Friendly Fire in Kiew?
Auch zwei Jahre danach bestreitet die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft die Existenz von Todesschützen in Maidangebäuden
Zwei Jahre nach dem Kiewer Blutbad ist es wohl so fraglich wie nie, ob die Öffentlichkeit jemals erfährt, wer für die Verbrechen vom 20. Februar 2014 verantwortlich ist. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft ist sich sicher, dass die Mörder ausschließlich staatliche Sicherheitskräfte waren. Der Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski merkt an, dass dagegen sogar die eigenen Beweise der Staatsanwaltschaft sprechen. Dabei hat diese die meisten Aspekte des Verbrechens noch nicht mal untersucht. Westliche Medien spielen ganz unterschiedliche Rollen bei der Aufklärung.
Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine (GPU) ist sich sicher, dass 48 der 49 getöteten Maidan-Kämpfer und Demonstranten am 20. Februar in Kiew von Berkut-Polizisten erschossen wurden. Dies sei eine "terroristische Handlung" gegen den Maidan gewesen. Der Anklagevorwurf wurde erst vor kurzem von 39 auf 48 Morde erhöht. Der Fall des 49. Toten, eines georgischen Demonstranten, ist auch für die GPU noch unklar.
Generalstaatsanwalt Viktor Schokin - bereits der dritte seit dem Machtwechsel vor zwei Jahren - ist überzeugt, dass er schlüssige Beweise vorlegen kann, die die Spezialtruppe Berkut und den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch als "Spitze der Befehlspyramide" belasten. Der Fall sei "faktisch aufgeklärt", behauptete Schokin bereits im Oktober. Und das obwohl leider zahlreiche Beweise in den ersten Tagen zerstört worden seien, so der GPU-Chef.
Verdächtigt wird die sogenannte "Schwarze Rotte", eine spezielle Berkut-Einheit, die von Dmitri Sadownik kommandiert wurde und der 22 Männer angehört haben sollen. Vor Gericht stehen jedoch nur zwei von ihnen, Serhiy Zinchenko und Pawlo Abroskin, die restlichen Angeklagten haben sich rechtzeitig abgesetzt. Ihnen wird zudem die Verwundung von 80 Demonstranten vorgeworfen.1
Bei einem Angriff auf vorrückende Maidankräfte am Oktoberpalast und später von einer Polizeibarrikade im oberen Teil der Institutska-Straße aus sollen sie die Oppositionskämpfer am Vormittag des 20. Februar erschossen haben. Die beiden Angeklagten seien zwar auf der Institutska gewesen, hätten aber niemanden erschossen, so ihre Verteidigung.
Beweisarme Anklage
Beweise habe die GPU für ihre Anklage bisher kaum vorgelegt, kritisiert der ukrainisch-kanadische Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski, der die Todesschüsse in einer eigenen Studie untersucht hat.2
Die Anklage basiere lediglich auf wenigen Videos und auf ballistisch-forensischen Berichten, die sich mit Schüssen auf 21 Maidankämpfer befassen. Das Filmmaterial von schießenden Berkut-Polizisten, das Ankläger vor Gericht zeigten, sei aber gar nicht in der Zeitphase aufgenommen worden, als zahlreiche Maidankämpfer von Heckenschützen umgebracht wurden, sagt Katchanovski nun gegenüber Telepolis. Im Gegenteil: Aus einigen dieser Videos seien sogar Sequenzen mit bewaffneten Maidankräften herausgeschnitten worden.
Die GPU habe zudem bis heute für die allermeisten der Getöteten am 20. Februar weder Todeszeitpunkt noch Position rekonstruiert. Die wenigen Nachweise hierzu seien nur sehr ungenau durchgeführt worden, die ermittelten Positionen der Opfer zum Todeszeitpunkt wichen erheblich von den tatsächlichen, in Aufnahmen zu sehenden Positionen ab. Die ballistischen Flugbahnen seien mehr geschätzt, als exakt berechnet worden. Messinstrumente seien dafür bspw. gar nicht benutzt worden, kritisiert Katchanovski, der an der Universität von Ottawa lehrt. Die tatsächliche Herkunft der tödlichen Kugeln kann so kaum festgestellt werden.3 Obwohl dutzende Menschen bei den jeweiligen Todesschüssen anwesend waren, spielen Zeugenaussagen fast gar keine Rolle in dem Prozess.
