Friedensforschung: Von der trügerischen Zeitenwende zu fragwürdigen Rückschlüssen

Seite 2: Welche europäische Friedensordnung?

Die Formulierung, Russland habe "die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zerstört", führt nach dieser unzutreffend einseitigen Schuldzuweisung zu sinnvollen Empfehlungen, die allerdings weiter fragwürdig bleiben, da sie einem Friedensgutachten für Waffen und militärische Strategien eintreten. Das Gutachten empfiehlt auf Seite 26:

Nach dem Krieg muss deshalb nicht nur die Ukraine wieder aufgebaut werden. Es muss auch ein neues Konzept europäischer Sicherheit entwickelt werden, das Verteidigungsfähigkeit mit einer langfristigen Perspektive auf zukünftige kooperative Sicherheitsstrukturen und dauerhaften Frieden verbindet.

Kooperative Sicherheit muss das langfristige Ziel bleiben

Einen schnellen Weg zurück zu einer europäischen Friedensordnung wird es nach dem russischen Angriffskrieg nicht geben. Dennoch bleibt kooperative Sicherheit auf lange Sicht die einzige Möglichkeit, um den weltpolitischen Herausforderungen zu begegnen.

EU nach innen und außen stärken

In der neuen Sicherheitslage muss die EU ihre Integration nach innen stärken, um ihre drängendsten Aufgaben wie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und die Erweiterungspolitik geschlossen voranzutreiben.

Beschaffungswesen der Bundeswehr muss reformiert werden

Eine Reform des Beschaffungswesens ist für die effektive und effiziente Verwendung des Sondervermögens Bundeswehr unerlässlich. Sie sollte mit Priorität vorangetrieben werden.

Keinen Systemkonflikt heraufbeschwören

Der Westen sollte vermeiden, den Gegensatz von Demokratie und Autokratie zu einem neuen Systemkonflikt zu überhöhen, um China und Russland nicht unnötigen Anlass zur koordinierten Herausforderung liberaler Ordnungsprinzipien zu geben.

Hier wird ebenfalls freundlich verklausuliert eine Theorie über die Genesis des Krieges vorausgesetzt, die umstritten ist. Das Nato-Narrativ geht in der Tat davon aus, dass die Russische Föderation wieder die Ausmaße und Macht des Zarenreichs und der Sowjetunion zurückgewinnen will. Eine andere Genesis des Krieges wird hier nicht in Andeutungen für erwägenswert gehalten.

Es ist vor dem Hintergrund der durch die Nato-Osterweiterung untergrabenen Vision einer Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit, die die Sicherheit eines jeden, also genauso die der westlichen Staaten wie die Russlands, notwendig, sich die Entwicklung zu vergegenwärtigen, die in den Wochen vor Kriegsbeginn zu beklagen war.

Rückblick: die russischen Vorschläge

Die russische Regierung unternahm im Dezember 2021 einen erneuten Versuch, die von ihr als Bedrohungslage eingestufte Gefahr, dass nun auch noch die Ukraine mit ihrer hunderte Kilometer langen Grenze und einer sich abzeichnenden auch nuklearen Kooperation mit den USA entsprechend der geänderten ukrainischen Verfassung und entsprechend vielen Verlautbarungen der Regierung Selenskyj Nato-Mitglied wird, durch vertragliche Vereinbarungen zu entspannen.

Die russischen Vertragsvorschläge enthielten diese Kernforderungen:

• keine erneute Erweiterung der NATO nach Osten bis an die russische Westgrenze,

• Rückbau der militärischen NATO-Präsenz auf den Stand von 1997, als NATO-Russland-Grundakte von beiden Seiten vereinbart worden war

• Truppenreduzierung beiderseits der Grenze in einer gemeinsam festzulegenden Breite,

• keine Stationierung von Atomwaffen außerhalb der nationalen Territorien (also auch keine "nukleare Teilhabe" von Nichtatomwaffenstaaten)

• und keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa.

Diese Forderungen lehnten die USA und die NATO Anfang Februar ab. Am 19. Februar 2022 betonte Präsident Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Forderung nach einem Nato-Beitritt der Ukraine als Ziel für den Nato-Gipfel in Madrid.

Die analytischen und dadurch auch in ihren Auswirkungen auf die Empfehlungen bedenklichen Schwächen des Gutachtens bedeuten, dass so sinnvolle Empfehlungen wie die folgenden Gefahr laufen, zu Lippenbekenntnissen der Politik missbraucht zu werden, sodass sie von Frieden sprechen und weiter Öl ins Feuer gießen.

Freilich gibt es einige Forderungen der Friedensforschungsinstitute, die es verdienen, im Diskurs mit der Friedensbewegung im Rahmen einer kohärenten Strategie diskutiert und fortentwickelt zu werden:

  • Friedliche Konfliktbearbeitung stärken;
  • Konsequenzen aus konfliktverschärfender Einflussnahme Dritter;
  • Dialog mit Dschihadist:innen suchen;
  • Anreize für die Niederlegung von Waffen schaffen;
  • Nachhaltige Unterstützung von regionalen Akteuren;
  • Nukleare Deeskalation;
  • Kein weiteres nukleares Aufrüsten;
  • Einstieg in Multilateralisierung der Abrüstung;
  • Verzicht auf Ersteinsatz von Atomwaffen;
  • Ausstieg aus nuklearer Teilhabe einleiten.