Frieden in weite Ferne gerückt

Nicht nur der türkische Staat arbeitet an Demontage der Kurdenpartei DTP - sondern auch die PKK

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Sechs Zivilisten starben und Dutzende wurden verletzt, als vor einer Woche ein Kommando der kurdischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) im Zentrum der südostanatolischen Metropole Diyarbakir einen Sprengsatz zündete. Der Anschlag galt einem Fahrzeug der türkischen Streitkräfte – doch getroffen hat er nicht nur zahlreiche Zivilisten, sondern vor allem auch den politischen Flügel der kurdischen Bewegung in der Türkei.

Im Juli vergangenen Jahres gelang es erstmals einer kurdischen Partei, in Fraktionsstärke in die türkische Nationalversammlung einzuziehen. Die 20 Parlamentarier der Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) wollten sich für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage engagieren und brachten sich als Vermittlerin zwischen dem türkischen Staat und den kurdischen Rebellen ins Spiel. Ein Hoffnungszeichen war der Wahlerfolg der kleinen Partei für die meisten Kommentatoren deshalb, von einem „neuen Aufbruch zur Lösung des Kurdenproblems“ war damals vielfach die Rede.

Doch die erneute Gewalteskalation und die zunehmende Militarisierung des gesellschaftlichen Klimas in der Türkei haben die DTP in den vergangenen Monaten schwer in Bedrängnis gebracht.

„Terroristen unterm Parlamentsdach“

Mit den zunehmenden Bombenanschlägen und Kämpfen ist es inzwischen längst wieder zur öffentlichen Pflichtzeremonie für türkische Politiker geworden, die PKK vor laufenden Kameras als „terroristische Vereinigung“ zu brandmarken. Spätestens seit dem Anschlag vor einer Woche ist diese Zeremonie auch für die DTP gleichsam zu einem „Lackmustest“ erhoben worden, der darüber entscheiden soll, ob die Partei nur „der verlängerte Arm der PKK ist“ - und somit umgehend verboten gehört.

Doch die Vollziehung des Pflichtrituals fällt der kurdischen Partei äußerst schwer. Denn das grundsätzliche Dilemma, in dem die DTP steckt, ist der Umstand, dass ein Großteil ihrer rund 1,5 Millionen Wähler die PKK keineswegs pauschal als „Terroristen“ sehen – und die Forderung nach einer Distanzierung der DTP von der PKK deshalb etwa so praktikabel ist, wie seinerzeit eine Forderung an die irische Sinn Féin gewesen wäre, sich in einen offenen Gegensatz zur IRA zu manövrieren. Umso bezeichnender ist es, dass nun ausgerechnet die kurdischen Rebellen mit ihrem verheerenden Anschlag dem politischen Establishment in Ankara die nötige Munition geliefert haben, um die kleine kurdische Partei in dieser Frage vollends in die Ecke zu treiben.

„Der blutige Anschlag hat endgültig denjenigen, die sich bislang weigerten, die PKK als Terroristen zu bezeichnen, die Maske vom Gesicht gerissen“, wetterte etwa Devlet Bahceli, der Chef der drittgrößten Fraktion „Partei der nationalen Bewegung“ (MHP), mit Blick auf die DTP. Nun sei für jedermann ersichtlich geworden, dass die 20 Parlamentarier, die sich noch immer weigerten, die kurdischen Rebellen als „Terroristen“ zu bezeichnen, nichts weiter als „Erfüllungsgehilfen“ der PKK seien – und somit schlichtweg „Terroristen unterm Parlamentsdach“.

Auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan brachte die Klemme, in der Anschläge wie der in Diyarbakir die kurdische Partei bringen, deutlich auf den Punkt. Immer wieder habe die DTP seit den Wahlen eine friedliche Lösung der Kurdenfrage propagiert, eine Stärkung von Demokratie und Menschenrechten gefordert, erinnerte Erdogan: „Doch wer sich von einer solchen Bluttat nicht eindeutig distanziert, der kann nicht überzeugend sein, wenn er von Menschenrechten spricht“.

Friedenskräfte in der Türkei geschwächt

Vertreter der DTP taten sich in den vergangenen Tagen denn auch sichtlich schwer damit, die Haltung ihrer Partei gegenüber der PKK zu rechtfertigen - selbst wenn DTP-Fraktionschef Ahmet Türk bei jeder Gelegenheit betonte, dass seine Partei Gewalt grundsätzlich ablehne, egal von welcher Seite sie komme.

