Freihandel und Flüchtlinge

Seite 2: Während Deutschland sich über das amerikanische Chlorhuhn empört, überschwemmen deutsche Schlachtabfälle die Märkte Afrikas

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Rund 165.000 Tonnen Fleischreste der globalen spätkapitalistischen Agrarindustrie überschwemmen alljährlich Ghana, die in den Zentren des Weltsystems keine Abnehmer mehr finden. Für die Agrarkonzerne, die ihre "Ware" in regelrechten Fabriken in Rekordzeit unter monströsen Bedienungen zur Schlachtreife mästen, stellen die Exporte nach Afrika nur ein Zusatzgeschäft dar, da schon der Verkauf der begehrten Teile, wie der Filets, in den Metropolen die Herstellungskosten deckt. In Ghana landen dann europäische Hähnchenreste, wie Innereien, Flügel und Hälse, oder der knochige Rücken des Tieres. Mit absoluten Dumpingpreisen wurde in den späten 90er Jahren die einheimische Geflügelzucht vom Agrobusiness verdrängt, um hiernach diese anzuheben. Während Deutschland sich über das amerikanische Chlorhuhn empört, überschwemmen deutsche Schlachtabfälle die Märkte Afrikas.

Dennoch sind die Fleischerzeugnisse der westlichen Agrarindustrie immer noch konkurrenzlos billig, sodass die EU ab 2008 de Facto auf den Export direkt subventionierter Agrarprodukte nach Afrika verzichten kann. Insofern wirkte die Anfang 2014 großspurig publizierte Ankündigung von Agrarkommissar Dacian Ciolos, auf weitere Exportsubventionen von Agarprodukten zu verzichten, wenn die Staaten Afrikas die EPA unterzeichneten, nur noch zynisch. Die hochgradig subventionierte europäische Agrarindustrie, die allein 2013 mit rund 58 Milliarden Euro bezuschusst wurde, braucht keine expliziten Exportsubventionen mehr, um Afrikas Kleinbauern zu ruinieren.

Die monströsen und hocheffizienten deutschen Hühnerfleischfabriken etwa erreichen bereits eine Überproduktion von 25 Prozent gegenüber der Binnennachfrage, sodass ein enormer Exportdruck entsteht, der sich in massiv ansteigenden Ausfuhren in die Periphere entlädt: Zwischen 2011 und 2012 sind die deutschen Exporte nach Afrika um 120 Prozent, auf 42 Millionen Kilo Geflügel, angestiegen. Inzwischen kommen rund zehn Prozent aller Geflügelexporte nach Afrika aus der BRD.

Besonders heftig müssen südafrikanische Geflügelproduzenten unter dieser deutschen Exportoffensive leiden. Deutsche Hähnchenfabriken konnten ihre Ausfuhren nach Südafrika zwischen 2010 und 2013 um 625 Prozent steigern, sodass die Branche in Südafrika "vor dem Kollaps" stehe und rund 100 000 bedroht seien, wie der Spiegel Anfang 2014 berichtete Selbst Südafrika, die avancierteste afrikanische Volkswirtschaft, kann somit der europäischen Agrarindustrie kaum etwas entgegensetzen. Seit 2010 habe die EU ihre Geflügelfleischexporte nach Afrika "um knapp zwei Drittel gesteigert" und somit "die Geflügelwirtschaft in vielen afrikanischen Ländern mit ihren Dumpingpreisen binnen weniger Jahre vernichtet", resümierte SPON.

Wirksame Schutzmechanismen gegen dieses Dumping können sich viele hoch verschuldete afrikanische Staaten schlicht nicht leisten. Die Versuche des ghanaischen Parlaments, 2003 mittels höherer Einfuhrzölle den heimischen Agrarsektor vor der Konkurrenz der europäischen Fabrikhähnchen zu schützen, seien "am Druck der internationalen Gemeinschaft" gescheitert, wie Quame Kokroh vom ghanaischen Geflügelverband gegenüber der Deutschen Welle ausführte. Ghana verhandelte zur gleichen Zeit mit der Weltbank wegen eines Entschuldungskredits. Mehr Erfolg bei der Durchsetzung von Exportzöllen hatten Länder wie Nigeria, auf deren Ölexporte der Westen angewiesen ist. Auch Kamerun, die Elfenbeinküste und Senegal haben ab 2005 die europäischen Fleischabfälle aus ihren Binnenmärkten verbannt - die aber nun nach Abschluss der EPAs diese mitunter wieder überschwemmen dürften.

