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Gaskrieg eskaliert, Nato schaltet sich ein

Nord-Stream-Rohr in Kotka, Finnland. Bild: Vuo, CC BY-SA 4.0

Themen des Tages: Mögliche Sabotage der Nord-Stream-Pipeline vor Dänemark. Proteste in Ostdeutschland. Und eine Analyse des Bürgergeldes.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Der Gaskrieg zwischen Russland und dem Westen scheint am Dienstag eine neue Stufe erreicht zu haben.

2. Im Osten Deutschlands wächst der Unmut über die Auswirkungen von Krieg und Sanktionen.

3. Heute bei Telepolis: Kriegsdienstverweigerer in Russland, die Notwendigkeit von Verhandlungen mit Moskau und die Entzauberung des "Bürgergeldes".

Doch der Reihe nach.

Nord-Stream-1-Havarie: "Attacken auf die Infrastruktur"

Bisher wurde der Begriff "Gaskrieg" eher metaphorisch gebraucht. Seit Dienstag könnte er wörtlich zu nehmen sein: Vertreter mehrerer Nato-Staaten gehen nach einer Havarie der Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 vor der Ostsee-Insel Bornholm von einem Anschlag aus.

So zeigte sich Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am Dienstagabend davon überzeugt, dass es sich nicht um ein Unglück handelt. Die dänischen Behörden hätten binnen kurzer Zeit mehrere Explosionen beobachtet. Noch sei unklar, wer dafür verantwortlich ist.

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) sprach sogar von einem gezielten Angriff. Man wisse inzwischen sicher, dass die Brüche der Leitung "nicht durch natürliche Vorkommnisse oder Ereignisse oder Materialermüdung entstanden sind, sondern dass es wirklich Attacken auf die Infrastruktur gegeben hat". Mit diesen Worten wird der Vize-Kanzler von einer Veranstaltung von Spitzenverbänden der Wirtschaft zitiert.

Der dänische Verteidigungsminister Morten Bødskov will am heutigen Mittwoch nach Brüssel reisen. Dort werde er mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die mutmaßliche Sabotage sprechen.

Stoltenberg gab indes bekannt, die Nato beobachte die Lage "sehr genau". Das Militärbündnis halte engen Kontakt mit den übrigen Mitgliedsstaaten und dem Nato-Anwärter Schweden.

Nach Angaben von EU-Diplomaten war die Gefahr möglicher Sabotageakte gegen Pipelines in EU-Gremien bereits erörtert worden. Ende Mai hatten EU-Botschafter bei einer Debatte über das sechste Sanktionspaket einen etwaigen Anschlag auf die Leitung Druschba II diskutiert – die über die Ukraine die Slowakei, Tschechien und Ungarn mit Erdöl versorgt.

Der ungarische Botschafter forderte bei der Beratung Hilfe bei der Diversifizierung der Energiezufuhr und eine erhöhte Liefermenge über die Adria-Pipeline. Ungarn bestand zudem auf eine Dringlichkeitsausnahme im Sanktionstext für den Fall, dass Druschba II infolge des Krieges "direkt oder versehentlich sabotiert" werde.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte bei einem Termin im EU-Parlament [1] am Dienstag: "Verbündete untersuchen die Gaslecks beider Nord-Stream-Pipelines und tauschen Informationen mit Finnland und Schweden aus."

Schon bei der Debatte über das strategische Konzept des Nordatlantikpaktes [2] im Jahr 2010 war die "Sabotage von Energiepipelines und der Unterbrechung kritischer maritimer Versorgungswege" als sicherheitspolitische Herausforderung benannt worden.

Artikel zum Thema:

Harald Neuber: Gaskrieg mit Moskau: Armdrücken ohne Muskeln [3]
Thomas Dudek: Polen im "Gaskrieg" zwischen Russland und der Ukraine [4]
Florian Rötzer: Wer ist für den Anschlag auf die Pipeline in der Ukraine verantwortlich? [5]


Redaktionelle Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes wurde die Erdöl-Pipeline Druschba als Erdgasleitung bezeichnet; diese Stelle ist korrigiert.

Ostdeutschland: Mehr Protest gegen Energiepolitik

Derweil nehmen in Ostdeutschland die Proteste gegen die Russland-Sanktionen der EU und die daraus resultierenden sozialen Probleme zu. In Sachsen-Anhalt wurden am Montag in rund 30 Städten Protestaktionen angemeldet, der MDR gab die Teilnehmerzahl mit 13.000 Menschen an.

In Magdeburg versammelten sich nach Angaben der Polizei etwa 3.000 Personen, dort traten die AfD-Politiker Ronny Kumpf und Jan Moldenhauer auf. Die AfD wird vom Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft.

In der Vorwoche waren nach Medienberichten weniger Demonstrationen angemeldet worden. Dennoch stieg die Zahl der Teilnehmer um rund 1.000 an, in der Vorwoche waren es 12.000.

Proteste in Ostdeutschland waren in führenden überregionalen Medien wiederholt kritisch begleitet worden. Der ehemalige Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, Marco Wanderwitz, hatte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor der vergangenen Bundestagswahl gesagt, ein Teil der Ostdeutschen sei nie in der Demokratie angekommen; sie seien teilweise "diktatursozialisiert" und für die Demokratie nicht mehr zu erreichen.

