigt worden war.
Aber vielleicht hat hier eben doch keine linksliberale Redaktion wahltaktisch entschieden, ob dies berichtenswert ist oder nicht, sondern ein journalistisches Medium eine journalistische Entscheidung getroffen.
Öffentliches Interesse
Die Frage, ob Aiwanger Rechtspopulist ist – oder nur ein gestandenes bayerisches Mannsbild, das die Sorgen des Mittelstands und der Häuslebauer ernst nimmt – war nämlich seit Monaten Gegenstand der öffentlichen Debatte.
Auch Anhänger der AfD hatten Aiwanger im Juni applaudiert, als er – der bayerische Wirtschafts- und Energieminister – mit Anti-Establishment-Attitüde auf einer Demonstration gegen das geplante Heizungsgesetz der Ampel-Bundesregierung aufgetreten war. "Es ist wichtig, dass wir denen in Berlin das Gas einstellen", hatte er dort unter anderem gesagt, nachdem der "Bauern, Handwerker, Mittelständler, Hausbesitzer, Autofahrer, Fleischesser" bei dem Aufmarsch in Erding begrüßt hatte.
"Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit des Landes, sich die Demokratie wieder zurück holen muss und denen in Berlin sagen muss, ihr habt wohl den Arsch offen, da oben."
Aber es ging nicht nur um das Heizungsgesetz – natürlich dürften auch Stichworte wie "linksgrünes Gendergaga" nicht fehlen. In "krachertem" Bayerisch zog er alle Register eines Kulturkampfs, der sich keineswegs nur gegen die Ampel-Regierung richtet. Er beschwor die Angst vor dem Ende der traditionellen Familie herauf und echauffierte sich über das angebliche Verbot, "Mama und Papa" zu sagen.
Auch der CSU-Chef und Ministerpräsident Markus Söder war Teil dieser vermeintlichen Anti-Establishment-Veranstaltung – anders als Aiwanger distanzierte er sich dort aber zumindest von der AfD und erntete dafür Buhrufe. Dass Aiwanger diese Berührungsängste scheinbar nicht hatte, muss in seinem früheren schulischen Umfeld Erinnerungen wachgerufen haben.
Die BR-Umfrage, in der Freie Wähler und AfD zusammen auf 30 Prozent kommen, zeigt jedenfalls mit dieser Vorgeschichte einmal mehr, wie falsch es ist, vor allem Ostdeutschen eine besondere Anfälligkeit für rechte Ideologie und "anti-woke" Reflexe zu unterstellen – und letztlich die vor 33 Jahren aufgelöste DDR für den heutigen Rechtsruck verantwortlich zu machen.
Als Seniorpartner der Freien Wähler hat die CSU im Vergleich zum Mai drei Prozentpunkte verloren – sie liegt zur Zeit bei 36 Prozent. Die Freien Wähler sind damit zweitstärkste Kraft – bei der letzten Landtagswahl waren dies noch die Grünen, die im aktuellen "Bayerntrend" des BR mit 15 Prozent auf Platz drei liegen und seit der Umfrage im Mai einen Prozentpunkt verloren. Auf Platz vier folgt auch schon die ultrarechte AfD mit 13 Prozent, die SPD kommt aktuell nur auf neun Prozent.
FDP und Linke bleiben unter der Fünf-Prozent-Hürde – mit dem Unterschied, dass Die Linke noch die im bayerischen Landtag vertreten war, während die FDP es bei der letzten Wahl knapp geschafft hat, aber wohl nächsten Monat hinausfliegen wird, wenn sie nicht um mindestens zwei Prozentpunkte zulegt. Laut Umfrage liegt sie in Bayern bei drei Prozent, Die Linke wird nur unter "Andere" mitgezählt.
In ostdeutschen Bundesländern liegt die AfD zwar teilweise in Umfragen bei über 30 Prozent – aber dass sie in Bayern nur 13 Prozent erreicht, bedeutet eben nicht zwangsläufig, dass es in Bayern weniger Rechte und rechtsoffene Wahlberechtigte gibt, wenn dort gleichzeitig 17 Prozent Aiwangers Performance goutieren und 36 Prozent CSU wählen.
Langjährige Wähler der CSU störten sich nie daran, dass deren Spitzenpolitiker gegen Ende von Aiwangers Schulzeit und danach Begriffe wie "durchrasste Gesellschaft" verwendeten, um Stimmung gegen Menschen mit Migrationsgeschichte zu machen.
Als Verfasser des antisemitischen Flugblatts hat sich inzwischen Aiwangers Bruder bekannt und im Nachhinein von seinem Inhalt distanziert. Der Waffenhändler (!) will damals unter "offen linksradikalen" Lehrern gelitten haben, die zur Teilnahme an Demos der Anti-Atom-Bewegung gegen die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf aufgerufen hätten. Für beide Brüder sei das ein "Kulturschock" gewesen, versuchte Helmut Aiwanger im Gespräch mit der Mediengruppe Bayern sein damaliges Verhalten zu erklären.
Tatsächlich war der damalige Protest gegen die WAA aber keine rein linksradikale Angelegenheit, sondern von so großer Breite, dass der Bau dieser Wiederaufbereitungsanlage 1989 eingestellt wurde – trotz CSU-Mehrheit im bayerischen Landtag. Auch sonst eher konservative Bauern aus der Region hatten damals die Proteste unterstützt.
"Ordnungszelle Bayern"
Und noch etwas macht an der Wahrnehmung der Aiwangers stutzig: "offen linksradikale Lehrer" in den 1980er-Jahren in Bayern, nachdem im Zuge des Radikalenerlasses Regelanfragen beim Landesamt für Verfassungsschutz gestellt und fast ausschließlich Bewerberinnen und Bewerber aus dem linken Spektrum abgelehnt wurden?
Dieses Verfahren galt für den gesamten öffentlichen Dienst. Von 1973 und 1980 wurden in Bayern 102 Personen aus dem linken Spektrum abgelehnt und nur zwei aus dem rechten. In den Folgejahren wurden bis 1990 jeweils rund 20.000 Personen überprüft und jeweils eine bis sechs abgelehnt. Sich gegen Atomkraft engagieren, reichte allerdings nicht für ein Berufsverbot.
Wenn die Aiwanger-Brüder Sympathien für die damals sehr breite bayerische Anti-Atom-Bewegung als linksradikal wahrnahmen und bis heute so wahrnehmen, sagt das vielleicht mehr über ihre eigene Stellung im politischen Koordinatensystem aus.
Es gab zu Aiwangers Schulzeit in Bayern sicher keine linke Hegemonie – und schon gar keine, die ansatzweise erklären könnte, warum man sich als harmloser konservativer Junge mit einem Flugblatt über das "Vergnügungsviertel Auschwitz" wehren musste.
Antikommunismus gehört seit der Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919 zur DNA "Ordnungszelle Bayern". Niemand kann hier "chronische Seelenschäden" durch realsozialistischen Staat für den Rechtsruck verantwortlich machen, wie es Wolf Biermann und im Fall der Ostdeutschen tut.
Der heutige Antikommunismus braucht aber im Zweifel gar keine Kommunisten mehr. Manchmal unterstellen sich Neoliberale und völkische Rechte im Kulturkampf einfach gegenseitig totalitäre Züge, die sie besonders gerne mit der DDR in Verbindung bringen.