Eine ähnliche Politik betreibt die EU bei Milchprodukten, wo industrielles Milchpulver aus Europa oftmals die lokalen Milchproduzenten verdrängt, und beim Fischfang, der durch das Abfischen der lokalen Gewässer durch europäische Fabrikschiffe für Einheimische kaum noch möglich ist. Mit mehr als einem Duzend afrikanischer Staaten unterhält die EU sogenannte "Partnerschaftsabkommen", die den EU-Fabrikschiffen das Abfischen der dortigen Bestände erlauben.

Es sind Peanuts, die Brüssel an die "korrupten Regime" (Handelsblatt) dieser verarmten Länder zahlen muss, um deren Gewässer ausplündern zu können. Die Verträge über Fischereirechte mit Mauretanien beliefen sich beispielsweise 2006 auf gerade mal 86 Millionen Euro. Brüssel schließe damit "Abkommen mit den korruptesten Staaten dieser Welt", kritisierte etwa die schwedische Grünen-Politikerin Isabella Lövin, die Mitglied des Fischereiausschusses des Europäischen Parlaments war, dieses Vorgehen bereits 2010. Und es sind eben diese Abkommen, die den lokalen Fischern die Lebensgrundlage entziehen.

Die Politik der EU fördert das Aufkommen einer Klasse von ökonomisch "überflüssigen" Menschen in Afrika

Letztendlich produziert somit Europa - gemeinsam mit den anderen Zentren des Weltsystems - die anschwellenden Fluchtbewegungen in der Peripherie, die in der verzweifelten und mörderischen Massenflucht über das Mittelmeer kulminieren. Wo sollen denn die Millionen ökonomisch überflüssigen Lohnabhängigen Afrikas ein Auskommen finden, ihre Arbeitskraft vermittels Lohnarbeit auf Märkten reproduzieren, wenn die rücksichtslose Interessenspolitik der EU die Märkte Afrikas systematisch zerstört? Von einem breiten Sektor agrarischer Weiterverarbeitung, von einer afrikanischen (Klein-) Industrie träumt südlich des zu einem Massengrab verkommenen Mittelmeers niemand mehr. Die EU tut letztendlich alles, um jedwede nennenswerte wirtschaftliche Konkurrenz in Afrika auszuschalten und diese periphere Region zu einem abhängigen Rohstofflieferanten zuzurichten.

Selbst in Landwirtschaft - dem einzigen Sektor, in dem afrikanische Produkte zumindest theoretisch noch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären - wird Afrika durch ein Zusammenspiel gnadenloser europäischer Wirtschaftspolitik und des permanent anwachsenden Produktivitätsvorsprungs der europäischen Agrarindustrie gnadenlos an die Wand gedrückt. Die Effekte der europäischen "Entwicklungspolitik" in Afrika - die immer öfter nur noch als Türöffner zur Realisierung knallharter wirtschaftlicher Interessen fungiert - werden somit durch die rücksichtslose, quasi neoimperiale Wirtschaftspolitik Europas zerstört.

Und es ist gerade diese Zangenbewegung aus neoimperialistischer Machtpolitik der Zentren und ungebremster marktvermittelter Vernichtungskonkurrenz, die in Afrika ökonomisch "verbrannte Erde" hinterlässt: Regionen, in denen kaum noch Kapitalverwertung im nennenswerten Ausmaß vonstattengeht. Offensichtlich verstärkt somit die Politik der EU das Aufkommen einer Klasse von ökonomisch "überflüssigen" Menschen in Afrika, die sich nicht mehr marktvermittelt über Lohnarbeit reproduzieren können.

Fazit: Europa produziert zum Teil die Flüchtlingsmassen, die voller Verzweiflung die mörderische Überfahrt über das Mittelmeer wagen, um der Perspektivlosigkeit zu entkommen, die durch die europäische Afrikapolitik zementiert wird. Insofern ist der Impuls der afrikanischen "Wirtschaftsflüchtlinge", die Überfahrt nach Europa zu wagen, nur zu folgerichtig: Sie sind Opfer der europäischen Wirtschaftspolitik.

Von Tomasz Konicz erschien jüngst im Konkret Verlag das Buch "Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft".