Geopolitisches Déjà-vu

Seite 2: Gefährlicher Machtkampf zwischen Ost und West

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Die extremistische westukrainische Rechte wirkt als separatistischer Treibsatz

Selbstverständlich nehmen auch antisemitische Vorfälle in der Ukraine zu. Jüdische Hilfsorganisationen haben bereits Nothilfen für die de facto unter Belagerung lebende jüdische Minderheit der Ukraine eingeleitet, während einige Rabbiner ihre Glaubensbrüder offen zur Flucht aus Kiew aufrufen.

Damit wirkt die extremistische westukrainische Rechte - die nun ihre Machtansprüche offen anmeldet - im Endeffekt als ein separatistischer Treibsatz, da diese Kräfte für einen Großteil der Bevölkerung der Ostukraine inakzeptabel sind. Die Ignorierung des Skandals in den deutschen Massenmedien, dass die politischen Erben der ukrainischen Nazikollaborateure auch von der Bundesregierung offensichtlich Rückendeckung erhalten, macht dies ja nicht ungeschehen - und es lässt die vorhersehbaren Sezessionsbestrebungen in den östlichen Landesteilen aufkommen.

Dabei sieht sich der Kreml, der selbstverständlich nicht an einem Bürgerkrieg an den eigenen Landesgrenzen interessiert ist, zu einem heiklen politischen Spagat genötigt. Einerseits wird Stärke demonstriert, um die nationalistischen Kräfte in Russland zu befriedigen: Die westlichen Truppenteile und die Luftwaffe werden in Alarmbereitschaft versetzt, Spezialeinheiten zum Schutz russischer Militäreinrichtungen auf die Krim verlegt - während die NATO der Ukraine "Unterstützung" zusichert und Russland vor einer Eskalation warnt. Zugleich beteuern russische Politiker die Respektierung der territorialen Integrität der Ukraine.

Die derzeit größte Gefahr besteht aber darin, dass der Kreml förmlich zur Intervention genötigt sein könnte, sollten auf der Krim blutige Zusammenstöße ausbrechen, bei denen viele ethnische Russen umkämen. Moskau kontrolliert somit die Lage und die Bedienungen nicht, die eine Intervention notwendig machen könnten. Der Kreml ist von einer Eskalationsdynamik abhängig, die von extremistischen Kräften jederzeit weitergetrieben werden kann.

Doch selbst wenn das - derzeit durchaus mögliche - Abgleiten der Ukraine in den Bürgerkrieg verhindert werden sollte, wird Russland weiterhin um eine Revision der Westausrichtung der Ukraine ringen. Hierzu steht dem Kreml ein breites Sammelsurium vornehmlich wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Verfügung: von der Energiepolitik über die Frage ukrainischer Exporte nach Russland bis zu Migrationsregelungen.

Machtkampf zwischen Ost und West

Die Ukraine bildete das Schlüsselelement im russischen Projekt einer "Eurasischen Union", die als ein Gegengewicht zur EU aufgebaut werden sollte. Deshalb war der Kreml bereit, mittels Preisnachlässen für Energieträger und milliardenschwerer Finanzspritzen die Bereitschaft Janukowitschs - der keinesfalls einer "Marionette" Moskaus war, sondern jahrelang zwischen Ost und West lavierte - zur Ostintegration buchstäblich zu erkaufen. Die Verhinderung dieser "postsowjetischen" Eurasischen Union, an der auch Kasachstan und Weißrussland beteiligt wären, kann getrost als der wichtigste Grund für die Unterstützung des Kiewer Umsturzes seitens des Westens benannt werden.

Die weiteren Gründe für die Vehemenz, mit der insbesondere die deutsche Außenpolitik sich in der Ukraine engagiert, können in aller Offenheit auf der Internetpräsenz der Tagesschau verinnerlicht werden: Es geht um die "Kornkammer" Europas, um den russischen Schwarzmeerstützpunkt in Sewastopol, um die Schwerindustrie des Ostens. Die Europäer würden "ihre Absatzmärkte erweitern und leichteren Zugriff auf die Rohstoffe und Bodenschätze der Ukraine gewinnen". Für Russland und die EU sei die Ukraine "nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch von großem Interesse", schlussfolgerte die Tagesschau nüchtern.

Damit wird der Vergleich zur "Orangen Revolution" in der Ukraine nicht nur angesichts der Brutalität des Machtkampfes und der allgegenwärtigen Willkürakte der frei agierenden Milizen hinfällig: Nun steht die Aufnahme der Ukraine in die NATO und die feste Einbindung dieses Landes in die EU auf dem Programm. Was sich derzeit hier abspielt, stellt somit die größte geopolitische Auseinandersetzung, den riskantesten Machtkampf zwischen Ost und West seit dem Enden des Kalten Krieges dar - und es ist der Westen, der hier eskaliert. Russland ist dabei, eine schwere strategische Niederlage zu erleiden, in deren Ausgang die NATO direkt an das Kernland Russlands vorrückte und die Pläne einer Eurasischen Union zur Makulatur würden. Bislang diente die Ukraine als "Pufferstaat", der nun der westlichen Einflusssphäre zugeschlagen werden soll.

Während Politik und Medien eine nicht gegebene "Normalität" simulieren, findet auf internationaler Ebene derzeit das gefährlichste geopolitische Machtspiel seit dem Ende des Kalten Krieges statt, bei der Russland entscheidend und dauerhaft geschwächt werden soll. Wie wird sich die NATO verhalten, wenn Russland der Stadt Sewastopol tatsächlich zur Hilfe eilen sollte? Sewastopol hat inzwischen den Belagerungszustand ausgerufen. Jedem Russen ist klar, dass damit Parallelen zur siebenmonatigen Belagerung Sewastopols durch die Wehrmacht 1941 und 1942 gezogen werden, was die entsprechenden emotionalen Reaktionen auslöst und den Druck zur Intervention auf dem Kreml massiv erhöht.

Kurz vor dem hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges verzetteln sich die Großmächte somit erneut in einem geopolitischen "Great Game" um Einflusssphären und Macht, das ein schwindelerregendes Eskalationspotenzial aufweist. Manches ändert sich im Kapitalismus halt nie. Es stellt sich nur die Frage, ob die Politiker, die zur Eskalation dieser Krise beigetragen haben, auch die "Verantwortung" für deren eventuelle Folgen übernehmen werden.