Frische Luft für Muslime

...fordert Salman Rushdie

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Salman Rushdie verfügt noch immer über einige Prominenz bei den Selbstmordattentatsanwärtern. Auf einem Bewerbungsformular für Märtyrer, das letztes Jahr an iranischen Universitäten verteilt worden sein soll, konnten die Todesaspiranten zwischen drei Zielen wählen: den "Besatzern von heiligen islamischen Orten im Irak", den "Besatzern von Jerusalem" und eben Salman Rushdie. Seine jüngster Kommentar zu den Bombenanschlägen in London dürften dem Schriftsteller weiter ein Top-Ranking auf der Hassliste der Radikalen garantieren

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Rushdie fordert in seinem Appell - "Muslims Unite!" - die historische Einordnung des heiligen Buches, des Koran. Ein Affront, der nicht nur gegen die extremistischen Muslime zielt, sondern im Grunde gegen alle Traditionalisten, da der Koran als Wort Gottes gilt, ungeschaffen, also aus keinem Entstehungsprozess heraus entwickelt: eine Offenbarung außerhalb jeder historischen Relativierung.

Im starrsinnigen Beharren auf obsolet gewordene Traditionen liegt für Rushdie das Kernproblem, welches er hinter den Anschlägen in London erkennt. Die Entfremdung der jüngeren Generation der Muslime würde erleichtert und mehr noch vertieft durch die vom Rest der Gesellschaft abgeschottete Lebensweise von Muslimen, die sich eigentlich nur in ihren Kreisen bewegten. Keine neue Erkenntnis, die der Schriftsteller hier liefert, aber er geht in den Forderungen, die er daraus folgert, weiter als Politiker, die sich in engerem Geschirr bewegen. Rushdie fordert:

..eine muslimische Reformation, die nicht nur die Ideologen des Dschihad bekämpft, sondern es auch mit den staubigen, stickigen Seminaren der Traditionalisten und die Fenster der geschlossenen Gesellschaften endlich öffnet und frische Luft hereinläßt

Während der englische Regierungschef Tony Blair zwar einerseits versucht den muslimischen Hasspredigern das Handwerk zu legen, aber andrerseits für mehr "moderate" Faith Schools plädiert, will Rushdie einen ganz neuen "erzieherischen Impetus", der radikal dort ansetzt, wo sich bislang nur wenige hinwagten: Es sei höchste Zeit, so der Kernpunkt seines Appells, dass Muslime endlich dazu befähigt werden, die Offenbarung ihrer Religion als ein Ereignis zu studieren, das "innerhalb der Geschichte" stattfand und nicht in übernatürlicher Weise "über ihr".

Nur wenigen Muslimen sei es bislang gestattet gewesen, den Koran unter Berücksichtigung seiner historischen Bedingungen zu studieren. Das Beharren innerhalb des Islam darauf, dass der Text des Koran das unfehlbare, ungeschaffene Wort Gottes sei, mache den analytischen und gelehrten Umgang mit dem Buch unmöglich. Die traditionellen Interpreten des Koran, die sich streng an die Buchstaben des Buches hielten, die Ordnung der Umma im 7.Jahrhundert zum Maß aller Dinge erheben und die Lebensführung des Propheten als Richtlinie für heutige Zeiten, hätten ein Problem:

Warum sollte Gott von den sozioökonomischen Bedingungen Arabiens im 7.Jahrhundert beeinflusst worden sein? Warum sollten die persönlichen Umstände des Propheten irgendetwas mit dieser Botschaft zu tun haben?

Die Weigerung der Traditionalisten die Geschichte anzuerkennen spiele in die Hände der "islamo-faschistischen" Buchstabenausleger, welche den Islam in "ihre eisernen Gewissheiten und unveränderlichen Absolutheiten" sperren. Die Antwort auf die Londoner Bomber liegt für Rushdie genau darin: Zu zeigen, dass der Koran als historisches Dokument interpretierbar ist und damit "reinterpretierbar", um den neuen Lebensbedingungen zu folgen. Gesetze, die im 7.Jahrhundert aufgestellt wurden, sollten endlich den Weg frei machen für die Notwendigkeiten des 21.Jahrhunderts. Die muslimischen Gelehrten sollten akzeptieren, dass der Islam eine Reformation nötig hat, dann würden sie zur Lösung des Problems beitragen. Wenn nicht, dann würden sie weiterhin Teil des Problems sein.