Geheim gehaltener Haftbefehl gegen Amri-Komplizen Ben Ammar?

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Weihnachtsmarkt-Anschlag: Die Ermittlungsbehörden wissen mehr, als sie einräumen - Ein Bundesinnenminister mit fragwürdigen Auskünften

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Wenn Bilel Ben Ammar, der Komplize von Anis Amri, nach Deutschland kommen würde, um vor den Abgeordneten des Untersuchungsausschusses als Zeuge auszusagen, würde er noch bei der Einreise verhaftet werden.

Das soll ein Vertreter des Bundeskriminalamtes (BKA) gegenüber Opfern des Anschlages vom Breitscheidplatz erklärt haben. Eine bemerkenswerte Aussage, die nicht nur die Sicherheitsbehörden Lügen strafen würde, sondern Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU) gleich mit. Deren öffentliche Auskünfte zur Causa Ben Ammar sind allem Anschein nach zweifelhaft.

"Kein Tatverdacht"

Ben Ammar war am 1. Februar 2017 aus der Untersuchungshaft und einem laufenden Ermittlungsverfahren wegen mehrfachen Mordverdachtes heraus nach Tunesien abgeschoben worden. Ende Februar 2019 hatten Behörden und zuletzt Seehofer persönlich den Vorgang damit gerechtfertigt, dass gegen den Abgeschobenen kein Tatverdacht wegen des Berliner Anschlages bestanden habe und bis heute nicht bestehe.

Der Bundesinnenminister ist unter anderem verantwortlich für das Bundeskriminalamt. Ermöglicht wurde die Abschiebung des U-Häftlings Ben Ammar aber vor allem durch die Einwilligung der Bundesanwaltschaft, der Herrin der Ermittlungen in Sachen Weihnachtsmarkt-Anschlag. Die für diese Behörde zuständige Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) hat sich zu der ganzen Angelegenheit bis heute nicht geäußert.

Wenn nach offizieller Version schon kein Mittäter, dann wäre Ben Ammar mindestens ein Zeuge. Verschiedene Stimmen, unter anderem aus dem Innenministerium, aber auch von Mitgliedern des Amri-Ausschusses im Bundestag, haben deshalb vorgeschlagen, Ben Ammar in dieser Eigenschaft zu vernehmen, entweder in Berlin, in Tunesien oder per Videokonferenz.

Die Darstellung des BKA-Mannes, Ben Ammar würde sofort verhaftet werden, sollte er nach Deutschland kommen, passt allerdings nicht zur Version des unschuldigen Zeugen. Sie passt eher zu einem verdächtigen möglichen Mitwisser, Mittäter oder Unterstützer des Anschlages vom Dezember 2016. Sprechen Sicherheitsapparat und Bundesregierung mit zwei Zungen?

Haftbefehl?

Wenn Ben Ammar verhaftet würde, müsste ein Haftbefehl vorliegen. Und es käme vor allem nur eine Maßnahme in Frage: Ein Auslieferungsbegehren der Bundesrepublik gegenüber Tunesien und die Rückführung des Beschuldigten nach Deutschland.

Die Aussage des BKA-Mannes Sven Kurenbach soll am ersten Märzwochenende gefallen sein im Rahmen eines Treffens mit etwa zwei Dutzend Opfern des Anschlages, zu dem die Opferhilfsorganisation der "Weisse Ring" in Berlin eingeladen hatte. Das wurde aus Teilnehmerkreisen bekannt.

Kurenbach soll zunächst von "sofortiger Verhaftung" Ben Ammars gesprochen haben. Doch kurz danach habe er sich korrigiert und die Worte gewählt, Ben Ammar würde bei der Einreise "festgenommen und dem Bundestag vorgeführt" werden. Weiter habe der BKA-Ermittler ausgeführt, der Tunesier würde niemals freiwillig nach Deutschland kommen, weil er wisse, "was ihm blühe".

Das BKA wollte sich zu Inhalten des Treffens nicht äußern und verwies auf den Veranstalter.

Der Weisse Ring vermeldete auf seiner Webseite zwar das Treffen von Anfang März, was genau besprochen wurde, sei aber intern, heißt es.

Offensichtlich sollte es nicht öffentlich werden. Die Entscheidung, Bilel Ben Ammar abzuschieben, trägt man beim Weissen Ring im Übrigen mit. Dass die Personalie jetzt derart hochkochte, führt man auf Medieninteressen zurück und nicht auf die aufgebrochenen Widersprüche.

Sven Kurenbach, leitender Kriminaldirektor im Bereich Staatsschutz des BKA und zuständig für islamistisch-motivierten Terrorismus, ist für die Opfer vom Breitscheidplatz inzwischen kein Unbekannter mehr (siehe auch hier).

Kritisch nach der Personalie Bilel Ben Ammar gefragt

Er war auch dabei, als Mitte Januar 2019 Vertreter des Bundesinnenministeriums, des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und eben des BKA bei 30 bis 40 Opfern und Hinterbliebenen um Verständnis für das Handeln der Behörden im Fall Amri warben. Schon damals hatten die Opfer kritisch nach der Personalie Bilel Ben Ammar gefragt. Und es war der BKA-Mann Kurenbach, der erklärt haben soll, Ben Ammar sei abgeschoben worden, weil er "hochgefährlich" gewesen sei. Er sei eine Art "Amri 2" gewesen.

