Innovative Tauschbörsen
Bakterien passen sich verändernden Umweltbedingungen durch Gentausch an
Bakterien können sich schnell neuen Bedingungen anpassen, also beispielsweise auch gegenüber Antibiotika immun werden. Dabei stehen offenbar nicht Mutationen oder genetische Veränderungen durch Teilung im Vordergrund, sondern der Austausch von Genen zwischen Bakterien (vgl. Schwunghafter Tauschhandel im Dickdarm). Dieser horizontale Gentransfer, bei dem Plasmide oder auch ein ganzes Bakterienchromosom über einen schlauchartigen Fortsatz von einer Geberzelle zu einer anderen weiter gegeben werden, ist auch deswegen so effektiv, weil dabei das Pool aller Bakterienpopulationen als globale Tauschbörse benutzt wird, Gene also von einer Bakterienart zu einer anderen übertragen und dann bei Zellteilungen reproduziert werden können. Bakterien experimentieren gewissermaßen und setzen auf Schnelligkeit der Reproduktion und auf pure Quantität, um die Risiken des Gentausches zu überstehen und zu nutzen.
Eukaryoten, die komplexer sind und sich langsamer fortpflanzen, haben im Gegensatz zu den Bakterien mit der geschlechtlichen Sexualität den vertikalen Gentransfer auf Kosten der allseitigen Paarung entwickelt. Dabei werden Gene von den Eltern einer Art über Rekombination an die Kinder weiter gegeben. Vermutet wird, dass Sexualität die Reproduktion einerseits durch eingeschränktes Kopieren sichert, aber gleichzeitig durch das Cross-over schnellere Veränderungen ermöglicht. Durch die Rekombination der elterlichen Genome werden die Folgen von schädlichen Mutationen begrenzt und die von vorteilhaften Mutationen oder auch von Allelen besser genutzt. Allerdings kann es bei Eukaryoten durchaus auch zu einem horizontalen Gentransfer kommen, beispielsweise von einem Parasiten auf eine Wirtszelle oder umgekehrt (Tausch ohne Grenzen). Überdies können Bakterien durch Konjugation offenbar auch Gene an höhere Zellen weitergeben.
Ungarische und britische Wissenschaftler haben in einer in Nature Genetics vorab veröffentlichten Studie "Adaptive evolution of bacterial metabolic networks by horizontal gene transfer" nun zeigen können, dass horizontaler Gentransfer durch Konjugation, dem Sex der Bakterien ohne Reproduktion, eine entscheidende Rolle in der Evolution von Bakterien spielt. Dabei untersuchten sie die metabolischen Netzwerke des E. coli-Bakteriums, das 904 Proteine und 931 biochemische Reaktionen umfasst. Seit der Trennung der Entwicklung der E. coli-Bakterien vor 100 Millionen Jahren von den Salmonellen hat sich nur ein Gen durch Duplikation gebildet, die restlichen der untersuchten 450 Gen-Duplikationen haben sie mit den Salmonellen gemeinsam. Genduplikationen haben also in der Vergangenheit eine größere Rolle gespielt, da sie aber sich später als meist schädlich erweisen, werden sie schnell aus den Bakterienpopulationen eliminierft.
Die Veränderungen während der letzten 100 Millionen Jahre sind also durch horizontalen Gentransfer oder durch Verlust von Genen verursacht worden. Ausgehend von der Annahme, dass Genverluste doppelt so häufig vorkommen wie ein Generwerb durch horizontalen Transfer, sind durch diesen zwischen 15 und 32 Gene der insgesamt 900 Gene des metabolischen Netzwerks hinzugekommen.
Auffällig ist, dass nur 7 Prozent der neuen Gene unter den guten Laborbedingungen wirklich notwendig sind, bei den anderen Genen sind es 23 Prozent. Die Wissenschaftler erklären sich den Erwerb der fremden Gene damit, dass diese zwar nur die Fitness in einer stabilen Umgebung ein klein wenig erhöhen, aber vermutlich die Anpassung an sich verändernde Bedingungen erleichtern und beschleunigen könnten. Das konnten die Wissenschaftler zumindest durch Computersimulationen bestätigen, bei denen sie die Auswirkungen des Verlusts eines Gens unter über 100 unterschiedlichen Umweltbedingungen hinsichtlich der Biomasseproduktion berechneten. Die Gene, die während der Evolution am häufigsten erworben wurden oder verloren gingen, dienten der Anpassung an die veräönderten Umweltbedingungen, während die invarianten Gene zur Fitness der simulierten Bakterien in den meisten Umweltbedingungen beitrugen. Die Evolution, so folgern die Wissenschaftler, geschehe vor allem durch genetische Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen und nicht durch eine Optimierung im Hinblick auf eine stabile Umwelt.
