Generalverdacht gegen eine genauere Prüfung von Einzelfällen

Unionspolitiker reagieren erbost auf die Stellungnahme der EU-Kommission zur Vergabe von Sozialleistungen an Zuwanderer

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Eine genaue Prüfung von "Einzelfällen" fordert die EU-Kommission bei der Vergabe von Sozialleistungen an Zuwanderern. Die Sozialgerichte und zuständigen Behörden sollen genau hinschauen. Die Stellungnahme der Kommission zu einem anhängigen Verfahren des Europäischen Gerichtshofes fordert laut SZ, der das Schreiben nach eigenen Angaben vorliegt, konkret, das Unionsrecht "dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedsstaats wie der im (...) SGB II entgegensteht". Auch ein EU-Bürger ohne Arbeit dürfe - nach einem dreimonatigen Aufenthalt - "nicht unter allen Umständen und automatisch" von Sozialleistungen ausgeschlossen werden.

Der Konflikt, auf den die EU-Kommission hinweist, liegt demnach im unterschiedlichen Spielraum für die Auslegung, die das Unionsrecht gegenüber dem deutschen Sozialgesetzbuch ggf. gewährt. Doch gibt es bereits im Rahmen der europäischen Rechtsauffassungen unterschiedliche Richtlinien: Das Europarecht ist in der Abwägung der Souveränität eigenständiger Regelungen in den Mitgliedsstaaten gegenüber dem Grundsatz der Gleichbehandlung der EU-Bürger "nicht eindeutig", wie ein Bericht der FAZ vom 2. Januar feststellt:

Im Zentrum des Streits stehen jedoch im wesentlichen zwei - europäische - Regelwerke, die das Problem der Zuwanderung innerhalb der Grenzen der EU geradezu konträr lösen: Die europäische "Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit" stellt klar, dass alle EU-Bürger gleich behandelt werden müssen.

Die gleiche Frage regelt die "Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen", allerdings mit dem genau umgekehrten Ergebnis: Diese "Unionsbürgerrichtlinie" erlaubt es den Mitgliedstaaten ausdrücklich, EU-Ausländer von der Sozialhilfe auszunehmen.

Dazu kommt, dass auch deutsche Landessozialgerichte Fälle, in denene es um die Bewilligung von Hartz-IV-Leistungen für Zuwanderer ging, die sich "nur zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten", also noch nichts in die Sozialkasse eingezahlt haben, "sehr unterschiedlich gesehen" haben.

Daraus lässt sich unaufgeregt zunächst als Schluss ziehen, dass hier eine Rechtsunsicherheit vorliegt, die der juristischen Klärung einer höheren Instanz bedarf. Weswegen auch zwei exemplarische Fälle aus Deutschland an den Europäischen Gerichtshof überwiesen wurden: der Fall einer schwedischen Familie und der Fall einer rumänischen Mutter, welcher der Anlass für die EU-Kommissions-Stellungnahme bot, die seit dem gestrigen Bekanntwerden für aufgeregte Kommentare sorgt (siehe "Hartz-IV auch für Zuwanderer, die nicht aktiv nach einer Arbeit suchen").

Keine Gelassenheit

Die Sachlage - es handelt sich lediglich um eine Stellungnahme, das relevante Signal, welches tatsächlich eine juristische Orientierung vorgibt, kommt dem EuGH-Richterspruch zu - hätte Unaufgeregtheit und Abwarten geboten, Weitsicht. Aber dem steht entgegen, dass manche Politiker schnelle Profite einfahren wollten, in der Hoffnung, sich bei diesem Thema zu profilieren. Wenn es schon in vielen Punkten keine großen Unterschiede mehr zwischen Union und SPD gibt, dann muss die "Ausländerfrage" verbunden mit "Sozialschmarotzertum" herhalten.

Entsprechend hat die CSU das Jahr der vielen Wahlen damit begonnen, auf provinzielle Eigenheiten zu setzen. Aus Erfahrungen mit dem Erfolg der Republikaner Mitte bis Ende dere 1980er Jahre klug geworden, lässt sie beim Populismus keinen Rahm von anderen mehr abschöpfen. Wie eng auf bayerische Einzelinteressen man da stiert, ist an der Reaktion des Vorsitzenden Seehofers auf die Stellungnahme der EU-Kommission abzulesen.

Spitzenpolitiker der Union "sauer"

"So etwas schadet der Zustimmung zur europäischen Idee", sagte Seehofer, unter Auslassung der stetigen Seitenhiebe auf die EU aus Reihen der CSU, die mit der Zustimmung zur europäischen Idee nichts oder nur wenig zu tun haben. "Die Kommission agiert oftmals, ohne wirklich die Lebensrealitäten zu kennen", ergänzte Seehofer und meinte mit "Lebensrealität" insbesondere seinen Plan der Maut für Ausländer, dem die EU ein paar Schranken aufgestellt hat.

Sämtliche Unionspolitiker, die sich zum Thema meldeten, bliesen, so scheint es, ins selbe Horn, welches zum Vertreiben bereits auf Lauer liegender Sozialleistungstouristen ertönt. Gleich mehrere Spitzenpolitiker der Union waren "sauer" und attackieren die Kommission, wird heute berichtet. Volker Kauder warnte, würde sich die Ansicht der EU-Kommission durchsetzen, "würde es vermutlich einen erheblichen Zustrom von Menschen geben, die allein wegen der Hartz-IV-Zahlungen nach Deutschland kommen würden." Und baute dazu gleich einen Strohmann auf:

Es hat keinen Sinn, das Thema der Armutszuwanderung zu leugnen, auch wenn wir in den nächsten Jahren viele neue Fachkräfte aus dem Ausland brauchen werden.

Dass das Statement der EU-Kommission das Thema Armutszuwanderung geleugnet hat, geht aus dem, was bisher von der Stellungnahme bekannt ist, überhaupt nicht hervor. Prinzipenfest gab sich auch der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet, der auf darauf verwies, dass die EU auf dem Grundprinzip baue, dass nur derjenige Leistungen erhalte, der auch etwas eingezahlt habe:

Dieses Prinzip muss man aufrechterhalten, sonst kann sich jeder das Sozialsystem aussuchen, das für ihn am günstigsten ist.

Das ist wohl war, aber dagegen richtet sich die Forderung nach Prüfung von Einzelfällen der EU-Kommission überhaupt nicht. Die Sprecherin der EU-Kommission betonte dies gestern Abend, nachdem die erste Entrüstungsschreie aus Deutschland bis Brüssel zu hören waren, nochmals.

Dass der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl einen stärkeren Datenaustausch fordert, um den Missbrauch von Sozialleistungen durch Einwanderer zu bekämpfen, gehört zur ständigen Begleitmusik beinahe aller politischer Themen.

Interessant ist, dass bei all der Erregung neben der beschränkten Relevanz des EU-Postionspapiers zum EuGH-Verfahren, anscheinend Aspekte der Zuwanderungs/Sozialhilfe-Problematik übersehen werden.

So heißt es aus Kreisen der EU-Kommission, dass Deutschland den EU-Sozialfonds besser nutzen könnte, um mit dem Problem umzugehen, das ja das eigentliche Angsteinjagerbild für die Diskussion liefert: die Schwierigkeiten mit Armutsmigranten in Großstädten, deutlicher: mit Sinti-und Romafamilien aus Bulgarien und Rumänien. Deutschland könne dazu mehr Mittel aus dem EU-Fond abrufen, lässt sich ein Bericht der FAS verstehen.