Freiheit ist nie vulgär

Nach Corona beginnt der Wettbewerb der Deutungshoheiten. Was es mit dem Freiheitsbegriff auf sich hat. Über Begriffsunschärfen, Wattestäbchen-Polemik und Moral-Tyrannen.

Die Aufarbeitung der drei Jahre Corona-Politik hat begonnen und damit auch der Wettbewerb um Deutungshoheiten. Dazu gehört ein umfangreicher Beitrag in der FAZ, in dem die drei Professoren Sabine Döring (Praktische Philosophie, Universität Tübingen), Thomas Beschorner (Wirtschaftsethik, Universität St. Gallen) und Peter Dabrock (Evangelische Theologie, Universität Erlangen-Nürnberg, ehemals Vorsitzender des Deutschen Ethikrats) die Bedeutung der Ethik als normativer Wissenschaft betonen.

Neben einigen Anmerkungen zu "Rückschaufehlern" (vgl. "ex-post Bewertungen" und "Unsere Corona-Fehler") argumentiert der Beitrag vor allem, Freiheitsbeschränkungen gehörten zur liberalen Freiheit dazu. Unter dem Titel "Mit Vor-Sicht in den Rückspiegel" (als Zeitungsseite hier) schreiben sie:

Eine fundamentale Ablehnung jedweder Einschränkung individueller Freiheit führt in die Irre und sollte uns in bester liberaler und demokratischer Tradition nicht recht sein; besteht doch die Gefahr, dass ein so verstandener Vulgärliberalismus zu Anarchie in Form einer Tyrannei der Starken oder der Lauten führt.

Thomas Beschorner, Sabine Döring, Peter Dabrock, FAZ

Solche Behauptungen kennen wir keineswegs erst seit der Pandemie, aber sie sind nur formulierbar, wenn man den Begriff "Freiheit" als Karikatur verwendet: nämlich als das genommene Recht, zu tun und zu lassen, was man will. Das hat allerdings mit Freiheit wenig zu tun.

Sehr einfach wird es hingegen, wenn wir Freiheit als das sehen, was sie schon dem Namen nach ist: die Abwesenheit von Herrschaft (als Begrenzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten durch Machtausübung anderer Menschen). Wenn Freiheit die Abwesenheit von Herrschaft ist, dann kann sie selbst natürlich auch keine Herrschaft begründen: Wer herrscht, herrscht eben (und unterbindet damit Freiheit) - und lebt keine Freiheit aus.

Und so verstanden muss Freiheit selbstredend grenzenlos gelten. Wo sie "begrenzt" wird, ist sie gar nicht mehr. Es gibt keine eingeschränkte Freiheit, so wie es keine Teil-Schwangerschaft gibt. Aber Freiheit ist natürlich immer auf irgendwelche Handlungsfelder bezogen.

Gedankenfreiheit gibt es bisher sogar im Gefängnis, der Bewegungsfreiheit steht ein Tempolimit nicht entgegen (das betrifft eine "Tempofreiheit", denn im Radius unbeschränkt bewegen kann man sich damit immer noch).

Und wir sollten für die weitere Diskussion akzeptieren, dass sich Freiheit nur auf die Nutzung unserer natürlicherweise vorhandenen Möglichkeiten bezieht, deren Limitation also in der Natur selbst liegt: die Schwerkraft ist keine Herrschaft böser Massekräfte, sondern schlicht vorhanden, so wie wir als Individuum nur existieren, weil es neben uns noch andere Individuen gibt (es wenigstens zwei gab, die für unsere Existenz gesorgt haben).

Freiheit heißt nicht Anarchie

Diese Freiheit hat nichts mit "Anarchie" zu tun (und was "Vulgärliberalismus" sein soll, weiß der Kuckuck, der übrigens seine Eier nicht als Akt von Freiheit in fremde Nester legt, sondern selbstverständlich als Form seiner evolutionären Herrschaftsstrategie).

Die Französische Revolution fand für die Freiheit einen schon recht schönen Satz, in gängiger Übersetzung:

"Die Freiheit besteht darin, alles machen zu können, was einem anderen nicht schadet."

Noch besser, wenn auch nach der hier vertretenen Auffassung tautologisch: Freiheit ist, machen zu können, was keinem anderen schadet.

Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Denn jemanden in seiner Handlungsfreiheit zu beschränken, obwohl er niemandem schadet, ist mit Demokratie als "Volksherrschaft" und damit Selbstherrschaft (die in Summe nur Selbstbestimmung meinen kann) nicht zu vereinbaren. Wobei zu betonen ist, dass Freiheit gerade kein Naturprinzip ist; das ist die Herrschaft, der viel angeführte "Kampf ums Überleben" bzw. treffender der Wettbewerb um Ressourcen (siehe Kuckuck).

Eine freiheitliche Gesellschaft zu proklamieren bedeutet hingegen, auf das Recht des Stärkeren zu verzichten, nicht alles im (metaphorisch zu verstehenden) Duell auszutragen, sondern gerade keine Herrschaft auszuüben. Freiheit entsteht durch Herrschaftsverzicht und ist mithin eine Kulturtechnik.

