Geheuchelte Trauer und folgenlose "Solidarität"

Die unvermeidliche Politisierung der Corona-Toten

Im Laufe der Corona-Pandemie hat die Politik auch die individuellen Toten und in ihrer Folge die Trauernden entdeckt. Mit Trauerfeiern und symbolischen Handlungen – dem Entzünden von Kerzen etwa – soll landesweit Solidarität erzeugt werden. Politische Trauer wegen der Toten einer Krankheit gab es bisher noch nie. Was ist diesmal anders?

Corona hat die Risiko- oder – genauer – die Sicherheitsgesellschaft und ihre Politik überrascht. Ein Reaktionssyndrom von Fachleuten, Massenmedien, weltpolitischer Verflechtung auf der technischen Grundlage der Digitalisierung hat ein Klima der Angst geschaffen, das den Lebensschutz absolut setzt und, gegenwartsorientiert, eine historische Einordnung oder Relativierung der Krankheit verhinderte. Die Politik ist gezwungen, die Gesellschaft herunterzufahren. Widerstand gegen die Einschränkungen gab es kaum.

Das Corona-Virus ist vergleichsweise harmlos – im Vergleich zu den historischen Seuchen sind die Sterblichkeit und die Todeszahlen gering (unbehandelte Beulenpest 50-60 Prozent Sterblichkeit, Lungenpest fast 100 Prozent, unbehandelte Cholera bis zu 60 Prozent) und auch in der Todesstatistik ein nachrangiges und kurzzeitiges Phänomen: In Deutschland sterben pro Jahr über 900.000 Menschen, täglich 2.500, davon über 300.000 an Herz-Kreislauferkrankungen, über 200.000 an Krebs, davon 120.000 wegen Rauchens (über 300 täglich), an Atemwegerkrankungen 70.000 und an Krankenhausinfektionen 15.000 Menschen.

Da Gesundheit prinzipiell der Eigenverantwortung unterliegt, reagierte die Politik bisher auch kaum auf die jährlichen Grippewellen (trotz der geschätzten 25.000 Grippetoten 2017/18), und entsprechend waren auch die letzten großen Grippepandemien 1957/58 (Asiatische-Grippe) und 1968-70 (Hongkong-Grippe) mit jeweils ein bis zwei Millionen Toten weltweit (bei knapp der Hälfte der heutigen Weltbevölkerung) politisch und gesellschaftlich kaum ein Thema.

Offiziell rechtfertigt man die Corona-Politik aber auch nicht mit Todeszahlen: Es geht "nur" darum, die zeitweilige Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Wenn, dann sollen die Kranken erst nach intensivmedizinischer Behandlung sterben. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn das Gesundheitssystem die nötigen Kapazitäten hätte, könnte man die Pandemie einfach laufen lassen – so wie man es bei anderen Krankheiten hält. Die Kranken würden "korrekt", an den vorgesehenen Orten mit der vorgesehenen Hilfe sterben.

Man würde dann aufklären, Abstands- und Hygieneregeln empfehlen, Alters- und Pflegeheime besonders schützen, aber ansonsten das Leben weiterlaufen lassen: Schließlich muss niemand an gefährliche Orte, ins Fußballstadion, in Massenkonzerte gehen. Es geht nicht eigentlich um den Schutz der einzelnen. Das Risiko, an Corona zu sterben oder schwer zu erkranken, ist dazu für die Normalbevölkerung viel zu gering. Bald hatte man jedoch auch die Todeszahlen im Blick, die in absoluten Zahlen vermeldet werden - relativ werden in Deutschland bezogen auf die Bevölkerung wohl ein Promille Coronatote zu beklagen sein (normale Todesrate über ein Prozent).

Der Corona-Tod, Normalität und Individualität

Solange der Tod "normal" eintritt, ist er kein gesellschaftliches, also auch kein politisches Thema, sondern bleibt individuell zu bewältigen. Die Definition des Corona-Todes als normal hätte bedeutet, ihn als unverfügbares oder durch die eigene Lebensweise mitbestimmtes Schicksal hinzunehmen.

In den reichen Ländern dürften sich die meisten Problemfälle durch Lebensweise und Ernährung selbst die Vorerkrankungen zugefügt haben, die sie besonders verwundbar machen. Obwohl so vielleicht weniger das Virus als die ungesunde Lebensweise das Problem ist, wurden angesichts der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems aber die an oder mit Corona Verstorbenen zu außergewöhnlichen, also "unnötigen", vermeidbaren Toten erklärt.

