Generation Ratlos: Warum Schüler jetzt Alltagskompetenz büffeln müssen
Schüler in Bayern lernen jetzt Alltagskompetenz. Der Lehrplan soll Lücken in der Erziehung schließen. Doch kann die Schule wirklich ersetzen, was zu Hause fehlt?
Ursprünglich kommt das Thema aus der Betreuung alter Menschen, wo man darunter die Fähigkeit versteht, die Dinge des täglichen Lebens noch selbstständig durchführen zu können. Die Erhaltung der Alltagskompetenz ist ein wichtiges Therapieziel bei der Behandlung von Patienten mit Demenz.
Eingeschränkte Alltagskompetenz war ein Begriff aus dem Bereich der Pflegeversicherung, der dort inzwischen jedoch entfernt wurde und heute kein Kriterium mehr bei der Pflege ist.
Im Laufe der Jahre hatte man nämlich festgestellt, dass sich dieser Kompetenzmangel mitnichten nur auf die Senioren beschränkt, sondern auch am anderen Ende der Altersskala virulent ist. Dies geht nicht zuletzt auf die deutliche Überforderung der Erziehungsberechtigten mit der konkreten Erziehung der ihnen Anbefohlenen zurück.
Und so wurde das Thema speziell in Bayern auf den schulischen Bereich verlagert, was nicht nur Zustimmung fand. Dabei steht das Thema schon in der Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 in Artikel 131:
(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.
(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.
(3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.
(4) Die Mädchen und Buben sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.
Alltagskompetenz und Lebensökonomie im Lehrplan
Im föderalen Bildungssystem der Bundesrepublik wird das bayrische meist als besonders effizient gelobt.
Alltagskompetenz und Lebensökonomie stellen dabei einen verbindlichen Teil der Persönlichkeitsbildung an bayrischen Schulen und ein übergreifendes Ziel dar. In diesem Umfeld bestehen 14 weitere schulart- und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele. Dazu werden auch die Bildung im Blick auf eine nachhaltige Entwicklung, die Medienbildung, die politische Bildung oder Werteerziehung.
Das Thema Alltagskompetenz ist zudem mit weiteren übergreifenden Bildungs- und Erziehungszielen ist eng verknüpft. Dazu zählen die Handlungsfelder "Selbstbestimmtes Verbraucherverhalten" sowie "Umweltverhalten". Mithilfe der Vermittlung von Informations- und Bewertungskompetenz will man dazu beitragen, die Schüler zu mündigen Bürgern zu erziehen, die in der Lage sind, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen und informierte Konsum-Entscheidungen zu treffen.
Schüler sollen lernen, was ihre Eltern verpasst haben
Die allgemeine technische Entwicklung verläuft heute mit einer Geschwindigkeit, die man auch mit dem Begriff des lebenslangen Lernens nicht mehr beikommen kann. Einen begrenzten Erfolg verspricht diese Idee des lebenslangen Lernens höchstens noch im Bereich der beruflichen Qualifikation, wo eine Lernverweigerung massive Probleme mit sich bringt.
Wenn sie gleichzeitig noch all die Änderungen verfolgen sollen, welche auf die nächste Generation hereinstürmen, fühlen sich viele Eltern überfordert, welche am Ende ihres Arbeitstags höchstens noch entspannen wollen.
Erziehung fällt den Erziehungsberechtigten immer schwerer
Da für die Erziehung des Nachwuchses aufgrund der berufsmäßigen Belastung der Eltern kaum noch Zeit bleibt und die Schule daher nicht mehr mit der Unterstützung durch die Elterngeneration rechnen kann, übernimmt der Schulbetrieb immer mehr Aufgaben, welche ehemals zu den Aufgaben des Elternhauses zählten.
Dass immer mehr Schüler sich der Überwachung durch die Eltern entwinden und ihre Hausaufgaben nicht mehr so machen, wie dies ihre Eltern damals gewohnt waren, macht eine Beurteilung durch die Erziehungsberechtigten immer schwerer.
Wenn sich Schüler für die Hausaufgaben einfachheitshalber bei ChatGPT und Wikipedia bedienen und diesen digitalen Medien die höchste Autorität zubilligen, sind die meisten Eltern mit ihrem Latein am Ende. Sie tauchen dann in der Schule meist nur noch dann auf, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre hochbegabten Sprösslinge vom Lehrkörper ungerecht bewertet wurden.
Die Auseinandersetzungen der Lehrer zwischen den Anforderungen des Lehrplans und den Forderungen der Eltern, die wollen, dass es ihre Kinder besser haben sollten als sie selbst, bringen viele Lehrer zur Verzweiflung oder zumindest zur inneren Kündigung.
Hoher Krankenstand bei Lehrern mit Dominoeffekt
Wenn die Lehrer mit der aktuellen Situation in den Schulen überfordert sind, sorgt dies unwillkürlich zu gesundheitlicher Überbeanspruchung und einem hohen Krankenstand.
Daraus wird nach Aussage des Verbands Bildung und Erziehung ein Teufelskreis:
Je mehr Lehrer sich krankmelden, desto größer wird die Arbeitsbelastung für die noch verbliebenen Lehrkräfte und damit steigt für sie das Risiko, ebenfalls zu erkranken, sei es psychisch oder physisch.
Lösungsmöglichkeiten sind in diesem Dilemma keinesfalls wohlfeil. Dabei wäre eine Lehrerausbildung in den sechs Jahren zwischen Geburt der Kinder und ihrer Schulpflicht möglich. Manche Bundesländer rekrutierten Pensionäre oder Lehramtsstudenten, um Löcher in der Unterrichtsversorgung zu stopfen. Andere setzen ihre Hoffnungen auf Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung.
Diese entziehen jedoch dem ohnehin leergefegten Arbeitsmarkt weitere Arbeitskräfte und Abstriche im Angebot an Ganztagsunterricht, der einen hohen Lehrbedarf nach sich zieht, sorgen für vermehrten Arbeitsanfall bei den Jugendpräventionsabteilungen der Polizei. Ob die Anwerbung gut qualifizierter Kräfte im Ausland und ihre schnellere Integration ins deutsche Schulsystem die Lösung ist, ist fragwürdig.