Funktionieren, auch unter widrigen Umständen
Das Bakterium Escherichia coli hat Strategien entwickelt, um externe Informationen auch bei starken Störungen präzise zu verarbeiten
Zellen müssen mit den unterschiedlichsten Signalen ihrer Umgebung umgehen, nur so sind sie in der Lage, zu überleben. Fehler bei der Signalübertragung bewirken Fehlentwicklungen - die gravierendste ist Krebs. Die zellularen biochemischen Netzwerke, die in diese Prozesse mit eingebunden sind, müssen also äußerst stabil sein und sie müssen auch unter widrigen Umständen funktionieren - wissenschaftlich bezeichnet man das als Robustheit. Wenn Forscher sich nun daran machen, solche Netzwerke zu untersuchen, stellen sie fest, dass sie oft komplizierter sind als nötig. Am Beispiel des Bakteriums E. coli haben Forscher der Universitäten Freiburg und Heidelberg ein solches Netzwerk untersucht und versucht zu beantworten, warum das so ist.
Die Chemotaxis bei E. coli
Einzeller wie Bakterien brauchen Nahrung, um sich fortpflanzen zu können. Einen evolutionären Vorteil haben daher Bakterienstämme, die aktiv nach ihrer Nahrung suchen. Dazu verfügen viele von ihnen über ein informationsverarbeitendes Proteinnetzwerk, den so genannten chemotaktischen Apparat. Bei E. coli funktioniert der in etwa folgendermaßen: In einem neutralen Medium bewegt sich ein E. coli-Bakterium gemächlich fort und ändert in zufälligen Abständen die Bewegungsrichtung. Stößt es jedoch auf einen Lockstoff, z. B. Glukose, erkennt es schon sehr kleine Steigerungen der Konzentration und bewegt sich auf die Quelle zu, solange die Konzentration ansteigt.
Die Informationen über die Nahrungskonzentration nimmt E. coli über spezielle Rezeptoren an der Zelloberfläche wahr, die die Information über die Aktivierung eines Proteins im Zellinneren weitergeben. Die Konzentration der aktivierten Proteine entscheidet nun über das Schwimmverhalten des Bakteriums: geht es weiter geradeaus oder muss die Richtung geändert werden?
Diese Art der Informationsübertragung klingt sehr einfach, doch tatsächlich ist sie nicht unproblematisch: Wie die Wissenschaft herausgefunden hat, schwanken die Proteinkonzentration in Zellen auch bei gleichem Genom sehr stark (bis Faktor 10). Das kann die Interpretation der Signale empfindlich durcheinanderbringen. Für die Chemotaxis bei einem Bakterium würde das z. B. bedeuten, dass es die Richtung, in der die Nahrungsquelle liegt, nicht mehr richtig wahrnimmt. Was drastische Konsequenzen für die Wachstumsgeschwindigkeit der gesamten Population haben könnte. Doch genau das passiert eben nicht.
Je stärker das Leuchten, desto höher die Konzentration
Warum das so ist, haben Markus Kollmann vom Institut für Physik der Universität Freiburg und Victor Sourjik, Molekularbiologe am Zentrum für Molekularbiologie der Universität Heidelberg, jetzt untersucht. In der aktuellen Ausgabe von Nature berichten sie. Für ihre Experimente wählten sie das E. coli-Bakterium, weil es beliebig manipulierbar und seine Chemotaxis gut untersucht ist.
