"Gefangen in einer Haltung aus Neid und Hass" - Auf der Suche nach einer neuen Realpolitik

Seite 2: Eine neue Realpolitik in der Einwanderung

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Womöglich muss die Bundesregierung nach der großzügigen - und für viele idealistisch anmutenden - Einwanderungspolitik des vergangenen Jahres eine neue Realpolitik definieren.

Für eine solche Politik ist es unerlässlich, einen europäischen Konsens zu gewinnen - wenn die Zukunft der europäischen Union nicht aufs Spiel gesetzt werden soll. Bei einem Blick auf die europäischen Nachbarländer wird klar, dass die Gesellschaft keines anderen europäischen Landes außer Schweden der Migrationswelle des Jahres 2015 so offen gegenüberstand wie Deutschland.

Eine Neuformulierung der Einwanderungspolitik kann nicht funktionieren, ohne von zwei großen Wunschvorstellungen Abstand zunehmen. Einerseits der Glaube, dass eine zahlenmäßig starke Einwanderung aus der von inneren Konflikten erschütterten arabischen und muslimischen Welt für die europäischen Gesellschaften leicht zu bewältigen sein wird.

Und andererseits der Glaube, dass die europäischen Gesellschaften sich in einer "Festung Europa" einmauern könnten und die Modernisierungskonflikte der südlichen Nachbarregion über die nächsten Jahrzehnte aussitzen könnten. Slawoj Zizek drückt es so aus:

Europa kann und muss mehr tun. Es kann aber nicht einfach seine Grenzen öffnen, wie dies manche Linke aus einem Schuldgefühl heraus fordern.

Die Aufgabe Europas gegenüber gewaltbereiten Einwanderern wäre es klarzumachen, "dass wir eine solche Haltung aus Hass und rachegetriebener Aggression nicht dulden".

Wir müssen sie nicht aufklären, denn sie wissen genau, was sie getan haben. Sie haben gezielt unsere Empfindlichkeiten verletzt. Wer unsere Werte nicht akzeptiert, hat bei uns nichts zu suchen. "Political Correctness" oder das linke "Verstehenwollen" der Fremden dürfen keinesfalls dazu führen, dass die Rechte der Frauen geschwächt und ihre Integrität verletzt werden.

Doch für Zizek ist die Einwanderungswelle letztlich auch ein Symptom des entfesselten, globalen Kapitalismus: "Diese Menschen versuchen, in unsere Kuppel des Wohlstands einzudringen. Flüchtlinge sind der Preis des globalen Kapitalismus. Dessen entfesselte Dynamik zerstört Lebens- und Kulturräume und vereinnahmt Staaten. Flucht ist - wie auch Terror - ein Symptom des neuen Klassenkampfs."

In seinen Augen kann Europa dazu beitragen Fluchtursachen zu reduzieren - durch einen Wandel in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, und indem es seinen Beitrag der "geopolitischen Spiele" unterlässt.

Wie kann eine realistische und progressive europäische Nachbarschaftspolitik konkret aussehen?

Für Deutschland war das Jahr 2015 nicht nur im Hinblick auf die Einwanderungswelle aus der arabischen Welt ein Rekordjahr. Auch die deutsche Rüstungsindustrie machte im Jahr 2015 mehr Exporteinnahmen als je zuvor. Allein im ersten Halbjahr wurden Güter im Wert von 6,35 Milliarden verkauft - mehr als im gesamten Vorjahreszeitraum.

Zwar ist die Ausfuhr von Kleinwaffen in Entwicklungsländer um die Hälfte reduziert wurden, doch unter den Hauptabnehmern von großen Kriegswaffen waren auch drei arabische Staaten: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Algerien.

Der Anstieg an Exporten in arabische Staaten ist auch auf den Kurswandel deutscher Außenpolitik in Bezug auf Rüstungsexporte zurückzuführen, der sich während Angelas Merkels Amtszeit abgezeichnet hat. Während diese noch vor einigen Jahren primär an NATO-Staaten gingen, wurden während Merkels Amtszeit zunehmend Länder der arabischen Welt beliefert, die eine mutmaßlich stabilisierende Rolle ausüben und damit europäische Sicherheitsinteressen verträten.

Inwiefern dies im Falle des saudischen Königshaus oder des Regime Bouteflikas in Algerien wirklich der Fall ist, darf herzlich in Frage gestellt werden. Saudi-Arabien und der Iran sind treibenden Kräfte in einem konfessionell aufgeladenen Regionalkonflikt, der die Region zu zerreißen droht.

Algerien verfügt über eines der größten Öl- und Gasvorkommen der Welt und einen Fonds mit Devisenreserven - aber dennoch ist das von Vetternwirtschaft und Korruption dominierte Regime Bouteflikas nicht willens oder in der Lage, ausreichend Geld in Bildung oder Wohnraum zu investieren, um der jungen Generation des Landes eine Zukunft zu gewährleisten. Die Resultate dessen sind ein Exodus junger Männer - als Dschihadisten für die Schlachtfelder in Syrien und dem Irak oder als Armutsmigranten nach Europa.

Europa braucht in der Nachbarschaftspolitik eine Vision und einen langen Atem

Kurz nach dem "arabischen Frühling" gab es für eine kurze Zeit ein Umdenken in den europäischen Außenministerien. 5 Jahre danach scheint die Angst vor Terroranschlägen Europa so sehr in die Knochen gegangen zu sein, dass die europäische Außenpolitik sich wieder den Herrschern alten Schlages in die Arme wirft.

Eine progressive Politik gegenüber den südlichen Nachbarländern Europas würde nicht auf Waffenexporte an rückwartsgewandte Regime setzen, sondern versuchen, die progressiven Kräfte im Kulturkampf innerhalb der muslimischen Welt zu unterstützen.

Bewegungen, die sich für die Gleichberechtigung der Frauen, gegen die Korruption der Regime und vor allem für den Ausbau des Bildungswesens einsetzen. Diese Bewegungen - und nicht die Herrscher der alten Garde wie in Saudi-Arabien oder Algerien - sind das effektivste Mittel, um den dschihadistischen Terrorismus langfristig zu besiegen.