Dabei ist auch von der Altersstruktur her der Corona-Tod nicht außergewöhnlich: In Deutschland sind um die 90 Prozent der Corona-Toten über siebzigjährig, zwei Drittel waren über 80, ein Drittel der Toten starb in Pflege- oder Altersheimen, in anderen Ländern bis zu zwei Drittel.

Die Corona-Krise ist auch eine Folge der gestiegenen Lebenserwartung. Junge Menschen sind kaum bedroht, noch weniger Kinder. Auch gewinnen die alten Menschen in Alters- und Pflegeheimen durch den angeordneten Schutz wenig: Sie verbringen Monate schlechter Lebenszeit in Isolation. Ein undifferenzierter Lebensschutz erhält mit Corona weiteren Vorrang.

Eine Abwägung mit den sonstigen Folgen der Corona-Politik wie Vereinsamung, Frustration, Schlafstörungen, Depressionen, Angst, Suizidalität, sonstige psychische Probleme, Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, verschobene Operationen und Arzttermine, Folgen für Recht (die Uneinsichtigkeit vieler Maßnahmen führt zu Verstößen mit bestem Gewissen), Bildung, Wirtschaft – all das unterblieb.

Die Frage, ob die Therapie nicht mehr Schaden anrichtet als die Krankheit, wurde kaum gestellt, fehlt doch den wenigen kritischen Stimmen ein überzeugender Maßstab. Nur wenige nehmen den Vorwurf in Kauf, mit der interpretationsbedürftigen Formel gutes Leben das Leben tausender Menschen aufs Spiel zu setzen.

Die Politik, die meisten Fachleute und Medien diskreditieren denn auch, moralisch empört, grundsätzliche Kritik. Man bezieht unangreifbare Positionen. Politiker entdeckten auf einmal, dass hinter jeder "unnötig" an Corona Verstorbenen eine individuelle Geschichte und Familie steht – was sie in anderen Zusammenhängen, in Deutschland etwa im Zusammen mit den durch Tempolimits vermeidbaren Toten oder bei den Grippetoten, nie interessierte. Hat man aber erst einmal die je individuellen Toten und Trauernden "entdeckt", muss auch die entsprechende Trauer bekundet werden.

Traditionell entschärfte die Gesellschaft die Gefahr, die durch den Tod der einzelnen für die Gemeinschaft ausging, durch Rituale. Trauer war, gleichgültig, was die einzelne fühlte, öffentliche Pflicht. Die Trauerriten sicherten die Identität und Kontinuität der Gemeinschaft, dienten ihrer Wiederherstellung. Der unverstehbare, aber unvermeidliche Tod blieb in die Kontinuität der Lebenden, das Unvertraute in die vertraute Welt eingebettet.

Corona-Tote: Sinn von Übergangsritualen ist geschwunden

Die moderne Gesellschaft hat nun aber durch die Trennung von Personen und Rollen und die Neubesetzung der Rollen vor dem statistisch zu erwartenden Tod die direkte Bedrohung ihres Operierens durch den Tod weitgehend beseitigt. Auf einen Ablöseprozess kann verzichtet werden: Die Beziehungen sind mit dem Moment des Todes zerschnitten, die Zeremonien der Neuintegration der Gruppe entbehrlich.

In der modernen Gesellschaft ist mit der Religiosität und den fixen überindividuellen Ordnungen (Familie, Dorf) auch der Sinn der Übergangsrituale geschwunden. Die gesellschaftlich üblichen Formeln können die Betroffenheit, die sie vorgeben, nicht erzeugen, erscheinen schal und abgedroschen, der Situation unangemessen, peinlich.

Die Gesellschaft weiß, wenn der Transzendenzbezug des Todes verlorengeht, zum Tod nichts Rechtes zu sagen. Die Verlegenheit gegenüber Sterbenden und Trauernden und die Umgehung des Themas Tod im Gespräch beruht nicht nur auf Verdrängung, sondern auch auf der Sprachlosigkeit des Todes.

In einer Gesellschaft, für die der Tod keine Bedrohung mehr darstellt, tritt anstelle der Gesellschaft die einzelne als Bezugspunkt der Trauer. Trauer ist heute nicht länger Ausdruck einer sozialen Pflicht, sondern eine individuelle, persönliche Angelegenheit. Die früher Handlungsorientierung bietenden Trauerriten versagen angesichts der neuen Tiefe und Intensität des Schmerzes. Trauer ist heute ein individuell einzigartiges Gefühl von körperlichem Schmerz und psychischem Leid.