Viele Opfer seien aus steilen Winkeln, also von deutlich höher gelegenen Positionen aus, erschossen worden, stellten die bisher veröffentlichten rechtsmedizinischen Gutachten fest. Diese Winkel passen jedoch nicht zu den Positionen der angeklagten Berkut-Polizisten. Die Polizeibarrikade auf der Institutska befand sich fast horizontal zu den vorrückenden Maidankämpfern. Die Schusswinkel und Trefferrichtung passten jedoch sehr wohl zu Schützenpositionen aus hohen Gebäuden wie etwa dem Hotel Ukraina oder dem Oktoberpalast - beide in Maidanhand, erklärt Katchanovski.
Munition passt nicht zu Anklage
Einen schweren Ermittlungsfehler gab die Staatsanwaltschaft nun immerhin erstmals zu: Sie ließ nur einen kleineren Teil der sichergestellten Kugeln vom 20. Februar untersuchen. "Damit wurde also fast vollständig auf eine der wichtigsten Beweisarten bei solchen Ermittlungen verzichtet", kritisierte Katchanovski. Lediglich ein Drittel der mehr als 100 Geschosse, die Ärzte aus Verwundeten oder Getöteten herausoperierten oder die Ermittler in Bäumen, Wänden und auf dem Boden fanden, wurden ballistisch oder forensisch untersucht.
Am 12. November wurde im Prozess zudem bekannt, dass die herausoperierten Kugeln weder zu den Geschossen passen, die Berkutpolizisten am 20. Februar abfeuerten, noch zu den Kugeln der Innenministeriumstruppen. Zwar passe das Kaliber (7,62 x 39mm) zu Kalaschnikow-Sturmgewehren und Jagdgewehren (die auf der Kalaschnikow basieren), doch waren neben Berkut auch Maidankampftrupps mit genau solchen Waffen unterwegs, erläutert Katchanovski. Fotos und Aussagen von Maidanschützen bestätigen das.
Laut der bisher bekannten forensischen Gutachten wurden mindestens 16 Maidankämpfer mit diesen sogenannten M-43-Patronen getötet, drei weitere durch Schrotkugeln für die Jagd. Das Gericht stellte fest, dass mindestens neun Opfer mit ein und derselben Waffe erschossen wurden.
Generalstaatsanwalt ignoriert eigene Erkenntnisse
Die GPU leugne immer noch sämtliche Belege für tödliche Schüsse aus Maidan-kontrollierten Gebäuden - obwohl Beweise und Indizien hierfür erdrückend sind und von Beginn an vorlagen, wie etwa Filmmaterial des ukrainischen Senders ICTV oder der BBC sowie Zeugenaussagen von hinten beschossener Maidankämpfer.4 "Die Generalstaatsanwaltschaft ignoriert damit sogar ihre eigenen Untersuchungsergebnisse", kritisiert der Universitätslehrer aus Ottawa.
Das schrittweise in der Verhandlung veröffentlichte Ermittlungsmaterial widerspreche zum großen Teil der Anklageschrift. "Es bestätigt aber die Erkenntnisse meiner Studie über das Maidan-Massaker", so Katchanovski (Scharfschützenmorde in Kiew). "Besonders dass die Mehrheit dieser 49 Protestierenden vom Hotel Ukraina und anderen vom Maidan kontrollierten Gebäuden aus getötet wurde."
Dabei hatte die GPU im vergangenen Jahr sogar selbst ein Internationales Beratergremium (IAP) des Europarats informiert, dass sie zahlreiche Hinweise auf Schützen in vom Maidan kontrollierten Gebäuden habe. Mindestens drei der 49 getöteten Maidanaktivisten seien aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft vom Hotel Ukraina bzw. vom Konservatorium aus erschossen worden, heißt es im Bericht des IAP (Seite 42, Absatz 255). Zudem gebe es Informationen darüber, dass noch zehn weitere Opfer von Hausdächern aus erschossen wurden. Nun wolle die GPU davon nichts mehr wissen, so Katchanovski.
Rechtsradikale Täter von Beginn an ausgeschlossen
Eine sogenannte "False-Flag-Operation" sei nie auch nur ansatzweise von der GPU in Betracht gezogen worden, erläutert der Wissenschaftler. Anführer des Maidan könnten verdeckte Schüsse auf die eigenen Kämpfer befohlen haben, um den Präsidenten und dessen Sicherheitskräfte endgültig in Verruf zu bringen und so einen Machtwechsel zu erzwingen, glaubt Katchanovski. Doch Maidanführer und Kommandeure rechtsradikaler Kampfgruppen wurden von der GPU überhaupt nicht verhört.
