Fußball und Gesellschaft: "Zwei Jahre, bis wir Weltmeister werden"

Florian Wirtz im Freundschaftsspiel Deutschland gegen Ukraine, 3. Juni 2024

Florian Wirtz im Freundschaftsspiel Deutschland gegen Ukraine, 3. Juni 2024. Bild: Vitalii Vitleo /Shutterstock.com

Hybris und Absturz: Die Bundesrepublik und ihre Nationalmannschaft – ein Psychogramm zwischen Selbstmitleid und Schuldabwehr zum Abschluss der EM.

Elfmeter ist, wenn der Schiedsrichter pfeift.

Franz Beckenbauer

Erfahrung ist keine Krankheit.

Bastian Schweinsteiger

Es ist vorbei. Mit einem ausnahmsweise einmal glücklichen Ausgang: Mit Spanien ist das mit Abstand beste Team des Turniers der letzten vier Wochen verdienter Europameister geworden. Die teuflische Effizienz, mit der es die quälende Destruktionsmaschine der Engländer kontrafaktisch bis ins Finale geschafft hatte und dabei stärkere Teams wie die Schweiz und die Niederlande mit Glück ausgeschaltet hatte, scheiterte schließlich doch an der Armada quirliger spanischer Offensivspieler.

Im Orbit deutscher Illusionen

Ikarus ist abgestürzt, völlig losgelöst von der Realität verglühte das deutsche Raumschiff schon im Viertelfinale im Orbit der eigenen Illusionen. Eine harte Bruchlandung nach dem Auftakt: Nie wieder waren die Fußballdeutschen so glücklich wie zu Anfang des Turniers nach dem 5:1 gegen Schottland im Eröffnungsspiel.

Von da an ging es bergab mit der Nationalmannschaft. Von da an wurde jedes Spiel ein bisschen schlechter als das Spiel davor.

Seien wir ehrlich: Niemand hätte vor dem Turnier gedacht, dass die deutsche Mannschaft überhaupt ins Viertelfinale kommt. Das Viertelfinale war das höchste der Gefühle und das Ausscheiden gegen die Spanier knapper als der Abstand zwischen der Qualität der beiden Mannschaften. Die DLF-Elf machte das wett durch den bekannten Kampfgeist und die Euphorie der Fans.

Rumpelfußball wie früher

In einem zumindest hatte Fußballdeutschland nach dem verdienten Ausscheiden im Viertelfinale recht: Der englische Schiedsrichter war nicht gut. Der englische Schiedsrichter war in gewissen Sinn das Problem dieser Partie.

Wäre der englische Schiedsrichter Taylor gut gewesen, dann hätte er Toni Kroos nach sieben Minuten, und seinem zweiten Foul am spanischen Mittelfeldstar Pedri vom Platz gestellt. Auch Bastian Schweinsteiger fand nach dem Spiel, über eine gelb-rote Karte hätte man sich nicht beschweren können.

Nun wissen wir, dass Mannschaften, die mit zehn gegen elf spielen, oft unerwartete Energien entwickeln und die numerische überlegene Mannschaft sich unter Druck gesetzt fühlt, diesen Vorteil auch in Resultate umzumünzen.

Die Deutschen aber versuchten wie die Engländer im Finale vor allem das Spiel der Spanier zu zerstören. Sie faulten spanische Mittelfeldspieler im Dutzend und zeigten Rumpelfußball wie früher. Doch am Ende schied Querpass-Toni ausgerechnet gegen seine Wahlheimat Spanien aus.

"Die Hand Gottes" (Diego Armando Maradona) half den Spaniern.

"Zieht den Spaniern die Badehose aus"

Auch ansonsten hatte sich Deutschland mehrfach disqualifiziert: Bis heute das Volk der Dichter und Denker dichtete es vor dem Spanien-Spiel das Poem: "Zieht den Spaniern die Badehose aus." Und nach dem Spiel ließen die Fans ihren Frust an dem spanischen Abwehrspieler Marc Cucurella aus, der von einem Deutschen im Strafraum an der Hand angeschossen wurde.

Auch wer die Ansicht der meisten Schiedsrichter-Experten oder des Ex-Spielers Stefan Effenberg, dass man dies nicht mit Elfmeter ahnden müsse, nicht teilen wollte, hätte doch seinen Zorn dann am Schiedsrichter auslassen müssen, nicht an einem Spieler, der nur für sein Team kämpft. "Eines Gastgebers nicht würdig" sei das Verhalten der deutschen Fans, meinte auch Sportreporter Reinhold Beckmann.