Der chemotaktische Apparat von Bakterien ist recht gut erforscht. Dabei hat man festgestellt, dass es Proteine gibt, die bei fast allen Einzellern vorkommen und die alle dieselbe Funktion haben, die aber mathematisch betrachtet eigentlich überflüssig sind. Da stellt man sich die Frage, warum die Evolution sie über Jahrmillionen mitgeschleppt hat. Zumal bekannt ist, dass Bakterien stark optimiert sind, möglichst wenige Proteine zu verwenden, denn das kostet Energie. Die Idee für unsere Arbeit war nun, einen Organismus zu untersuchen, den man relativ genau kennt und der über ein Netzwerk verfügt, das relativ klein ist und das man aber gut in einem mathematischen Modell abbilden kann, um diese Frage zu beantworten
Projektleiter Markus Kollmann gegenüber Telepolis
Beobachtet man, wie ein Schwarm von E. coli auf einen Lockstoff reagiert, erkennt man deutlich eine gewisse Streuung der Reaktionen. Doch ein bestimmter Grad von Abweichung wird nicht überschritten. Da es nun potenziell so ist, dass jede Zelle Informationen anders interpretieren kann, muss es bestimmte Designprinzipien im Netzwerk geben, die Abweichungen möglichst gering halten.
Um diesen Prinzipien nachzuspüren, versahen Kollmann und Sourjik bei ihren Experimenten die an der Chemotaxis beteiligten Proteine mit einem fluoreszierenden Molekül, was ihnen eine präzise Bestimmung von deren Konzentrationen ermöglichte - je stärker das Leuchten, desto höher die Konzentration. In einem ersten Versuchsgang beobachteten sie, wie stark sich die Proteinkonzentrationen in einer E. coli-Population unterscheiden. In einem zweiten Satz von Experimenten wurde getestet, was passiert, wenn die Konzentration aller beteiligten Proteine jeweils überexprimiert wird. Was man am Schwimmverhalten des Bakteriums genau mitverfolgen kann. Dabei erwies sich das Chemotaxis-Netzwerk von E. coli als erstaunlich stabil: Sogar bei der sechsfachen Menge des jeweiligen Proteins funktionierte es perfekt.
Wie wird diese Perfektion erreicht? Wie Kollmann und sein Team feststellten, wird zugleich mit der Aktivierung eines Proteins immer auch ein Protein aktiv, das Dämpfend wirkt. "Es gibt zwei Designprinzipien zwischen den verschiedenartigen Fluktuationen", so Kollmann. "Eines ist ein Mechanismus, bei dem der Effekt der Überexpression herausgerechnet wird, das andere ist ein Dämpfungsmechanismus, ähnlich einem Fliehkraftregler bei Dampfmaschinen."
Zu ihrem Erstaunen stellten die Forscher auch fest, dass die Chemotaxis sogar noch besser funktioniert, wenn man die Proteine überexprimieren lässt. Beim Wildtyp von E. coli kommen jedoch so hohe Konzentrationsmengen nicht vor. Der Grund: Er ist das ökonomischste Modell - es bietet Stabilität, die wirtschaftlich ist.
Die Prinzipien eines solchen robusten Netzwerkdesigns finden sich laut Kollmann in allen bekannten chemotaktischen Bakterienarten wieder. Der evolutionäre Druck auf Bakterien, ihre Nahrung mit immer höherer Genauigkeit zu lokalisieren, hat zu speziellen Designprinzipien geführt, die für die Informationsverarbeitung überflüssig sind, die das Netzwerk aber unempfindlich machen gegen Störungen: Die Bakterien sind robust geworden gegen die Fluktuation der Proteine in ihrem Inneren. Der "Preis", den sie dafür zahlen müssen, ist der Aufbau einer komplizierteren Maschinerie.
Neues Schlagwort Systembiologie
Die Ergebnisse von Kollmann und Sourjik sind aber noch aus weiteren Gründen spannend. Das Stichwort lautet Systembiologie (vgl. auch Innovative Tauschbörsen). Sie bildet ein neues Forschungsgebiet, auf dem man versucht, nicht mehr nur zu verstehen, was ein einzelnes Gen oder Protein macht, sondern wie ihre Netzwerke funktionieren und warum sie sind, wie sie sind. Ziel ist es, eine Zelle oder ein Organ mit allen seinen Reaktionen zu verstehen, es mathematisch abzubilden und am Computer zu simulieren. Die jeweiligen Ergebnisse wiederum müssen mit den Beobachtungen aus Laborversuchen übereinstimmen.