Grundrechte sind schlicht Freiheit

Alles, was sich in der deutschen Verfassung als "Grundrechte" findet, ist selbstverständlich im Begriff "Freiheit" bereits enthalten. Daher kann man diesen viel gelobten, ja geradezu verehrten Katalog auch ganz anders lesen, nämlich als Herrschaftsermächtigung.

Weil alle freiheitlichen Aspekte darin in einem freien, also Freiheit garantierendem Land selbstverständlich sein sollten, tatsächlich aber stets die Einschränkbarkeit aufgezeigt wird (wo nicht direkt, da als Option aus Art. 19 GG). Umgekehrt lässt sich fast alles, was in den "Allgemeinen Menschenpflichten" aufgeführt ist, als Aufforderung zur Freiheit verstehen: Die Pflicht besteht jeweils darin, Herrschaft zu unterlassen.

Was aber, wenn mein Verständnis von Freiheit in Herrschaft umzuschlagen droht, wenn ich etwas tun möchte, das andere tangiert? Dann muss ich verhandeln, mit all' jenen, deren Freiheit ich an dieser Stelle beenden möchte. Können wir uns ohne jeden Zwang einigen, ist die Freiheit gewahrt.

Daher ist keine freiwillig eingegangene Ehe eine "Freiheitsbeschränkung", auch wenn sie bestimmte Handlungsoptionen ausschließen mag (täte sie dies nicht, wäre sie obsolet, nur eine amtlich dokumentierte Nichtigkeit).

Die Forderungen der anderen dürfen dabei natürlich nicht unbillig sein, weil sie sonst ihrerseits Herrschaft sind. Man wird in vielen Fällen daher einen Kontrahierungszwang konstatieren können, wie das bei den Juristen hieße: die Pflicht, einen Deal einzugehen, weil die Verweigerung unangemessen wäre.

Denn dass in Sozialgemeinschaften permanent Interessen miteinander kollidieren, ist selbstverständlich. Nicht selbstverständlich - wenn auch allgegenwärtig - ist jedoch, Konflikte regelmäßig über Herrschaft zu lösen, und sei es die angeblich demokratisch legitimierte Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit.

Möchte der Nachbar eine laute Party feiern, bin ich möglicherweise (je nach Musikgeschmack, Tagesrhythmus etc.) in meiner Freiheit verletzt. Das Problem nivelliert sich jedoch schnell, wenn in die Verhandlung eingebracht wird, dass auch ich meinerseits mit diesem und jenem Nachbarn tangiere - etwas, das gerne als "Whataboutism" gebrandmarkt wird, aber genau zum Deal dazugehört, und letztlich haben wir genau solche Ausgleichsversuche, die einen Kontrahierungszwang begründen können, in vielen gesetzlichen Regelungen (hier u.a. : Nachtruhe).

Wie gut oder schlecht diese Freiheit gewährleisten und woran viele solcher normativen Vorgaben für den Interessenausgleich kranken, soll hier nicht grundsätzlich vertieft werden, sondern nur anhand des FAZ-Themas.

Ressourcenverbrauch ist keine Freiheit

Was die Autoren Döring, Beschorner und Dabrock in ihrem Artikel offenbar als vulgäres Freiheitsverständnis oder als "egoistisch verkürzte Freiheitsbilder" ächten wollen, ist tatsächlich Herrschaft. Sie kritisieren berechtigterweise, dass

"zivilgesellschaftliche Ressourcen verbraucht werden, ohne dass man sich um ihr Nachwachsen kümmert".

Doch der Verbrauch endlicher Ressourcen ist keine Ausübung von Freiheit, sondern von Herrschaft. Eben der Herrschaft über diese Ressourcen. Atmen, trinken und essen können damit im biologischen Umfang nicht gemeint sein, da sie unserer Willenskontrolle entzogen sind und wir nun mal lebenswilliges Leben sind inmitten von Leben, das leben will.

Auch ein humanistisch aufgeklärter Baum muss sich nicht dafür entschuldigen, dass er wächst, wo gerne ein anderes Pflänzchen wachsen wollte, alles andere wäre philosophischer Kindergarten.

Aber endliche Ressourcen zu nutzen, ohne die wir sehr wohl leben könnten, ist Ausübung von Herrschaft und mithin nicht Freiheit: Erdöl, Erdgas, Metalle etc. Wie man endliche Ressourcen gerecht (also wenigstens herrschaftsarm) verteilen kann, ist eine Frage an die (gedachte) globale Demokratie (und mithin nicht an eine Weltherrschaft, sondern an die globale Selbstbestimmungsmöglichkeit der Menschen), aber es hat nichts mit Freiheit zu tun.

Wer anderen etwas wegnimmt aus einem anderen Grund als dem eigenen unmittelbaren Überlebenskampf, übt Herrschaft aus, verlässt also den - selbstverständlich rein normativ (hier: humanistisch) gesetzten Pfad der Selbstbeschränkung, die auf das Recht des Stärkeren verzichtet.