Gefängnisausbruch in Nordsyrien: Kommt der IS 2.0?
Seite 2: Indirekte Unterstützung durch die Türkei
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Am vergangenen Freitag wurde ein Militärkonvoi der SDF aus Til Temir auf der Verbindungsstraße 716 kurz vor Hasaka von türkischen Killerdrohnen attackiert. Sie waren auf dem Weg, um die SDF in Hasaka bei der Bekämpfung des Gefängnisaufstandes zu unterstützen. Auch in anderen Regionen Nordsyriens haben die Türkei und ihre dschihadistischen Verbündeten zeitgleich mehrere Dörfer bombardiert.
Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Hilfstruppen setzten Artillerie gegen die Stadt Ain Issa nördlich von Rakka ein. Dabei wurden zwei Zivilisten getötet und mehrere verwundet. Am Sonntag wurden zwei Frauen und zwei Kinder durch türkischen Beschuss schwer verletzt.
Die Generalversammlung der Autonomieverwaltung von Nordsyrien erklärte gegenüber ANF, es deute "vieles darauf hin, dass das zentrale Anliegen dieses Angriffs darin bestand, Hasaka einzunehmen und einen Terrorkorridor zwischen dem Lager Hol und Til Temir zu öffnen". Der Türkei wirft das Gremium die "Orchestrierung" dieses "von langer Hand geplanten" Angriffs vor.
Loqman Ehme, der Sprecher der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, erläuterte die seit Jahren andauernde Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS bereits 2016 anlässlich der SDF-Offensive gegen die damals noch vom IS kontrollierte Stadt Minbic:
Damals waren auch Azaz und Dscharablus in der Hand des IS, aber der türkische Staat hatte keine Probleme mit den Islamisten. Als wir die Offensive gestartet haben, begann auch der Angriff des türkischen Staats… Man erinnere sich an das Geschehen in Mossul: Als der IS Mossul angriff, haben alle Ländervertretungen die Stadt verlassen, nur die türkische Vertretung blieb geöffnet und arbeitete mit den Islamisten zusammen...Beispielsweise wurde auch der Zeitpunkt der türkischen Invasion in Afrin 2018 so gelegt, dass sie mit der Niederlage des IS in Kobanê vier Jahre zuvor zusammenfiel.
Loqman Ehme
Indirekt wird der IS auch durch die ständigen Drohnen- und Artillerieangriffe und die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT in Nordsyrien gestärkt. Mit der Abwehr dieser Angriffe werden viele Kapazitäten der SDF gebunden, die dann nicht im Kampf gegen den IS eingesetzt werden können.
Am Sonntag erklärten die SDF, dass die Intensivierung der türkischen Angriffe auf die Gebiete Ain Issa, Tel Temir und Abu Rasin kein Zufall sei. Dies gehe auch aus den Geständnissen einiger Verhafteter hervor, die aus den von der Türkei besetzen nordsyrischen Gebieten stammen und an den Angriffen beteiligt waren. Die Geständigen sollen die Anwesenheit von IS- Anführern in den von der Türkei kontrollierten Gebieten, bestätigt haben.
Loqman Ehme kritisierte auch die syrische Regierung, welche die IS-Schläferzellen als Widerstandsgruppen darstelle und sie im Regimegebiet nicht verfolge. Der Sprecher der Selbstverwaltung, Ferhat Shami, berichtet, dass bis zum Ende der IS-Herrschaft über die türkisch-syrische Grenze bei Gire Spi (Tell Abyad) bis zur Übernahme der Selbstverwaltung offener Ölhandel zwischen dem IS und der Türkei betrieben wurde. "Die IS-Emire waren in der Türkei. Die aus der letzten IS-Bastion al-Bagouz geflüchteten Islamisten leben heute in der türkischen Besatzungszone zwischen Girê Spî und Serêkaniyê."
Das Wiedererstarken des IS ist ein internationales Problem
Das mangelnde Engagement der internationalen Gemeinschaft dürfte zunehmend auch zu einer Gefahr für Europa werden. Seit Jahren fordert die Selbstverwaltung einen internationalen Gerichtshof für die IS-Terroristen vor Ort. Es gibt jedoch weder Unterstützung für den Bau eines sicheren Gefängnisses, noch gibt es Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft, das Rundum–Embargo aufzuheben und Wiederaufbauhilfe in ganz Nordostsyrien zu leisten.
