Geopolitische Ränkespiele: Frankreichs Kampf um Kontrolle in Neukaledonien
Internationale Einmischungen und die alte Frage der Unabhängigkeit heizen die Lage in Neukaledonien weiter an. Neue Medien rühren einen explosiven Mix an.
Macht Manipulation am Bildschirm böse? Diese Frage scheint aufgeworfen, wenn derzeit die französische Regierung zum Teil den Kurznachrichtendienst TikTok für die schweren Unruhen in Neukaledonien verantwortlich macht.
Angeblich bis zu einer Milliarde Euro Sachschäden wurden dort bislang in anderthalb Wochen Riots, getragen vor allem von der jüngeren Generation der melanesischen Bevölkerung, verzeichnet.
Staatspräsident Emmanuel Macron traf gegen 23.30 Uhr am Mittwochabend auf der Inselgruppe im Westpazifik ein, um mit örtlichen Akteuren nach einer politischen Lösung zu suchen.
TikTok-Verbot vor Gericht
Die Nutzung von TikTok ist seit einer Woche, seit der Verhängung des Ausnahmezustands auf dem Archipel, verboten. Am Dienstag dieser Woche fand dazu eine Anhörung vor dem höchsten Verwaltungsgericht des Landes, dem Conseil d'Etat – einige seiner zahlreichen Funktionen entsprechen denen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts –, statt.
Geklagt hatte eine altehrwürdige NGO, die Liga für Menschenrechte (LDH). Diese wurde 1898 im Zuge der Kampagne gegen die Verurteilung des unschuldigen Alfred Dreyfus, die antisemitisch motiviert war und zu einer mehrjährigen Staatskrise führte, gegründet worden.
Seit Anfang dieser Woche, Pfingstmontag, hat die LDH eine neue Vorsitzende, die just aus Neukaledonien stammt und selbst Anwältin ist: Nathalie Tehio.
Freiheitsrechte und dürftige Beweismittel
Die LDH sieht eine grundlegende Frage von Freiheitsrechten hinter dem TikTok-Verbot. Bei einer Anhörung am Dienstag dieser Woche räumte der Conseil d'Etat, der in einem Eilverfahren eine Einstweilige Verfügung zum Thema erlassen soll, der Regierung 24 Stunden Zeit ein, um ihren Verbotsbeschluss zu begründen.
Laut Angaben von Nathalie Tehio, die am späten Mittwochabend im Nachtprogramm des Senders BFM TV interviewt wurde, konnte die Regierung daraufhin nur höchst dürftige Beweismittel vorlegen.
Die Staatsvertreter legten ihr zufolge Screenshots von Smartphones vor, aus denen aber lediglich hervorging, dass Kommunikationsteilnehmer einander rieten, diesen oder jenen Ort in der Inselhauptstadt Nouméa lieber zu meiden. Laut Regierungsinterpretation wies dies darauf hin, dass Riot-Teilnehmer einander Tipps gaben und sich über den Nachrichtendienst gegenseitig anfeuerten.
Laut Nathalie Tehio wiederum sieht es so aus, dass alle möglichen Personen sich solche Hinweise untereinander geben konnten, um etwa Verkehrshindernisse durch Barrikaden – die junge, zornige Melanesier in den letzten Tagen vielerorts errichteten – zu umfahren.
Ursachen für Ausbruch der Unruhen
Frankreichs Mächtige ihrerseits sehen keine Schuld für den Ausbruch der Unruhen bei sich liegen. Bei diesen geht es im Kern darum, dass die altansässige melanesische Bevölkerung sich um das Versprechen der Unabhängigkeit geprellt fühlt, indem man künftig in jüngerer Zeit angesiedelte Europäer bei Inselangelegenheit mitstimmen lässt.
Dies steht im Einklang mit einem Schreiben des damaligen Premierministers Pierre Messmer von 1972 an seinen damaligen Staatssekretär für "Übersee"gebiete, in denen der Regierungschef das Ziel ausgab, auf Dauer die altansässige Bevölkerung durch systematische Neuansiedlung von Europäern zu majorisieren.
Neue Medien und geopolitische Rivalen
In Paris sieht man jedoch neue Medien und geopolitische Rivalen Schuld an den Unruhen tragen. China wolle den Zugriff auf die Nickel-Vorräte, die auf Neukaledonien lagern – im Jahr 2023 war der Archipel die drittgrößte Nickelförderstätte auf dem Planeten, hinter Indonesien und den Philippinen.
