Jugendliche am Abgrund: Warum unser Bildungssystem versagt
Wenn soziale Medien zur Falle werden. Droht eine verlorene Generation? (Teil 2 und Schluss).
Der erste Teil des Textes beschreibt die tiefgreifenden Veränderungen, die durch die fortschreitende Digitalisierung und den Einfluss sozialer Medien auf die junge Generation entstehen.
Kinder und Jugendliche, die in digitalen Parallelwelten sozialisiert werden, erleben eine Transformation ihrer Wahrnehmung, sozialen Fähigkeiten und emotionalen Stabilität.
Siehe dazu Teil 1
Digitale Parallelwelten: Wie Smartphones die Jugend verändern
Die US-Gesundheitsbehörde CDC veröffentlichte im Februar 2023 einen Bericht über die psychische Gesundheit von Jugendlichen in den USA. Wie es darin heißt, kämpfen mehr als 40 Prozent aller Highschool-Schüler mit anhaltenden Gefühlen von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Mädchen sind besonders betroffen.
30 Prozent von ihnen im Teenageralter (fast jedes dritte Mädchen) haben schon ernsthaft an Selbstmord gedacht. 57 Prozent, also fast sechs von zehn Mädchen, fühlen sich dem Report zufolge anhaltend traurig oder hoffnungslos.
Die Direktorin der CDC-Abteilung für Jugend- und Schulgesundheit, Dr. Kathleen Ethier, äußerte zu den Ergebnissen:
Wir konnten zwar bereits in den letzten zehn Jahren beobachten, dass sich die psychische Gesundheit junger Menschen stetig verschlechtert, aber psychische Belastungen, Suizidgedanken und suizidales Verhalten unter Mädchen im Teenageralter haben jetzt ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht.
Kathleen Ethier
Pole der inneren Antriebsstruktur
In seiner Untersuchung rekurriert der Sozialpsychologe Jonathan Haidt ("Generation Angst") auf Erkenntnisse des Psychologen Edward Thorndike, die von der modernen Neurowissenschaft aufgegriffen wurden.
Hier geht es um das Einschleifen dauerhafter Pfade im Gehirn, von Thorndike Anfang des 20. Jahrhunderts an Katzen erforscht. Die "smartphonebasierte Kindheit" folgt diesem Muster: Es kommt ein trivialer Lernmechanismus zur Anwendung – allerdings mathematisch optimiert, neurotechnisch ausgefeilt. Die beiden Schlüssel des "Erfolgs" dieser Mechanik nennt Haidt auch "Motivationskategorien". Als solche nennt er "Agency" und "Communion".
Das Gegensatzpaar "Agency" und "Communion" ließe sich auch lesen als der Widerstreit von Selbstsein und Zugehörigkeit, Pole der inneren Antriebsstruktur. Haidt beschreibt Agency als den Wunsch, herauszustechen, d.h. jemand Bestimmtes (oder Besonderes) zu sein; Communion als das Bedürfnis, sich mit anderen zu verbinden, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Die sozialen Medien locken mit dem Versprechen der Erlösung aus der Bedeutungslosigkeit, die in der realen Welt leider viel zu oft den Alltag dominiert.
Hinter dem virulenten Agens der beiden beschriebenen Pole verbirgt sich die horrende Vernachlässigung, die die spätkapitalistische Gesellschaft der jüngeren Generation angedeihen lässt. Man ist fast geneigt, von einer Strategie der Demoralisierung zu sprechen.
Kein neuer Humanismus in Sicht?
Thomas Fuchs ist Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Fuchs forscht zu den Möglichkeiten menschlicher Integrität angesichts der immensen gesellschaftlichen Herausforderungen. Er benennt die Paradoxien der virtuell überhöhten Realität mit eindringlichen Worten so:
Wir versuchen, eine innere Leere zu kompensieren, indem wir durch die Spiegelung unserer selbst in anthropomorphen Maschinen, in digitaler Intelligenz und in virtuellen Bildern ein ideales Selbstbild erschaffen.
Dies führt jedoch zu einem paradoxen Resultat: Zunehmend glauben wir an die Überlegenheit unserer eigenen künstlichen Geschöpfe, beginnen uns unseres Daseins als Wesen aus Fleisch und Blut zu schämen, und die Selbstüberhöhung schlägt am Ende in Selbsterniedrigung um.
Thomas Fuchs, Universität Heidelberg: Christian Wolff-Vorlesung 2023
Während die Politik eine angebliche Zeitenwende gelobt, Unmengen an Geld in die Rüstung (Remilitarisierung) pumpt und Bundeskanzler Olaf Scholz sich sicher ist, das Land wirtschaftlich und ökologisch "zukunftssicher" zu machen, ist unsere eigentliche Ressource, unser Nachwuchs, kaum noch Gegenstand konstruktiver politischer oder sozialer Interventionen.