Im vergangenen Herbst startete die GPU zwar Ermittlungen im Zusammenhang mit mehreren Swoboda-Abgeordneten, die am 20. Februar im 11. Stockwerk des Hotel Ukraina wohnten. Doch die Ermittler betrachteten die Mitglieder der rechtsradikalen Partei nicht als Verdächtige, sondern nur als Zeugen. Es wurden keine Ergebnisse dieser Ermittlungen öffentlich bekannt. Eine Telepolis-Anfrage hierzu ließ die Pressestelle der Generalstaatsanwaltschaft in Kiew unbeantwortet.
Die Untersuchungen gingen immerhin auf Filmmaterial der BBC zurück. Reporter Gabriel Gatehouse und sein Kameramann Jack Garland hatten an diesem Vormittag gefilmt, wie jemand, der einen grünen Helm der Maidankämpfer trug, aus dem Zimmer Nr. 1132 feuerte, in dem der Swoboda-Abgeordnete Igor Jankiw wohnte. Jankiw, der aus der Westukraine stammt und bis 2012 im Parlament saß, ist selbst Sportschütze und Schießlehrer, fand der ukrainische "Wochenspiegel" (Dserkalo Tischnja) heraus.
Maidan-Militante schossen am 20. Februar zuerst
Für weitaus mehr Aufklärung als die GPU sorgte ein Jahr nach dem Massaker dann die BBC selbst. Sie zeigte in einem Bericht Bildbeweise und Geständnisse von Maidan-Heckenschützen aus dem Konservatorium. Von diesem Nachbargebäude des Hotels feuerten Schützen am Morgen des 20. Februar 2014 auf Berkut.
Ein ukrainischer Fotojournalist machte am Tag des Massakers gegen 8 Uhr Bilder von bewaffneten Maidankämpfern in dem Konservatorium. Einer habe ein Jagdgewehr gehabt, einen anderen habe er mit einer Kalaschnikow gesehen und draußen zwischen den Säulen lagen noch mehr Bewaffnete, erinnerte sich der Fotograf.
"Maidan-Selbstverteidiger" bildeten bewaffnete Gruppen
Der BBC gelang es, auch einen der damaligen Schützen anonymisiert vor die Kamera zu holen. Dieser erzählte, dass es der Maidan-Sicherheitsdienst unter dem Vaterland-Politiker Andrij Parubij war, der Maidankämpfer mit Schießausbildung rekrutierte und mit Gewehren ausrüstete. Wenn es ernst werde, sollten sie feuern, lautete die Anweisung.
Der Interviewte bestreitet, Polizisten erschossen zu haben, er habe sie nur verwundet. Doch tatsächlich wurden an diesem Morgen aus dem Konservatorium heraus nicht nur mehr als 30 Berkut-Männer verletzt, sondern auch drei erschossen. Parubij sagte später, sein Sicherheitsdienst konnte keine Schützen ausfindig machen. Der anonyme Schütze erzählte der BBC jedoch, dass die Maidan-Security ihn sogar sicher aus dem Stadtzentrum herausgeleitet habe.
Die Initiative zum Wiederentflammen der Gewalt in der Kiewer Innenstadt am 20. Februar ging demnach von Maidankämpfern aus. Nachdem der Tag zuvor mit deutlich weniger Gewalt verlaufen war, zwangen die militanten Maidankräfte die Sondertruppe Berkut mit den Schüssen nun zum Rückzug. Maidankampfgruppen rückten nach und besetzten u.a. gegen 9 Uhr das Hotel Ukraina.
Maidankämpfer feuerten auch aus ZDF-Hotelzimmer
Zum Teil bis heute gilt die Tatsache, dass Maidankämpfer aus dem Hotel schossen, auch in westlichen Medien als reine Unterstellung oder wird gar nicht thematisiert. Eine durchaus fragwürdige Rolle spielte hierbei auch das ZDF. Der deutsche öffentlich-rechtliche Sender hatte bereits am Tag des Massakers klare Beweise dafür, dass Maidankämpfer aus dem Hotel feuerten, denn sie schossen auch aus einem ZDF-Zimmer im 14. Stock. Das anwesende Kamerateam hatte die Schützen dabei gefilmt.