Die Vorräte sollen die fünftgrößten sein, hinter denen in Indonesien, Australien, Brasilien und Russland. TikTok steht in chinesischem Besitz, wie etwa Google in US-amerikanischem. Und fertig ist die Beweisführung, was die chinesische Rolle hinter den Unruhen betrifft?
Paris beschuldigt Aserbaidschan
Frankreich beschuldigt daneben auch Aserbaidschan, die Unruhen in dem französischen so bezeichneten "Überseegebiet" – vor 1946 nannte man Neukaledonien noch offiziell eine Kolonie, und der Ausdruck "Übersee" ist überdeutlich kolonial geprägt, liegt Neukaledonien doch nur von Europa aus gesehen und nicht aus eigener Sicht "jenseits des Meeres" – zu schüren.
Als Mitglied der Blockfreienbewegung hat der aserbaidschanische Staat Stellung zu der Neukaledonien-Problematik bezogen und die Entkolonisierungsforderung unterstützt, seine Medien prangerten im Internet "die Gewalt des französischen Kolonialismus" an.
Daraufhin tauchten auch ein paar aserbaidschanische Flaggen in Nouméa auf. Im Hintergrund steht natürlich die Tatsache, dass das Regime in Baku ein paar außenpolitische Hühnchen mit den Regierenden in Paris zu rupfen hat.
In dessen Konflikt mit dem Nachbarland Armenien um die im Vorjahr durch Aserbaidschan eroberte Enklave Berg-Karabakh geht es seit langem nach dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" zu: Die Türkei unterstützt Baku, aber auch Israel, weshalb wiederum das iranische Regime das christliche Armenien (und nicht etwa das zu einem Drittel schiitische Aserbaidschan) unterstützt.
Paris hielt in jüngerer Zeit auch zu Armenien. Dazu schickt Baku nun die Rechnung.
Wahrscheinlichkeiten für Einmischung
Solche Kalküle internationaler Regierungen existieren selbstverständlich. Dass allerdings junge Menschen auf Neukaledonien allein deswegen ihr Leben riskieren – die französische offizielle Seite spricht derzeit von sechs Toten auf der Inselgruppen, die Gewerkschaft USTKE von einer Liste von 26 Getöteten, viele von Bürgerwehren europäischstämmiger Einwohner –, weil jemand in Peking oder Baku etwas will, ist eher unwahrscheinlich.
Oder würden junge Menschen in Deutschland allein deswegen randalieren, weil, sagen wir, die Regierung von Botswana sie dazu aufforderte?
Die russische Spur
Weitere internationale Einmischung scheint laut Medienberichten aus Russland zu kommen. In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch wurde ein stärkerer Cyberangriff auf Einrichtungen in Neukaledonien verzeichnet.
Laut französischen Angaben soll die Mehrzahl der daran beteiligten IP-Adressen in Russland angesiedelt sein. Dies scheint glaubwürdig.
In jüngerer Zeit soll das russische Regime auch im europäischen Festlandfrankreich an Destabilisierungsversuchen beteiligt gewesen sein. Man wirft Russland vor, dass es hinter mehreren spektakulären, gegen Juden gerichteten Schmierereien steht.
Im November 2023 wurde dieser Vorwurf infolge der, von aus Moldau stammenden Handlanger verübten, Schmierkampagne mit blauen Davidsternen in Medienberichten der französischen Öffentlichkeit publik.
Diese Woche schien sich das zu wiederholen, als das Holocaust-Mahnmal im Zentrum von Paris beschmiert wurde. Laut Angaben der investigativen Wochenzeitung Le Canard enchaîné stecken pro-russische bulgarische Staatsbürger dahinter.
Zunächst war die Schmieraktion als antisemitische Entgleisung im Zusammenhang mit Protesten gegen die brutale Kriegsführung der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen gewertet worden.
Tatsächliche Antisemiten wird die Enthüllung, es handele sich in Wirklichkeit um eine (russische) Destabilisierungsaktion, freuen: Künftig werden Verschwörungsgläubige bei jeder gegen jüdische Einrichtungen oder Menschen gerichteten Tat darauf hinweisen, angeblich stecke ja regelmäßig Manipulation hinter so etwas. Was natürlich nicht immer der Fall ist.