Dabei ist bekannt, dass sich Menschen in dieser Region aus wirtschaftlicher Not vom IS rekrutieren lassen, um ihre Familie ernähren zu können. Es wird aber nichts unternommen, um der Türkei bei der indirekten Unterstützung des IS Einhalt zu gebieten. Oder die Selbstverwaltung dabei zu unterstützen, die Versorgungslage der Bevölkerung zu verbessern, damit die Leute nicht zum IS überlaufen oder sich auf den Weg nach Europa machen.
Für IS- Mitglieder ist die Grenzmauer zwischen der Türkei und Nordsyrien durchlässig. Deshalb ist es ist auch nur eine Frage der Zeit, bis es wieder IS- Anschläge im Westen geben wird. Der Sprecher der Selbstverwaltung appelliert erneut an die Internationale Gemeinschaft:
Der IS hat diese Region lange Zeit kontrolliert. Er war hier aktiv und hat einen mentalen Unterbau organisiert. Grundlage für den IS ist außerdem die gesellschaftliche Armut, die durch das Embargo entstanden ist. Um das Gedankengut des IS in der Region zu bekämpfen, muss Bildungsarbeit gemacht werden und die wirtschaftlichen Probleme müssen gelöst werden.
Dafür müssen die internationalen Mächte Verantwortung übernehmen, sie müssen mit uns zusammen arbeiten. Solange das nicht passiert, wird der IS weiter eine Gefahr darstellen. Um diese Gefahr zu bannen, müssen alle Parteien ihrer Verantwortung nachkommen.
Shami befürchtet, dass in den syrischen und irakischen Wüstengebieten sowie den Grenzgebieten zum Irak der IS – ähnlich wie 2014 – neue Kalifats-Srukturen etablieren könnte. In 60 Prozent der syrischen Wüstengebiete, vor allem in den Wüstengebieten um Deir ez-Zor, Rakka, Hama, Damaskus und Siweda bis in die irakischen Gebiete sei der IS präsent. Auch die syrische Regierung habe keine Kontrolle über diese Gebiete.
Das Problem IS könne solange nicht gelöst werden, als es Staaten wie die Türkei gebe, die den IS unterstützen. Der IS könne nur ausgetrocknet werden, wenn ihm die Unterstützung entzogen wird. Der Sprecher der SDF befürchtet, dass sich in absehbarer Zeit neue IS-Zellen in Europa bilden und sich erneut tausende Menschen aus aller Welt auf den Weg nach Syrien oder in den Irak machen.
Der "Außenminister" der Selbstverwaltung, Abdulkarim Omar, kritisierte die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, Verantwortung für ihre eigenen Bürger zu übernehmen, die sich dem IS angeschlossen haben und nun in den unzureichend ausgestatteten Haftanstalten in Nordsyrien sitzen.
"Die Vorfälle in Hasaka werfen ein Schlaglicht auf die Unfähigkeit und teilweise auch die mangelnde Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, sich dem IS-Terror entschieden entgegenzustellen und ihre Pflichten gegenüber ihren in unseren Gebieten inhaftierten Bürgerinnen und Bürgern zu erfüllen", kritisiert Omar.
Warnung vor dem IS 2.0
Der Terror sei damit nicht beendet, denn es war "ein rein militärischer Sieg. Der IS ist weiterhin aktiv, klandestine Schläferzellen sind auf dem Vormarsch. Viele Orte, die jahrelang unter IS-Besatzung standen, stehen noch immer unter dem Einfluss der Ideologie dieser Dschihadistenmiliz. Gefängnisse sowie Internierungs- und Auffanglager mit IS-Mitgliedern oder ihren Familienangehörigen sind geprägt von Meutereien und Anschlägen".
Der Westen fordere durch seine Weigerung, Verantwortung für die ausländischen IS-Gefangenen und ihren Angehörigen zu übernehmen, einen IS 2.0 geradezu heraus. "Es sind zehntausende Anhänger der Miliz und ihre Familienmitglieder, deren Last allein auf unseren Schultern liegt. Wir haben immer wieder vor Situationen wie der momentanen gewarnt und an die Herkunftsländer sowie die internationale Anti-IS-Koalition appelliert, sich verantwortlich zu zeigen. Der IS ist ein internationales Problem, die Staatengemeinschaft steht in der Pflicht, es anzugehen und aus dem Weg zu räumen."