Diese wichtige Information zum Blutbad machte der Sender jedoch erst zwei Wochen später öffentlich. Im ZDF-Spezial am Abend des 20. Februar wurden die Schüsse aus dem ZDF-Zimmer genauso wenig thematisiert wie in der nächsten Spezial-Sendung am 22. Februar. Auch in Live-Schalten dieser Tage erwähnten die ZDF- und Phoenix-Korrespondenten Bernhard Lichte, Britta Hilpert und Anne Gellinek den Fall nicht.
ZDF: Brisantes Bildmaterial erst im März gezeigt
Erst am 6. März, also genau 14 Tage nach den Maidan-Todesschüssen, zeigte der Sender eher nebenbei eine kurze Sequenz der Bilder in einer Sondersendung, die sich jedoch vor allem mit der Lage auf der Krim beschäftigte. Aus der ZDF-Mediathek wurde der Beitrag nach einem Jahr turnusgemäß gelöscht, auf der Video-Plattform YouTube finden sich die Bilder noch. Auch Russia Today hatte die Schützen gefilmt.
Korrespondentin Britta Hilpert verteidigt gegenüber Telepolis die Entscheidungen des Senders: In der Berichterstattung des ZDF seien am 20.Februar die Schießerei, die Toten und Verletzten sowie die politischen Auswirkungen des Vorfalls Thema gewesen, erklärt sie. Der Fakt, dass auch Maidankämpfer Schusswaffen hatten und geschossen haben, sei von dem Sender in Wort und Bild berichtet worden.
"Dass dies auch aus unserem kurzzeitig gekaperten Hotelzimmer geschah und so uns als Berichterstatter in Gefahr brachte, halte ich angesichts der Tatsache, dass Menschen auf beiden Seiten verletzt und getötet wurden, für zweitrangig", erläutert die Journalistin. "Wir haben das Material dann eingesetzt, sobald sich das Tempo der zu berichtenden Ereignisse ein wenig verlangsamte und so die Zeit war, genauere Fragen über den Hergang des 20. Februar zu stellen."
Filmte das ZDF einen der Todesschützen?
Wichtig war das Filmmaterial jedoch nicht, weil durch die Schützen indirekt auch ZDF-Journalisten gefährdet wurden. Heikel waren die Bilder zum einen viel mehr, weil auch für deutsche Medienkonsumenten damit endgültig belegt wurde, dass es sich bei Maidan-Aktivisten nicht nur um friedliche Demonstranten, sondern auch um militante Bewaffnete handelte, die bereit waren, mit Schusswaffen bis zum Äußersten zu gehen. Auch wenn der politische Zündstoff der Schützen-Szenen in Hilperts späterem Beitrag gar nicht deutlich wird, so hätte eine Ausstrahlung noch am selben Abend die öffentliche Reaktion auf die Todesschüsse womöglich stark verändert.
Die Bilder waren zum anderen aber vor allem deshalb hochbrisant, weil bereits in den Tagen nach dem Blutbad bekannt wurde, dass Maidankämpfern auch in den Rücken geschossen wurde.
Zudem belegen andere Aufnahmen, dass die Schützen aus dem ZDF-Zimmer Teil einer größeren, mit Schusswaffen ausgerüsteten Kampfgruppe waren. Rund 20 der Maidan-Paramilitärs stürmten vormittags in das Hotel und verteilten sich auf die Fahrstühle, wie Bilder des französischen Senders "iTele" belegen. Reporter, die die Bewaffneten dabei filmten, wurden von diesen angeschrien und ihre Kamera-Objektive zugehalten. Bislang ist unbekannt, ob und wohin die anderen Bewaffneten der Gruppe mit ihren Gewehren feuerten.
Das Fenster des ZDF-Zimmers jedenfalls zeigte in südöstliche Richtung, bestätigte die damalige ZDF-Korrespondentin Britta Hilpert nun im Gespräch mit Telepolis. Somit hatten die Schützen sowohl die Möglichkeit, in Richtung der Polizeibarrikade auf der Institutska-Straße zu feuern, als auch auf die davor liegende Todeszone, in der an diesem Vormittag rund 30 vorrückende Maidankämpfer gezielt erschossen wurden. Da beide Orte auf derselben gedachten Linie vom Hotelzimmer aus lagen, ist nicht klar, auf wen die Maidankämpfer aus dem ZDF-Zimmer tatsächlich schossen. Als professionelle Scharfschützen sind die Männer im ZDF-Zimmer, was ihre Ausrüstung angeht (vermutlich handelt es sich um das doppelläufige sowjetische Jagdgewehr IZh-56), aber nicht einzuordnen.