Diese Theorie der Evolution wird dadurch bestätigt, dass die neu erworbenen Gene im Netzwerk in aller Regel dort angesiedelt sind, wo es die stärksten Interaktionen mit der Umwelt durch periphere Reaktionen wie Aufnahme von Nährstoffen und erste Verarbeitungsschritte, während die Gene im Kern stabil sind. Gene, die direkt miteinander verbunden sind und so Module darstellen, werden meist zusammen aufgenommen oder gehen zusammen verloren. Um die Evolution von genetischen Netzwerken zu erforschen, müsse man daher auch die Umweltbedingungen stärker in eine systembiologische Theorie einbeziehen, also im Fall von metabolischen Netzwerken berücksichtigen, welche Nährstoffe vorhanden sind und welche genetisches Material in anderen Bakterien durch Konjugation verfügbar ist.
Das Prinzip der Evolution durch Übernahme fremder Gene als Anpassung an veränderte Umwelten setzt also weniger auf Innovation durch eine Leistung, wie man sagen könnte, sondern durch die Benutzung von genetischen Tauschbörsen, aus denen bereits Vorhandenes aufgenommen und integriert wird. Ganz ähnlich läuft die Entstehung von Neuem auch bei geistigen Prozessen ab, auch wenn das lange Zeit durch den Geniekult verdeckt worden ist. Es ist vor allem die ungewohnte oder überraschende Kombination, das Sampling gewissermaßen, aus dem das Neue hervorgeht – und die Bereitschaft, Wissen zu "verschenken". Wollte man von den Bakterien zur Wissensgesellschaft eine Analogie ziehen, so wäre auch hier eine globale und offene Tauschbörse der "Ideen" die Voraussetzung dafür, dass schneller produktive Veränderungen eintreten können. Nicht das Einsperren, sondern die Weitergabe des Wissens beschleunigt die Wissensvermehrung. Aber natürlich sind Wissens- oder Informationsfragmente nicht mit Bakteriengenen vergleichbar, zudem müsste man auch wissen, unter welchen Bedingungen Bakterien am ehesten bereit sind, Gene an andere Bakterien weiter zu geben oder aufzunehmen – es sei denn, die F+ und F- Zellen. Empfinden beim bakteriellen Sex doch schon so etwas wie Lust.
Bacteria feel pressures to change in response to a changing world, and they react by 'stealing' genetic information from other, better adapted, types of bacteria. In this way, bacteria are just as lazy as humans: why invent the wheel twice if someone else has already found a solution to your problem?
Martin Lercher
Warum Martin Lercher von der University of Bath, einer der Wissenschaftler des Teams, den horizontalen Gentransfer in der Pressemitteilung der Universität als Stehlen bezeichnet und nicht beispielsweise als Schenken, verdankt sich vermutlich dem Versuch, die Meldung ein wenig aufzupeppen. Das sollte auch durch den Titel der Pressemitteilung: ‘Sex’ helps bacteria cope with a changing world geschehen. Lercher muss allerdings wissen, dass er eigentlich eine falsche Darstellung gibt, die dann auch unbesehen verbreitet wird, denn die Bakterien, die fremde Gene empfangen, "stehlen" diese nicht, sondern erhalten sie von den "männlichen" Bakterien mit einem F+ Plasmid, die Plasmabrücken" oder "Sex-Pili" formen können, über die sie dann ihre Gene dem "weiblichen" Bakterium übertragen. Hält die Brücke lange genug, wird das ganze Chromosom übergeben, meist bricht aber die Konjugation vorher zusammen. Möglicherweise aber bezeichnete Lercher die Weitergabe auch deswegen als Stehlen, weil heutzutage der Vorgang, einem Fremden etwas zu schneken, als abwegig erscheint?