Der individualisierten Trauer entsprechen neue Formen der Trauer, so die individuell gestaltete Trauerfeier: Sie verweist im Gegensatz zu den oft leeren Trauerroutinen auf den einzigartigen Verlust – genau diesen einzigartigen Verlust "entdeckte" jetzt die Politik. Teils geht das mit neuen Formen der Öffentlichkeit einher – Unfallkreuze am Straßenrand, Internettrauer. Und auch die kollektive Trauer scheint sich wie allgemein Feiern und Feste zu individualisieren: Sie wird zum Event.

Der Corona-Tod als Event

Events bilden außeralltägliche Vergemeinschaftungsformen, sind die Feiern und Feste individualistischer, pluralistischer Gesellschaften. Deren Unterhaltungsbereich gliedert sich in Szenen. Im Event vergewissern sich Mitglieder von Szenen ihrer Gemeinschaft, die sich auf gemeinsame Interessen und ästhetische Vorlieben gründet. Events bestätigen nicht wie das traditionelle Fest eine vorgegebene Gemeinschaft, sondern bilden kurzzeitig eine Erlebnisgemeinschaft.

Unglücke haben Menschen schon immer erschüttert. Seit Lady Dianas Tod gibt es jedoch eine Art Eventtrauer, bei der sich spontan bildende Gemeinschaften mit Blumen, Kerzen, Bildern, Windrädern um persönlich unbekannte Verstorbene trauern. Geht es um verstorbene Stars handelt es sich dabei um "normale" Trauer, die über den Verlust einer zwar einseitigen, aber intensiven Bindung trauert.

Bei Phänomenen wie dem Worldwide Candle Lighting geht es um die Selbstvergewisserung einer Szene, die sich über eine gemeinsame Erfahrung, den Verlust ihrer Kinder, definiert. Bei unbekannten Terror-Opfern geht es hingegen, quasi traditionell, um die Bestätigung und Reintegration der Gemeinschaft. Man trauert dann nicht um den Verlust der unbekannten Personen, sondern um den Verlust des Normalzustands, den Verlust des Vertrauens, des Sicherheitsgefühls.

Statt der traditionellen Trauerfeier bevorzugt man das authentischere Event, das eine scheinbar individuelle Gestaltung in der kollektiven Trauer erlaubt – auf Außenstehende wirkt das meist weniger ergreifend, als kitschig. Die politisch initiierte Coronatrauer reiht sich hier ein: "Wir stellen ein Licht ins Fenster. Ein Licht der Trauer, ein Licht der Anteilnahme, ein Licht des Mitgefühls." Anders gesagt: "Wir" üben "Solidarität", die nichts kostet.

Während es sich bei den neuen Formen spontaner kollektiver Trauer um echte Trauerbekundungen zu handeln scheint, sind bei offiziellen Trauerfeiern oder Staatsbegräbnissen die Rituale unabhängig von realer Trauer. Politische Trauerfeiern erinnern, wenn es um einzelne Persönlichkeiten geht, um die Verdienste der Verstorbenen.

Bei Kriegs- oder Terroropfern geht es hingegen um Sinnstiftung. Sie sterben für oder wegen der politischen Gemeinschaft, der sie angehören – Krankheitsopfer nicht. Um Krankheitsopfer wurde bisher nicht aus Anlass der Krankheit getrauert. Krankheiten machen vielleicht religiös einen Sinn – deshalb gibt es Pestsäulen –, aber nicht politisch.

Epidemien galten bisher als Naturereignis, gegen das der Staat Vorsorge betreiben muss, wenn die Ursachen einmal bekannt sind (wie etwa bei der Cholera durch Kanalisation), für das er aber nicht direkt verantwortlich ist. Deshalb gibt es Kriegerdenkmäler, die eine politische Botschaft vermitteln – die Opfer sollen nicht umsonst gestorben sein, und sei es nur, dass sie zum Frieden mahnen –, aber keine zur Erinnerung an Cholera oder Spanische Grippe.