Omar forderte in einem Statement erneut die Einrichtung eines IS-Sondergerichts für Nord- und Ostsyrien und Hilfe für die Versorgung und Sicherung der Insassen in den Gefängnissen und Lagern im Autonomiegebiet.
Der ehemalige US-Sonderbeauftragte für syrische Angelegenheiten, Frederic Hof, sagte in einem Interview mit North Press, dass die USA eine Verantwortung für die Stabilisierung der Region haben und man die Stabilisierung nicht den Syrischen Demokratischen Kräften SDF allein überlassen dürfe. Die USA müssten die Menschen vor Ort unterstützen und ermutigen, eine starke lokale Regierungsstruktur aufzubauen, die den gesamten Nordosten Syriens abdecken könne, um den Menschen eine Alternative zum Assad-Regime zu bieten.
Das Washington-Institut hatte schon im vergangenen Jahr gefordert, die internationale Gemeinschaft müsse mehr tun, um die Lokalbehörden in den vom IS gefährdeten Gebieten zu stärken, die SDF aufzurüsten und eine Verständigung mit der Türkei zu suchen. Geschehen ist bisher nichts.
Am Samstag lobte das US-Außenministerium die SDF für ihre rasche Reaktion beim Sina-Ausbruchsversuch und ihr anhaltendes Engagement im Kampf gegen den IS. "Wir sprechen den Familien der bei dem ersten Bombenangriff und den anschließenden Kämpfen verletzten und getöteten Wachleute unser aufrichtiges Beileid aus", heißt es in einer Erklärung vom Samstag.
In der US-Erklärung soll auch auf die Notwendigkeit hingewiesen worden sein, dass die Herkunftsländer ihre im Nordosten Syriens inhaftierten Staatsangehörigen in ihre Heimat zurückholen, reintegrieren und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen.
Ist das mehr als reine Rhetorik? In der Vergangenheit waren die USA kein verlässlicher Partner der Selbstverwaltung. Im großen geopolitischen Spiel der USA und Russlands wurde die Region immer wieder Opfer diplomatischer Deals. Die völkerrechtswidrigen Annektionen von Afrin, Serekaniye und Gire Spi der Türkei wurden zwischen Russland, den USA und der Türkei unter dem Verhandlungstisch ausgehandelt.
Fazit:
In Nordsyrien und nicht nur dort hat der IS ein Revival. IS-Terroristen aus über 50 Staaten sind dort weiterhin, u.a. in den Gefängnissen und Camps aktiv. Westliche Staaten wie Deutschland weigern sich seit Jahren, ihre dschihadistisch radikalisierten eigenen Staatsbürger zurückzunehmen.
Und die Türkei, der Nato-Partner, bombardiert jene Menschen, die immer noch gegen den IS kämpfen und sterben. Die neue deutsche Außenministerin ist mit dem Ukraine-Konflikt beschäftigt und hat keine Zeit, sich mit dem Nahen Osten zu beschäftigen. Das wird uns spätestens bei neuen IS-Anschlägen auf die Füße fallen.
Die NGO Medico International bringt auf den Punkt, was nun zu tun sei:
Die Selbstverwaltung benötigt internationale Unterstützung im Umgang mit syrischen und irakischen Kämpfern – sei es durch ein internationales Tribunal oder den Aufbau des Rechtssystems der Selbstverwaltung. Um dies völkerrechtlich abzusichern, ist eine offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung als staatliche Entität unabdingbar. All dies kann die Bundesregierung, die für eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik stehen möchte, anstoßen.
Bislang hat sie es leider nur geschafft, das noch in der Opposition von den Grünen kritisierte Irak-Mandat der Bundeswehr zu verlängern, das auch den Einsatz von Tank- und Aufklärungsflugzeugen in Syrien beinhaltet. Ein Hauptargument von Außenministerin Baerbock für die Verlängerung war das Wiedererstarken des IS in der Region. Der Kompromiss, den Einsatz auf den Irak zu beschränken und in Syrien keine Einsätze mehr zu fliegen, scheint aus heutiger Perspektive noch absurder.
So sehen keine ernst gemeinten Versuche aus, die Region zu stabilisieren. Anstatt über Bundeswehreinsätze zu streiten, bedarf es der sofortigen Umsetzung der oben aufgezählten Maßnahmen.
Medico International
Die Nato-Partnerschaft scheint jedoch momentan noch über der reinen Vernunft zu stehen.