Selbstmitleid, Schuldabwehr, Schuldumkehr

Nach dem Spiel aber setzten die in Deutschland üblichen Reflexe ein: Selbstmitleid, Schuldabwehr, Schuldumkehr: "Ohhhhh, buhuuuuhu ... die Deutschen sind wieder betrogen worden." Vom Schiedsrichter, vom Spanier, vom Spielplan, vom Leben.

Alle, alle haben Schuld, nur die Deutschen nicht. Sie haben, wie immer, alles richtig gemacht. Nagelsmann hat sich nicht vercoacht und nicht falsch aufgestellt. Die Deutschen sind eigentlich auch die Stärkeren und sie sind nicht schwächer als die Spanier, sind nicht weniger spielbegabt, nicht weniger passstark und offensivstark – nein eigentlich hätten sie das Spiel haushoch gewinnen müssen und eigentlich waren sie ja schon spätestens seit der Vorrunde Europameister. Jetzt hat man ihnen wieder genommen, was ihnen doch eigentlich zusteht.

Inzwischen muss man das bekannte Lineker-Bonmot umdrehen: Fußball ist, wenn 22 Spieler c.a. 100 Minuten um einen Ball spielen und am Ende verlieren die Deutschen und es gewinnen die Engländer oder irgendwer, aber jedenfalls nicht die Deutschen.

In Ausschnitten denken

Ein kluger Autor hat anderenorts bemerkt, dass die Deutschen nur in Ausschnitten denken. Dass sie nur sehen, was sie sehen wollen und alles andere ausblenden. Man sieht die verpassten Chancen der eigenen Mannschaft, aber nicht die des Gegners. Nicht seine Stärken, nicht die eigenen Schwächen.

Man will nicht sehen, dass Schotten, Ungarn, Schweizer in der Vorrunde eher schwache Gegner waren. Man hätte sehr gerne mal die deutsche Nationalmannschaft in der Vorrunde gegen die Österreicher spielen sehen oder gegen die Slowaken oder gegen die Italiener oder gegen die Kroaten oder gegen den Niederländer.

Schönreden auf allen Ebenen

Zu diesem Ausblenden der Wirklichkeit und dem Schönreden auf allen Ebenen passt die unsägliche, geradezu absurd lächerliche politische Überhöhung, die der Fußballsport im Gegensatz zu anderen Sportarten in Deutschland reflexartig erfährt.

So auch diesmal: Ein Sommermärchen musste es schon sein, darunter ging nichts. Doch der Sommer war ein Winter, nicht nur meteorologisch. Dazu passt die Abschlusspressekonferenz von Bundestrainer Julian Nagelsmann vor einer Woche, die stellenweise wie eine Bewerbung fürs Kanzleramt wirkte: "Hin zu dieser geschlossenen Gruppe, weg von dieser unfassbaren Individualität."

Die Nationalmannschaft hat, folgt man Nagelsmann, Modellcharakter für die deutsche Gesellschaft. Von ihr kann man lernen, ein "wir" zu sein und dem Nachbarn zu helfen und sich nicht mehr zu streiten und politische Konflikte entweder gar nicht erst zu sehen, oder auszutragen wie eine Nachbarschaftshilfe.

Warum muss die Mannschaft Deutschland vereinen und politische Probleme lösen? Warum gibt es nicht realistischere Ziele, als in zwei Jahren Weltmeister zu werden?

Und wenn Nagelsmann solche vermessenen Vergleiche anstellt, dann muss man immer mitdenken, wer denn der Chef dieser Nationalmannschaft und des Trainingslagers und ihres angeblichen neuen Wir-Gefühls ist, das zwei schwache Auftritten wieder schmelzen werden wie ein Schneeflöckchen im Sonnenlicht.

An schwachen Gegnern aufgebaut

Die Nationalmannschaft hat sich an schwachen Gegnern aufgebaut und inspiriert, ohne je inspirierend zu spielen, vor allem, weil das Wunschdenken nicht nur unter den Fans, sondern auch in der Gesellschaft und in den Medien dominierte.

Das halbherzige Ergebnis der Nationalmannschaft und Auftreten entspricht auch dem Auftreten Deutschlands als Ganzem. Die Bahn sorgte für den hierzulande bekannten Verdruss, der aber ausländische Gäste mit ihren Klischees von deutscher Pünktlichkeit, deutscher Effizienz und "deutschen Tugenden" immer noch überrascht.

"Die Deutsche Bahn ist so im Oarsch", sangen die österreichischen Fans regelmäßig.

"United by football" – das Fußballspiel vereint und verbindet die Massen. Die Mehrzahl der Fans blieb auch in der Niederlage noch fröhlich und friedlich, und die Kraft des Fußballs ist ungebrochen.