"Als die Kämpfer das Zimmer kaperten, war ich nicht dort", berichtet Hilpert gegenüber Telepolis. Die Militanten seien ins Zimmer gestürmt, habe ihr das dort anwesende ZDF-Kamerateam erzählt. "Das Team war in heller Aufregung und das Hotelpersonal war nicht mehr sichtbar", erinnert sich Hilpert, die damals als Korrespondentin in Kiew aushalf.
"Das Hotel war mitten auf der Frontlinie. Durch das Schießen aus den Zimmern war mir klar, dass das Hotel deshalb noch mehr zur Zielscheibe wird." Sie verlegten die Schnittplätze weg von den Fenstern und zogen die Gardinen zu, erzählt die ZDF-Reporterin. Nur ab und zu habe sie in dieser Phase noch kurz aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie Maidankämpfer mit ihren Skihelmen hinter Bäumen Deckung suchten.
Schon morgens gab es erste Gerüchte über Sniper
Scharfschützen auf Dächern habe Hilpert selbst nicht gesehen, auch nicht als sie zwischen 10 und 11 Uhr von einem Pressetermin in der deutschen Botschaft über den Maidan und angrenzende Straßen zurück zum Hotel kam. Auf dem Weg hörte sie erste Gerüchte über "Sniper", die Demonstranten vom Dach des Postgebäudes am Maidan getötet haben sollen.
Das ZDF habe nicht verschwiegen, dass Maidankämpfer bewaffnet waren, betont Hilpert. "Natürlich hatten manche Waffen. Ich habe es selbst gesehen, aber ich habe keine mit Scharfschützengewehren gesehen." Insgesamt sei es gespenstisch gewesen, wie schnell sich die Lage verändert habe. Schon am folgenden Tag sei die Polizei komplett verschwunden gewesen, kurz darauf auch Präsident Janukowitsch.
Der 20. Februar sei eine absolute Ausnahmesituation gewesen, unterstreicht Hilpert. Chaos, Angst und Schock dominierten im Hotel. In der Lobby wurden Verwundete und Sterbende notdürftig behandelt. Immer wieder durchstreiften Maidankämpfer die Flure und schauten in die Zimmer auf der Suche nach Verdächtigen. Hilpert habe sich bei einem der Kommandanten darüber beschwert.
Wann sie das Bildmaterial von den Schützen im ZDF-Zimmer das erste Mal gesehen und für den Beitrag geschnitten habe, daran kann sich Britta Hilpert nicht mehr erinnern, sagt sie. Das ZDF nutzte das brisante und exklusive Filmmaterial jedenfalls nicht, um diesen Fall weiter zu recherchieren.5
Generalstaatsanwaltschaft fragt nicht nach
Anders als noch beim BBC-Material nutzte auch die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft die TV-Bilder des ZDF nicht für ihre Ermittlungen. Die Justizbehörde stellte keine Anfrage an den Sender wegen des Filmmaterials, bestätigt ZDF-Sprecher Thomas Hagedorn auf Telepolis-Nachfrage. Die ukrainischen Ermittler luden die damals im Hotelzimmer anwesenden ZDF-Mitarbeiter auch nicht zu Zeugenaussagen vor. Besteht bei der ukrainischen Justiz kein Interesse an der Identitätsfeststellung dieser Schützen?6 Eine Telepolis-Anfrage dazu beantwortete die GPU nicht.
Dagegen sprechen zumindest Informationen Ivan Katchanovskis, der von Ermittlungen der GPU weiß, die sich sehr wohl mit dieser Schützengruppe befassten. Ein Staatsanwalt habe in Kiew eine richterliche Genehmigung beantragt, um die Handy-Daten eines der Gruppenmitglieder zurückzuverfolgen, nachdem die GPU durch Datenabgleich ein Mobiltelefon identifizieren und dieser Gruppe zuordnen konnte. Dies alles war in einer öffentlichen Datenbank von Gerichtsentscheidungen nachzulesen, so Katchanovski.7 Die Gruppe wird von der GPU, so stand dort zu lesen, als Mordverdächtige sowohl im Fall von Polizisten als auch von Demonstranten eingestuft. Offizielle Folgen scheint dies bislang nicht gehabt zu haben. Angeklagt sind weiter nur Berkut-Leute.