Bei der Bundestagswahl vergangenes Jahr verlor Wanderwitz im Wahlkreis Chemnitzer Umland – Erzgebirgskreis II sein Direktmandat mit 23,7 Prozent der Erststimmen gegen den Kandidaten der AfD, Mike Moncsek, der 28,9 Prozent der Erststimmen auf sich vereinen konnte.

Intelligenter kommentierte das Geschehen nun der sächsische Verfassungsschutz-Chef, Dirk-Martin Christian. Er warnte am Dienstag davor, die Protestteilnehmer im Osten pauschal in die rechte Ecke zu stellen, wenn sie gegen die Energiepolitik der Bundesregierung auf die Straße gehen.

In Annaberg-Buchholz im Erzgebirge sagte Oberbürgermeister Ralf Schmidt von den Freien Wählern: "Es geht bei dem Protest doch nicht um Ideologie, Parteien oder so abstruse Ideen wie dem Austritt Sachsens aus der Bundesrepublik."

Angesichts der sozialen Probleme bilde sich ein "unheimlicher sozialer Sprengstoff", so Schmidt gegenüber dem MDR: "Wenn wir dem nicht begegnen und die Sorgen teilen, werden das vielleicht die falschen Leute nutzen."

Artikel zum Thema:

Bernd Müller: Ossi-Schelte vom Spitzenkandidaten der stärksten Partei Sachsens [6]
Bernd Müller: Ölembargo: CDU-Parlamentarier warnt vor Unruhen in Ostdeutschland [7]
Peter Nowak: Soziale Proteste: Die Linke als Diskurspolizei? [8]

Jetzt mit Russland verhandeln?

Nach Ansicht von Anatol Lieven, Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft, hat die russische Regierung das Ausmaß ihres strategischen Versagens in der Ukraine erkannt.

Das und die Tatsache, dass sich Putin in seiner Rede positiv auf die Friedensvorschläge der ukrainischen Regierung vom vergangenen März bezog, deuten darauf hin, dass Russland nun zu Verhandlungen bereit sein könnte, sofern zumindest einige der ursprünglichen Ziele des Kremls eingeschlossen werden.

Anatol Lieven

Doch wie lange ist dieser Moment noch in greifbarer Nähe? – fragt Lieven heute bei Telepolis.

Europa und russische Kriegsdienstverweigerer

Roland Bathon hat mit Connection-Geschäftsführer Rudi Friedrich über Kriegsdienstverweigerer und Deserteure in Russland gesprochen. Die Organisation Connection wendet sich weltweit gegen einen Zwangsdienst beim Militär. Infolge der Mobilmachung in Russland für den Ukraine-Krieg leiste sie viel Beratungsarbeit für Betroffene, so Bathon. Friedrich schildert im Interview die Lage der Männer, die sich an seine Organisation wenden:

Zum Teil die Betroffenen selbst aus Russland, aber in den meisten Fällen Angehörige, Verwandte, Bekannte, Freunde. Sie fragen zum einen, wie man aus Russland herauskommt und wie es nach einer erfolgreichen Flucht weitergeht. Welche Möglichkeiten es gibt, ins westliche Ausland zu kommen. Hier spielen die Visaregeln eine große Rolle. Und natürlich beschäftigt sie die Frage, haben sie bei einem Asylantrag überhaupt Chancen auf einen Flüchtlingsstatus.

Rudi Friedrich im Telepolis-Interview

Christoph Butterwegge kritisiert das "Bürgergeld"

Klagen über die angeblich mangelnde Arbeitsbereitschaft von Transferleistungsbezieher:innen seien nichts Neues, schreibt heute bei Telepolis der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Ein führendes Boulevardblatt bezeichnete Personen, die es als "Sozialbetrüger" entlarvt zu haben glaubte, schonmal mit einprägsamen Spitznamen wie "Florida-Rolf" oder "Viagra-Kalle".

Hartz IV sei nun Geschichte; das "Bürgergeld" mache die Sache aber nicht besser, so Butterwegge:

Man kann im Hinblick auf das Bürgergeld nicht von einem neuen oder gar neuartigen Leistungssystem sprechen, weil zwar mehr prozedurale Fairness praktiziert, allerdings keine Lohnersatzleistung nach Art der mit Hartz IV abgeschafften Arbeitslosenhilfe eingeführt wird.

Trotz seines wohlklingenden Namens ist auch das Bürgergeld als Lohnergänzungsleistung konzipiert, folglich nicht dazu gedacht, den laufenden Lebensunterhalt seiner Bezieher:innen und ihrer Familien auf einem akzeptablen Niveau zu sichern.

Christoph Butterwegge

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https://www.heise.de/-7277789

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_207646.htm?selectedLocale=en
[2] https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_63654.htm?selectedLocale=en
[3] https://www.heise.de/tp/features/Gaskrieg-mit-Moskau-Armdruecken-ohne-Muskeln-7069112.html?seite=all
[4] https://www.heise.de/tp/features/Polen-im-Gaskrieg-zwischen-Russland-und-der-Ukraine-3421450.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Wer-ist-fuer-den-Anschlag-auf-die-Pipeline-in-der-Ukraine-verantwortlich-3365891.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Ossi-Schelte-vom-Spitzenkandidaten-der-staerksten-Partei-Sachsens-6060638.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Oelembargo-CDU-Parlamentarier-warnt-vor-Unruhen-in-Ostdeutschland-7199259.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Soziale-Proteste-Die-Linke-als-Diskurspolizei-7260305.html?seite=all