Freiheit ist nie vulgär

Seite 2: Das gute Leben

Die Autoren fassen die biologische Realität sozialer Gemeinschaften halbwegs richtig zusammen in dem Satz:

In der Pandemie kann jeder Mensch zu einem massiven Ausbreitungsfaktor werden.

Nur halbwegs richtig ist die Aussage, weil die beschriebene Tatsache keineswegs auf Pandemien beschränkt ist, sondern selbstverständlich und bisher evolutionsstabil zum Leben dazugehört. (Wobei stets nur die negativen Folgen thematisiert werden - "vulgärpädagogisch" z.B. von Sebastian Hotz auf den Punkt gebracht.)

Die drei Autoren postulieren eine Ethik, die "zu einem guten Leben" beiträgt, wofür auch "individuelle Freiheit einzuschränken ist". Zwar möchten sie irgendwie an der freien Entfaltung der Persönlichkeit festhalten, wenn sie schreiben:

Konsens in der liberalen Demokratie ist mit Isaiah Berlin, dass nicht "von außen" bestimmt werden darf, was ein Individuum frei macht, um so Beschränkungen aufzuerlegen, schlimmstenfalls um den Preis, dass das Individuum in der Gemeinschaft praktisch verschwindet.

Keine Staats- oder andere Macht darf unter Berufung darauf, es besser zu wissen als das beschränkte Individuum, was schützens- oder erstrebenswert sei, einen Paternalismus oder Autoritarismus begründen. Das wäre eine Tyrannei der Moralisten.

Aber schon darin steckt, dass es irgendetwas braucht, das den Menschen erst "frei macht". Für die Autoren "steht hinter Freiheit immer zugleich ein normativer Anspruch: Wir wollen das schützen, was schützenswert ist, für das es sich politisch zu kämpfen lohnt".

Begriffsunschärfe

Für irgendetwas zu kämpfen hat doch gerade mit Freiheit nichts zu tun, allenfalls mit der Abwehr von Herrschaft, meist wird damit aber (auch) selbst Herrschaft verbunden sein. Die Begriffsunschärfe zieht sich durch den gesamten Text und wird beispielsweise hier deutlich:

Wer Einschränkungen individueller Freiheit zur Eindämmung des Klimawandels per se als "Zumutung" verdammt, der spricht sich für eine Tyrannei der jetzt Lebenden gegenüber zukünftigen Generationen aus, die sich nicht wehren können. Wem in der Pandemie unter Berufung auf liberale Ideen selbst das Wattestäbchen in der Nase als unzumutbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit erschien, der redet libertär, aber sicherlich nicht im Sinne des Liberalismus.

Die Tyrannei der jetzt Lebenden gegenüber zukünftigen Generationen ist natürlich wie jede Tyrannei schon dem Namen nach Herrschaft und hat deshalb nichts mit Freiheit zu tun, sie kann also auch nicht eingeschränkt werden. Stattdessen muss die formal-demokratisch gesetzte Herrschaft begrenzt werden, um die Freiheit anderer zu gewähren.

Die 3-G-Herrschaft

Und mit ihrer Wattestäbchen-Polemik machen sich die Autoren dann genau zu dem, was sie selbst verdammen wollen: zu Moral-Tyrannen, die als Philosophen-Könige wissen, was gut und richtig für das Individuum ist. Sie lassen "das Individuum in der Gemeinschaft praktisch verschwinde[n]", wenn sie schreiben:

>Im Ukrainekrieg schwächte jeder wehrfähige Ukrainer, der sich der Einberufung entzog, und jeder individuelle Akteur, der keinen unterstützenden Beitrag leistete, die Aussicht der Ukraine, sich selbst und die liberale Demokratie insgesamt gegen den Aggressor zu verteidigen.<

Soll am Ende noch die Zwangsrekrutierung von Kriegern als Freiheit verstanden werden? Schließlich sprechen die Autoren auch ein "Trittbrettfahrer-Problem" an:

Von einer Lösung profitieren auch jene, die keine Kosten übernehmen.

Was allerdings wenig freiheitlich voraussetzt, dass eine Instanz festlegen kann, was ein jeder als persönlichen Profit zu verstehen hat.

Die Herrschaft der Corona-Politik bestand nicht im "Wattestäbchen in der Nase", sondern in Reise-, Kontakt- und Konsumverboten (3 G), in Ausgangssperren und Demonstrationsverboten. Es fehlte jedweder Deal, um von einer herrschaftsfreien Aushandlung sprechen zu können (der man, siehe oben, ggf. nur unbillig nicht zustimmen könnte).

Oder was haben die von den Maßnahmen intentional Profitierenden den ihrer Freiheit Beraubten als fairen Ausgleich angeboten? Das Herrschaftsproblem war tatsächlich noch viel größer: denn die mit den politischen Maßnahmen zu Schutzobjekten Gemachten hatten gar keine Freiheit, irgendeinen Ausgleich anzubieten, sie wurden dem Schutz per Herrschaft unterworfen, ob sie ihn wollten oder nicht.

Wer die negativen externen Effekte der eigenen Handlungen einfach ignoriert, wer sich weigert, Verantwortung für sie zu übernehmen und seinen eigenen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, aber zugleich darauf baut, seinerseits von den Segnungen des Gemeinwohls zu profitieren, agiert nicht frei, sondern schlicht egoistisch. [...] Egoismus ist weder Freiheit noch Eigenverantwortung.

Ein letztes Mal sei es gesagt: Handlungen mit negativen Effekten für andere sind nicht Freiheit, sondern Herrschaft. Es steht den Autoren frei, ihr professorales Einkommen egoistisch für sich selbst zu nutzen oder alles bis auf ein Bürgergeld-Existenzminium zu spenden. Allerdings müssten sie zuvor mit denjenigen verhandeln, von denen sie alimentiert werden wollen.

Wie weit und in welcher Form Demokratie Freiheit beenden darf, ist eine eigene Frage (ausführlich u.a. hier behandelt). Diese Frage lässt sich aber gar nicht diskutieren, wenn Herrschaft zur Freiheit umgedeutet wird.