"Am besten dokumentierte Massentötung"
Die Untersuchungen zu den vier am 20. Februar erschossenen und mehr als 30 Verwundeten Polizisten laufen getrennt von dem Verfahren zu den erschossenen Maidankämpfern und -helfern ab - obwohl mehrere Beweise, wie gleiche Kugeln und vergleichbare Schusswunden darauf hindeuten, dass Polizei und Demonstranten durch dieselben Schützen getötet wurden, unterstreicht Ivan Katchanovski. "Die Ermittler haben nicht mal versucht, die Kugeln zu vergleichen, um herauszufinden, ob beide Gruppen aus denselben Waffen getötet wurden."
Es sei unmöglich, dass erfahrene GPU-Ermittler so viele grundlegende Fehler immer in Richtung der Regierungsversion vom Massaker nur zufällig begehen, zweifelt Katchanovski. "Das Maidan-Massaker ist vielleicht die am besten dokumentierte Massentötung in der Geschichte." Es wäre durchaus schnell zu lösen gewesen, ist der gebürtige Westukrainer überzeugt. Das dies nicht geschehen sei, sei nur ein weiterer Indikator dafür, dass die Untersuchungen aus politischen Gründen bis heute verfälscht werden.
Opferanwälte: Generalstaatsanwaltschaft und Staatsspitze blockieren
Opferanwälte beschwerten sich in Interviews immer wieder, dass es weder unter dem ersten Generalstaatsanwalt nach dem Machtwechsel, Oleh Machnizkyj (Swoboda), noch unter dem zweiten, Vitalij Jarema (Vaterland-Partei), eine ernsthafte Untersuchung der Morde gab. Besonders unter dem Swoboda-Mann seien zahlreiche Beweise verschwunden oder vernichtet worden, so die Juristen. Fraglich dabei bleibt, ob es alte Seilschaften der Sicherheitskräfte sind, die hier etwas verschleiern wollen, wie viele Opferanwälte vermuten, oder ob die neuen Machthaber Spuren verwischen wollen.
Unter dem am 16. Februar auf Druck von Poroschenko zurückgetretenen Chef-Staatsanwalt Schokin seien die Ermittlungen vor allem durch die Staatsspitze und das Innenministerium behindert worden. Schokin sei nichts weiter als eine Marionette Poroschenkos, sagt etwa der ukrainische Journalist und Abgeordnete Sergej Leschtschenko:
Der Generalstaatsanwalt ist keine eigenständige Figur, sondern vollständig von Präsident Poroschenko abhängig. Ich würde ihn sogar als ein Spielzeug von Poroschenko bezeichnen. Kein einziges Verfahren kann beginnen, wenn der Präsident das nicht will.
Es gebe zahlreiche Fälle in denen die GPU nicht ermittele, obwohl ihr Unterlagen auf dem silbernen Tablett geliefert würden.
Janukowitsch: "Habe keinen Schießbefehl gegeben"
Die Staatsanwaltschaft habe bislang auch keine Beweise für ihren Vorwurf vorgelegt, dass der damalige Präsident Janukowitsch die Schüsse angeordnet habe, sagt Ivan Katchanovski. Viktor Janukowitsch selbst sprach in einem Interview mit der BBC im Juni 2015 davon, dass er nie einen Schießbefehl oder Ähnliches herausgegeben habe. "Ich war kategorisch dagegen", betonte der abgesetzte Präsident der Ukraine. "So etwas lag auch gar nicht in meiner Befugnis", ergänzt er auf Nachfrage. Er habe keine Informationen, dass überhaupt jemand einen Feuerbefehl gegeben habe, sagte er in dem Interview mit dem britischen Sender in seinem Moskauer Exil.8
Zweimal erklärte die GPU im vergangenen Jahr zudem, dass der russische Präsident Wladimir Putin nichts mit den Todesschüssen auf dem Maidan zu tun habe. "Wir haben keine russische Spur", sagte Generalstaatsanwalt Schokin. "Die Materialien, die wir jetzt haben, machen es unmöglich, einen solchen Schluss zu ziehen. Nicht, weil wir diesen Schluss nicht ziehen wollten, sondern weil es keine Grundlage dafür gibt." Der ukrainische Präsident Poroschenko und Walentyn Nalywajtschenko, Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, hatten zuvor behauptet, Wladimir Putins persönlicher Berater, Wladislaw Surkow, sei als Befehlsgeber der Schützen in das Blutbad involviert gewesen.