Im Unterschied zu Katastrophen wie Erdbeben oder Tsunamis haben Krankheiten auch eine andere Zeitstruktur, lassen sich nicht auf ein Erinnerungsdatum festlegen. Beim Corona-Tod fällt jede politische Sinngebung weg. Staatstrauer für Krankheitsopfer macht "an sich" keinen Sinn: Die Menschen sterben nicht aus politischen Gründen.

Für die Religionen ist das hingegen ihr ureigenstes Terrain, und auf sie greifen die meisten Leute bei Todesfällen immer noch zurück. Wahrscheinlich hätte die Politik auch besser getan, der Religion die Toten zu "überlassen" und möglichst wenig zu thematisieren – aber hätte sie das noch gekonnt? Sie kann dem Corona-Tod keinen Sinn geben. Sie hat sich mit ihrer Zuständigkeitserklärung für Krankheiten vielmehr in die prekäre Lage gebracht, dass jetzt jede Tote auf ihr Versagen hindeutet.

Hinzu kommt: Es sterben erheblich mehr Menschen an Herz-Kreislaufkrankheiten oder Krebs als an Corona. Warum trauert die Politik nur um die Corona-Toten, wenn es doch angeblich darauf ankommt, dass hinter jeder Toten eine individuelle Geschichte steht? Wo blieb bisher die Trauerfeier für die Grippetoten?

Gemeinsame Trauer soll Solidarität bekunden und so auch die zentrale Trauerfeier in Deutschland "ein Zeichen setzen, dass wir als Gesellschaft gemeinsam trauern, dass wir die Toten und das Leid der Hinterbliebenen nicht vergessen." Was soll das aber in diesem Fall heißen? Wie soll man jemand nicht vergessen, von dem man weder Namen noch Geschichte noch Sterbensumstände kennt – und das tausendfach? Soll man eine gesellschaftsweite Trauergruppe bilden?

Trauer betrifft – sieht man von Stars, Berühmtheiten ab – die dem Verstorbenen Nahestehenden. Die Trauernden helfen sich gegenseitig oder werden von ihren Freunden unterstützt – was einfach Zuhören bedeuten kann. Zudem schließen sich oft von ähnlichen Trauerfällen Betroffene in Trauergruppen zusammen und helfen sich gegenseitig.

Die Gemeinsamkeit führt zu Solidarität. Solidarität – die Mitbetroffenheit von dem, was die andere betrifft - setzt ein Zusammengehörigkeits- und Verpflichtungsgefühl voraus, und, wenn sie zu wirksamen Handlungen führen soll, Nähe. Über eine gewisse Gruppengröße hinaus wird Solidarität zur Leerformel oder Politkitsch ("Hoch die internationale Solidarität!") – Ausnahmen sind manchmal gravierende Menschenrechtsverletzungen.

Solidarität lässt sich zwar anmahnen, und wird politisch oft angemahnt, bleibt aber eine freiwillige, nicht-selbstverständliche Handlung und muss von den Betroffenen auch gewollt sein. So haben die Lockdowns nichts mit Solidarität zu tun, sondern sind schlicht und einfach Zwang. Und ob die im Gesundheitswesen Tätigen folgenloses Klatschen wollten und die um Coronatote Trauernden Kerzen als Hilfe ansehen, scheint doch fraglich.

Die säkulare Politik wird bei Trauerfeiern pseudo-religiös, vermittelt einen politischen Sinn - was meist zu peinlichem Pathos führt. Politische Trauer ist nicht eigentlich Trauer, sondern politische Demonstration. Corona ist nicht wegen der Opfer Thema, sondern weil wegen Corona die Gesellschaft stillgestellt und die Pandemie zum wesentlichen Inhalt der Politik wurde.

Deshalb wird eine "an sich" unpolitische Angelegenheit, wird individuelle Trauer politisiert, nicht wegen der Toten. Wird von der Politik dann anderes behauptet, wird auf einmal persönliche Anteilnahme an tausenden unbekannter Trauerfälle vorgegeben, dann ist das objektiv, unabhängig vom subjektiven Empfinden, Heuchelei – dégoûtant!

So wie die Coronapolitik angesichts des Reaktionssyndroms aber unvermeidbar war, so auch die Entdeckung der individuellen Toten und der individuellen Trauer. Und da sich alle etablierten politischen Lager hier grundsätzlich einig sind, wird auch die geheuchelte politische Trauer, leeres Pathos und folgenlose "Solidarität" kaum Anstoß erregen, ja, in der Eventgesellschaft von einer Mehrheit vielleicht sogar für bare Münze genommen werden.

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