Dieses fortgesetzte Bemühen der Sicherheitsbehörden gegenüber den Betroffenen wirkt, als sollten sie programmatisch ruhiggestellt werden. Tatsächlich sorgen einige von ihnen durch ihre Anwesenheit in den Amri-Untersuchungsausschüssen oder durch öffentliche Stellungnahmen für anhaltende Unruhe. Sie sind unbequeme Opfer. Opfer, die sich zurückziehen, einsam trauern und schweigen, sind den Behörden offensichtlich willkommener.

Am 19. Dezember 2016 verloren zwölf Menschen ihr Leben, Dutzende wurden verletzt und traumatisiert, als ein 40 Tonnen schwerer LKW mitten durch die Besucher des Weihnachtsmarktes auf dem Breitscheidplatz in Berlin fuhr. Mutmaßlicher Attentäter war der 23-jährige Tunesier Anis Amri.

Zweifel am Alleintäter Amri

Er soll Alleintäter gewesen sein, so die offizielle Darstellung bis heute. Daran gibt es begründete Zweifel, denn Amri bewegte sich in seiner Zeit in Deutschland immer im Kreise vieler Personen - radikal-militante Islamisten genauso wie Drogenhändler. Außerdem war er umgeben von mindestens etwa einem Dutzend Informanten verschiedener Sicherheitsbehörden.

Einer seiner Freunde und Komplizen war jener Bilel Ben Ammar, der ebenfalls aus Tunesien stammt. Sie waren zusammen, als Amri im Juli 2015 nach Deutschland einreiste, und sie trafen sich noch am Vorabend des Anschlages. Beide verkehrten im gleichen Milieu, mehrere Sicherheitsbehörden hatten sie auf dem Schirm, beide wurden als sogenannten "Nachrichtenmittler" mit Kontakt zu Verdächtigen eingesetzt - und beide wurden strafrechtlich verschont. Das Paar erscheint wie ein Zwilling.

Nach dem Anschlag entkam Amri, ehe er vier Tage später in Italien erschossen wurde, und Bilel Ben Ammar wurde in Deutschland verhaftet. Doch obwohl gegen ihn wegen vielfachen Mordverdachtes ermittelt wurde, schob man ihn am 1. Februar 2017 nach Tunesien ab. In diese Entscheidung waren mehrere Behörden und mindestens das Bundesinnenministerium involviert.

Obwohl sich die Behörden bemühten, die Verbindungen zwischen Amri und Ben Ammar zu verschleiern und beispielsweise bis vor kurzem kein Foto von Ben Ammar bekannt war, blieb kritischen Beobachtern die Personalie nicht verborgen.

Die Kritik am Umgang mit dem Amri-Freund nahm sowohl bei Abgeordneten der Amri-Ausschüsse, als auch bei den Opfern zu. Die haben sich durch ihre Besuche der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA) mittlerweile fundierte Kenntnisse im Amri-Komplex verschafft.

In diesen Kontext platzte Ende Februar 2019 der Artikel des Magazins Focus, der bis heute Wellen schlägt, Überschrift: "Regierung schob Amri-Vertrauten ab, um dessen Verwicklung in Attentat zu vertuschen". Darin heißt es, der Amri-Freund Ben Ammar sei bei dem Anschlag dabei gewesen, Ben Ammar habe außerdem für den marokkanischen Geheimdienst gearbeitet, und deutsche Behörden hätten davon gewusst.

Das Video

Der Focus stützt sich unter anderem auf ein längeres Video vom Tatgeschehen. Darin sei zu sehen, wie ein Mann mit einem Stück Holz auf einen anderen Mann einschlägt. Sollte es dieses Video geben, würden derzeit mindestens vier Fassungen unterschiedlicher Länge existieren. Da ist die Videosequenz, wenige Sekunden lang, die das ARD-Magazin Kontraste vor einem Jahr ausgestrahlt hat, die aber endet, als der LKW zum Stehen kam.

Eine zweite Videosequenz ist ein paar Sekunden länger und zeigt noch den aussteigenden Fahrer, ehe sie abbricht. Drittens besitzt die Kontraste-Redaktion ein noch längeres Videostück, das man aber nicht ausstrahlen wollte, weil zu brutale Dinge zu sehen seien, die man den Zuschauern nicht zumuten wollte. Das von Focus behauptete Video schließlich wäre noch länger.

Dieses Video wurde bisher nicht gezeigt. Auch die anderen Informationen des Magazins wurden nicht erhärtet - umgekehrt konnte die Focus-Darstellung aber auch nicht widerlegt und ausgeräumt werden. Selbst dadurch nicht, dass sich Bundesinnenminister Seehofer persönlich stellen musste. Sein Widerspruch blieb substanzlos. Pflichtschuldig wies er die "Theorie von den 'Terror-Zwillingen'" zurück.

Mehr noch: Dass das Regierungsmitglied Seehofer angeblich nicht sagen kann, wo sich Ben Ammar aufhält, ist schwer nachzuvollziehen. Das Mitglied des Amri-Ausschusses im Bundestag Martina Renner (Linke) erinnerte an die Amtshilfepflicht der Bundesregierung.