Vorläufiges Resümee
Die so eminent wichtige Lebensphase der Adoleszenz durchläuft eine tiefgreifende Transformation. Mit ihrem unbehelligten Spurenlegen regieren die allmächtigen Informatiker wie Halbgötter in die "intime Chemie des Gehirns" (Houellebecq) unserer Kinder und Jugendlichen hinein – und machen deren Welt zu einem schreckgeplagten Ort.
Millionen Jugendlicher finden sich in Gemeinschaften wieder, die sie weder zu schätzen noch für sie zu sorgen vermögen. Gebannt im Sog der maschinellen Netzwerke gestaltet sich buchstäblich unter der Hand neu, was Erfahrung von Realität und Konstitution des eigenen Selbst bedeuten.
Anders gesagt: Kinder und Jugendliche finden sich hin- und hergeschoben zwischen staatlicher Missachtung (Geringschätzung) und dem privaten Sektor, wo sie zunehmend in die Unwirtlichkeit digitaler Räume abgedrängt sind.
Der "inneren Leere", von der Thomas Fuchs berichtet, entspricht die deprimierende Erfahrung alltäglicher Nichtigkeit in einer Realität, in welcher perpetuierte materielle Produktivität, gekoppelt an Zeichen äußeren Erfolgs, wichtiger sind als die Formung menschlicher Charaktere.
Jonathan Haidts Mahnungen lesen sich unter diesem Hinblick auch als Lehrstück über die Dialektik des Zivilisationsprozesses. Sein Buch schildert sublime Formen systemischer Gewalt und klärt über den herrschenden Zustand auf, der bereits Züge von Unumkehrbarkeit aufweist.
Beängstigend, das Versagen der Institutionen.
Eine freudlose Web World
Der virtuelle Irrgarten ist also alles andere als ein Paradies; er drängt das Reale in den Hintergrund und untergräbt die Kohärenz dessen, was wir euphemistisch "Jugend" nennen.
Kritiker der Turbo-Beschleunigung im Netz geben schon seit Längerem zu denken, dass es immer schwieriger werden dürfte, die unzusammenhängenden Fragmente der Wahrnehmung noch zu gliedern, sie in eine Kontinuität einzureihen, die am Ende einen Sinn ergibt.
Michel Houellebecq charakterisiert in seinen "Interventionen" die neuzeitlichen Individuen als in Wahrheit "isolierte, dem Stoßgesetz unterliegende Teilchen". Eine beklemmende Kennzeichnung der sinnenteigneten Subjektivität. Und eine zutiefst deprimierende, wenn man weiter liest: "Jeder, angetrieben von einer schmerzlichen Sehnsucht, verlangt vom anderen (…) das, was er nicht mehr sein kann".
Unterdessen nehmen wir zur Kenntnis, dass die Kriminalität an Schulen steigt und Lehrer und Erzieher das Ansteigen von Hass, Gewalt und Verwahrlosung beklagen: Rohheitsdelikte nehmen zu, Frustrationskontrolle und Affektkontrolle dagegen ab.
Fachleute betonen die enge Verschränkung analoger und digitaler Gewaltphänomene. Die in Deutschland jährlich durchgeführte JIM-Studie (Jugend – Information – Medien) nennt aktuelle Prozentzahlen der Jugendlichen, die mit Hassbotschaften und Beleidigungen im Netz konfrontiert sind bzw. diese wahrnehmen.
Von sexueller Belästigung online sind laut letzten Befragungen (Stand 2023) mit 36 Prozent mehr Mädchen betroffen als Jungen.
Ausblick: "More Toxic"?
Auch jüngste Zahlen aus Deutschland zur zeitlichen Nutzung lassen (mal wieder) aufhorchen, aber vermutlich auch wieder nur die Achseln zucken: Teenager zwischen 13 und 18 Jahren verbringen im Durchschnitt acht Stunden täglich mit Unterhaltungsmedien, bei den Acht- bis Zwölfjährigen sind es fünfeinhalb Stunden.
Wird die digitale Zukunft am Ende noch toxischer?
Die viel diskutierte und oft mit Vorschusslorbeeren bedachte KI, so erklärt Autor Haidt in einem Beitrag in dem US-Magazin The Atlantic im Mai 2023, zusammen mit Co-Autor Eric Schmidt, wird die bereits existierenden Probleme nicht lösen helfen, sondern im Gegenteil verschlimmern:
Die KI ist dabei, die sozialen Medien (noch viel) toxischer zu machen.
Jonathan Haidt, Eric Schmidt
Keine gute Nachricht für uns alle; sie beinhaltet einen erwartbaren Anstieg des Leidens ebenso wie einen Appell an die politische Kultur.
Die eigentliche Katastrophe könnte aber sein, dass die reale Welt, in der Jugendliche 2024 leben und existieren müssen, für viele von ihnen einer schlechten Utopie immer ähnlicher kommt. Dann wäre es nur zu verständlich, dass immer mehr von ihnen Neigung zeigen, in die prekäre, jederzeit zugängliche Parallelwelt abzudriften.
Mit neuen Erfahrungen monotoner Nichtigkeit.
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