Gaza: Corona-Gefahr hinter dem Zaun
Das Gefälle zwischen Privilegierten und Benachteiligten zeigt sich in Israel und den palästinensischen Gebieten mit einer besonderen Schärfe
Am Freitag meldete die Seite "Wege zum Islam" noch, dass Gaza der einzige Ort auf der Erde sei an dem das Freitagsgebet verrichtet wurde, "weil Gaza frei vom Corona-Virus ist". Dem folgte tags darauf eine Meldung, die vermutlich unabsichtlich zwar, aber an einer bezeichnenden Stelle abbricht: "Die Weltgesundheitsorganisation gab gestern bekannt, dass Gaza ein Land ist, das völlig frei von #Corona-virus ist und dass seine Prävent…"
Wie sollen Präventivmaßnahmen in einem dichtbesiedelten Gebiet funktionieren, in dem 1,3 Krankenhausbetten auf 1000 Einwohner kommen? 200 "Testkits" wurden am Freitag, den 13. März, in den Gazastreifen geschickt. Seither wurde noch keine Meldung über weitere Lieferungen bekannt.
Gestern wurde dann von zwei infizierten Personen im Gazastreifen berichtet. Das ist eine kleine Zahl, aber aufgrund der außerordentlichen Verhältnisse in Gaza, das der "Doktrin der eisernen Mauer" (Avi Shlaim), besonders ausgeliefert ist, löst sie Alarm aus.
Gefälle zwischen Privilegierten und Benachteiligten
Zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen hinter einem "Sicherheitszaun" (Gated nation: Israel mauert sich weiter ein) auf 375 Quadratkilometern. Umgerechnet auf einen Quadratkilometer sind das 6.000 Menschen, die auf engsten Raum zusammenleben. Noch riskanter für Ansteckungen ist die Situation im Flüchtlingslager Jabalia im Gazastreifen, wo 140.000 palästinensische Flüchtlinge auf 1,4 Quadratkilometer leben. Das sind pro Quadratkilometer 82.000 Personen.
Das Gefälle zwischen Privilegierten und Benachteiligten zeigt sich in Israel und den palästinensischen Gebieten mit einer besonderen Schärfe. Das Magazin +972 stellt dazu einen Vergleich auf: Auf der anderen Seite des Grenzzauns, auf israelischem Gebiet, rangiere die Dichte von "null bis 500 Personen pro Quadratkilometer". Die eingesperrten Bewohner des Gazastreifens - seit 2007 sind die Grenzübergänge nach Israel und Ägypten geschlossen - stehen vor einem Desaster, so der +972- Autor Jehad Abusalim.
Man bräuchte mindestens 300 bis 400 Ärzte, um den notwendigsten Bedürfnissen zur ärztlichen Versorgung nachzukommen. Unter den Personen, die Reißaus vor den Härten im Gaza-Streifen genommen haben - angeblich 35.000 seit 2018 -, seien auch Ärzte und Krankenpflegepersonal gewesen. Diese Nöte und Schwierigkeiten, die angesichts einer möglichen Ausbreitung von covid 19 akut ins Blickfeld geraten, setzen sich auf sowieso schon desaströse Grundbedingungen: große Probleme mit der Trinkwasser- und Stromversorgung, auf die Ärzte-Organisationen schon seit langem hinweisen.
Die zwei Infizierten sollen über Ägypten in den Gazastreifen gekommen sein. Angegeben wird, dass sie in Pakistan waren. Sie seien nun in Behandlung, ihre Kontakte seien begrenzt und überschaubar, heißt es, wobei Reuters anmerkt, dass die Zahl der Kontakte nicht bekannt ist.
Zuvor gab es Befürchtungen über angeblich 700 Zivilisten, die von einer Pilgerreise aus Saudi-Arabien ebenfalls über Ägypten in den Gazastreifen eingereist sind und sich nun in Quarantäne befinden.
Schulen, Märkte und Hallen für öffentliche Versammlungen wurden im Gazastreifen schon im Lauf der letzten zwei Wochen geschlossen, zu erwarten ist, dass auch die Freitagsgebete nicht mehr abgehalten werden.
Die Verbreitung von Sars-CoV-2 im Westjordanland und in Israel
Aus dem Westjordanland wurden gestern 57 Fälle von Infizierten bekannt gegeben, begleitet von der Meldung über bisher 17 corvid-19-Fälle, die wieder genesen seien. Für das Gebiet wurde gestern Abend ein Lockdown verhängt. Wie in anderen Ländern auch hat der amtierende palästinensische Präsident Abbas eine Amnestie für Inhaftierte erklärt, die bereits die Hälfe ihrer Strafe abgesessen haben und nur wegen eines Vergehens im Gefängnis sitzen.
In Israel wird am Montagmorgen von 1.238 Personen berichtet, die sich mit Sars-CoV-2 infiziert haben - mit einer Zunahme von 135 Fällen über Nacht. Erwartet wird, dass Premier Netanjahu die Bestimmungen zum Lockdown verschärft.
Laut dem israelischen Gesundheitsministerium wurden binnen 24 Stunden 5.000 Tests verteilt. Man darf gespannt sein, wann die Lieferungen von Tests an den Gazastreifen und das Westjordanland verstärkt werden.
Die arabischen Staatsbürger Israels beklagten nach einer Live-Ticker-Meldung der Zeitung Ha'aretz, die seit Wochen mit noch schärferen Attacken der politischen Rechten in Israel zu tun hat, dass sie auch in der Corona-Krise wie Staatsbürger zweiter Klasse behandelt würden.
(Nachtrag: Der israelische Schriftsteller David Grossmann äußert die Hoffnung, dass die Corona-Epidemie zu neuen Einsichten im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern führeen könnte: "Möglicherweise wird es auch einige geben, die sich nun erstmals fragen, warum Israelis und Palästinenser einander seit mehr als hundert Jahren bekriegen und sich von einem Konflikt, der längst beigelegt sein könnte, das Dasein unerträglich machen lassen.")