Täter des 18. Februar ebenfalls unbekannt
Weiter unaufgeklärt bleiben auch die zahlreichen Todesfälle sowohl unter Maidananhängern als auch unter Sicherheitskräften in den Tagen vor dem 20. Februar. Schwere Straßenschlachten infolge eines Maidan-Marsches aufs Parlament forderten etwa am 18. Februar zweistellige Opferzahlen auf beiden Seiten. Bislang wurden keine Ermittlungsergebnisse der GPU hierzu veröffentlicht, erläutert Ivan Katchanovski. Es gebe nicht mal öffentlich bekannte Verdächtige.9
Klar ist heute, dass auch vor dem 20. Februar Maidankämpfer schon Schusswaffen einsetzten. Maxim Popow, ein Sanitäter des Roten Kreuzes, bestätigte laut einem Bericht der Welt, dass schon am 18. Februar scharf auf Polizisten geschossen wurde. Er selbst habe hinter einer Barrikade zwei mit Jagdwaffen erschossene Polizisten liegen sehen.
Ein Berkut-Mann in dem Artikel unterstreicht dies genauso wie Oberst Timur Zoj von der Spezialeinheit Tiger in einem Spiegel-Online-Artikel. Er verlor bereits am 18. Februar zwei seiner Leute durch Kugeln, die vom Maidan abgefeuert wurden. Ähnliches erlebte sein dort zitierter Berkut-Kollege Andrej.
"Ein Schuss hat meine Jacke an der rechten Schulter zerrissen. Neben mir traf eine Kugel einen Kameraden in den Bauch." Zwei Tage später, am Morgen des 20. Februar 2014, gerät Andrejs Berkut-Stoßtrupp massiv unter Feuer, fünf seiner Leute werden verletzt. Andrej hat 23 Jahre bei Berkut gedient, und er ist sich sicher, dass aus einer Kalaschnikow auf seine Männer geschossen wurde.
Arbeitsverweigerung einer staatlichen Institution?
Dass diese Täter aber auch die Mörder von Maidankämpfern durch die GPU noch zweifelsfrei ermittelt werden, wird mit jedem weiteren Tag unwahrscheinlicher. Zwar ist es üblich, dass solch komplexe Ermittlungen lange Zeit in Anspruch nehmen, doch scheint es im Fall der Maidan-Todesschüsse - wie gezeigt - vor allem an politischem Willen zur Aufklärung zu mangeln.
Es kursieren viele Theorien darüber, was am 20. Februar vor zwei Jahren in Kiew geschah. Von bezahlten Profi-Scharfschützen über kaltblütige Polizisten bis hin zur wilden Ballerei beider Seiten, von CIA über FSB bis zu rechtsextremen Gladio-II-Snipern sind Unmengen von Vermutungen im Umlauf.
Einzelne Wissenschaftler und Journalisten haben teils auf eigene Faust umfangreiche Aufklärungsarbeit geleistet. Doch für eine vollständige glaubwürdige Aufklärung des Verbrechens können nur großformatige, professionelle Ermittlungen sorgen. Dass die zuständige staatliche Institution in der Ukraine aus politischen Gründen sachliche Ermittlungsarbeit verweigert, scheint nach zwei Jahren jedoch mehr als offensichtlich.
Immerhin: BBC-Reporter Gabriel Gatehouse, der als einzelner Journalist viel zur Wahrheitsfindung in der ganzen Angelegenheit beigetragen hat, berichtete vor einem Jahr, dass er mit einem erfahrenen Ermittler der GPU gesprochen habe. Dieser sei überzeugt, dass wer auch immer vom Hotel Ukraina geschossen hat, beide Seiten ins Visier nahm. Es sei ein ausgearbeiteter Plot gewesen, um maximales Chaos zu stiften. Zumindest inoffiziell gibt es bei der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft also mehr als nur einen Wissensstand.