Aber das Dilemma, das der blutige Anschlag von Diyarbakir der kurdischen politischen Bewegung bereitet hat, besteht nicht nur darin, dass sich der Druck auf die DTP und somit auch die Wahrscheinlichkeit eines Parteiverbots nunmehr gravierend verschärft haben. Sondern das Engagement der türkischen Kurden für eine friedliche Konfliktlösung hat insgesamt erheblichen Schaden genommen.

Bislang stemmte sich die DTP als einzige der im Parlament vertretenen politischen Kräfte vehement gegen den in den letzten Monaten allenthalben um sich greifenden Chauvinismus in der Türkei. Nur die kurdischen Abgeordneten votierten zum Beispiel im vergangenen Oktober gegen das Gesetz, das die türkische Regierung zu Militäroperationen im Nordirak ermächtigt – wodurch sich die DTP die Unterstützung weiter Teile der türkischen Friedensbewegung und der türkischen Linken und Liberalen sichern konnte. Doch unter dem Eindruck des Anschlags von Diyarbakir schwindet nun auch der außerparlamentarische Rückhalt für die DTP zusehends – während das Lager der Falken in Ankara, die auf eine Haltung der Stärke in der Kurdenfrage drängen, deutlichen Auftrieb erhalten hat. „Jeder Anschlag wie der in Diyarbakir zeigt nur, dass die türkischen Militäroperationen gegen die PKK der einzige richtige Weg sind“, meint etwa der Kolumnist Mehmet Ali Birand.

Gerade dieser Ansicht stemmte sich die DTP bislang mit dem Argument entgegen, dass das Kurdenproblem keinesfalls nur auf ein „militärisch zu lösendes Sicherheitsproblem“ reduziert werden dürfe, wenn eine dauerhafte Lösung herbeigeführt werden solle. Entschlossene demokratische Reformen, eine konsequente politische und kulturelle Gleichberechtigung der kurdischen Bevölkerungsteile, wirtschaftliche und soziale Förderung der bislang von der Zentralregierung in Ankara über Jahrzehnte bewusst vernachlässigten kurdischen Landesteile – so lautete der programmatische Gegenentwurf, den die DTP bislang vertrat.

In dem Maße, in dem nun die Glaubwürdigkeit der DTP leidet, geraten nichtmilitärische Ansätze zur Lösung der Kurdenfrage in der öffentlichen Debatte insgesamt zunehmend unter Generalverdacht. Als bestenfalls „Gutmenschentum“ werden friedliche Lösungsvorschläge inzwischen weithin belächelt – immer häufiger allerdings auch durch das Prädikat „Propaganda der Terroristen“ kurzerhand disqualifiziert.

Weitere Gewalteskalation befürchtet

Nichts deutet darauf hin, dass die PKK die „Nibelungentreue“, mit der die DTP gezwungener Maßen bislang zu ihr hält, bei ihren Operationen zukünftig in Rechnung stellen wird. Im Gegenteil, Beobachter meinen bereits, einen grundlegenden Strategiewandel bei der PKK ausmachen zu können. Während die kurdische Guerilla nämlich in der Vergangenheit bei ähnlichen Attentaten mit zivilen Opfern, wie zuletzt im Mai in Ankara, ihre Urheberschaft aufgrund des erheblichen Imageschadens immer bestritt, hat sich die PKK diesmal nur auffällig halbherzig und zögerlich von dem Anschlag distanziert. Weil in PKK-nahen Medien der Anschlag trotz der zivilen Opfer zudem ausdrücklich gerechtfertigt wurde, befürchtet der Publizist Ertugrul Kürkcü sogar, dass es demnächst zu weitern Bombenattentaten wie dem in Diyarbakir kommen wird – und „zivile Kolateralschäden“ und die überaus negativen Auswirkungen für die politische Bewegung der Kurden in den Augen der Guerilla eine immer geringere Rolle spielen.

Ohnehin hat die PKK für dieses Jahr bereits einen „heißen Sommer“ angekündigt. Und auch die türkische Regierung hat keinen Zweifel darüber belassen, dass sie ihre Angriffe auf die Stellungen der PKK im Nordirak auch zukünftig „mit aller Entschlossenheit“ vorantreiben wird.

An einem friedlichen Ausgleich in der Kurdenfrage haben derzeit also beide Lager kein Interesse. Nichts könnte dies deutlicher machen als der Umstand, dass nicht nur der türkische Staat nach Kräften auf eine Demontage der DTP, die einen friedensstiftenden Brückenschlag zwischen den beiden Lagern nach irischem Vorbild bewirken könnte, hinwirkt – sondern auch die kurdische Guerilla.