Geschäfte mit der Not: Wenn Spenden die falschen Taschen füllen
Die Spendenbereitschaft erreichte trotz Krise ein Rekordhoch. Nicht alle Organisationen sind seriös. Deutsches Rotes Kreuz verteidigt Millionengeschäft des Türkischen Roten Halbmonds
Seit Beginn des Ukraine-Krieges ging in Deutschland die Spendenbereitschaft durch die Decke – trotz Energiekrise und der Inflation flossen 2022 so viele Spendengelder wie nie zuvor. Dies ging Ende des Jahres aus einer Auswertung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hervorging. Allerdings lag der Schwerpunkt klar auf der Ukraine – Initiativen, die für Notleidende in anderen Teilen der Welt sammelten, mussten zum Teil Einbußen hinnehmen.
Die Erdbeben-Katastrophe vom 6. Februar erweiterte den Blick wieder in Richtung Türkei und Syrien. Allerdings gehen hier – wie bei vielen anderen Gelegenheiten – unterschiedlich seriöse Organisationen an den Start, um Spenden zu sammeln.
Als Orientierungshilfe für Menschen, nicht wollen, dass von ihr Geld in erster Linie hauptamtlichen Funktionären oder Werbeagenturen zugutekommt, ist das Spenden-Siegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) gedacht. Eine Grundvoraussetzung für Organisationen, die es erhalten: Die Werbe- und Verwaltungsausgaben betragen höchstens 30 Prozent der jährlichen Gesamtausgaben. Insgesamt sieben Standards für die Vergabe des Gütesiegels werden jährlich überprüft.
Wen es kleinere oder nicht überwiegend in Deutschland aktive Organisationen nicht vorweisen können, bedeutet dies nicht automatisch, dass sie korrupt sind. Manche von ihnen arbeiten im Ausland mit Spenden-Siegel-Organisationen zusammen. Ein Blick auf die Positivliste dieser Organisationen kann in solchen Fällen durch Online-Recherche ergänzt werden.
Auf der Positivliste der Spenden-Siegel-Organisationen findet sich auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Allerdings macht eine seiner Schwesterorganisationen im Erdbebengebiet gerade Negativschlagzeilen: der Türkische Rote Halbmond.
Der Journalist Murat Ağırel berichtete kürzlich in der Tageszeitung Cumhuriyet, dass mehr als 2050 Zelte an die Hilfsorganisation Ahbap verkauft worden seien – für umgerechnet knapp 2,3 Millionen Euro. Der Türkische Rote Halbmond (Kızılay) erntete dafür heftigen Protest. Das Deutsche Rote Kreuz verteidigte jedoch seine Schwestergsellschaft und riskiert damit selbst Glaubwürdigkeit.
Die von dem Rockmusiker Haluk Levent gegründete Hilfsorganisation Ahbap berichtete dem Sender Fox TV, sie habe auc Lebensmittel bezahlen müssen, um die Menschen im Erdbebengebiet mit warmem Essen versorgen zu können: "Wir haben vom Roten Halbmond Bohnen gekauft." "Die größte Wohltätigkeitsorganisation der Türkei, der Rote Halbmond, hat Zelte verkauft, anstatt sie kostenlos an die Bedürftigen zu verteilen, als die Menschen drei Tage nach dem Erdbeben um sie bettelten", empörte sich Agirel.
Der Ahbap-Vorsitzende Haluk Levent wies Kritik an seiner Hilfsorganisation, die sich auf das Geschäft eingelassen habe, zurück: "Auch die Apothekerkammer Ankara hat Zelte vom Türkischen Roten Halbmond gekauft. Warum sollten wir also keine Waren kaufen? Auch die Afad, das Präsidium für Katastrophen- und Notfallmanagement, kauft dort Ausrüstung ein".
Der Präsident des türkischen Roten Halbmonds, Kerem Kınık, twitterte zunächst, dass die Tochtergesellschaft "Kızılay Cadir", für die Herstellung der Zelte zuständig sei und sie Ahbap "zum Selbstkostenpreis" zur Verfügung gestellt habe.
Oppositionspolitiker forderten daraufhin den Rücktritt von Kınık. Prominente Rückendeckung bekam Kınık vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der die Kritik am Türkischen Roten Halbmond als "unehrlich und abscheulich" bezeichnete und dafür sorgte, dass es am 27. Februar einen Fototermin mit ihm, dem Vorsitzenden der rechtsextremen Partei MHP, Devlet Bahçeli und Kınık vor den Trümmerbergen in Adıyaman gab.
Deutsches Rotes Kreuz verteidigt Schwesterorganisation
Das DRK sprang dem in die Kritik geratenen Roten Halbmond ebenfalls beiseite und erklärte, Kızılay habe zwei voneinander abgegrenzte Bereiche: einen humanitären Bereich und ein Sozialunternehmen, das der Finanzierung der humanitären Arbeit diene. Das Unternehmen des Türkischen Roten Halbmonds produziert also Zelte für die humanitäre Hilfe des Roten Halbmonds.
Dieser setzt die Zelte in seinem humanitären Bereich aber nicht etwa kostenlos im Erdbebengebiet ein, sondern verkauft sie an andere NGOs – um die Erlöse dann wieder in die humanitäre Hilfe des Halbmonds zu investieren? Ob die DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt wusste, dass sich mit der vorschnellen Erklärung das DRK einen Bärendienst erwiesen hat? Denn kurz nach Bekanntwerden dieser Praxis bei Kızılay erklärte dessen Präsident Kınık noch vor dem Erscheinen der Rechtfertigung des DRK in einem Tweet:
"Ich wusste nicht, dass die 2050 Zelte an Ahbap verkauft wurden, als ich es herausfand, kritisierte ich meine Freunde"
Während Ahbap-Gründer Levent bekannt gab, dass auch die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad Zelte vom Türkischen Roten Halbmond gekauft haben soll, behauptete das DRK vergangene Woche:
Zum jetzigen Zeitpunkt wurden mehr als 54.000 Zelte durch den Türkischen Roten Halbmond an die zuständige Behörde gespendet; unmittelbar nach der Erdbebenkatastrophe hat der Türkische Rote Halbmond seinen gesamten Lagerbestand an Zelten an Afad gespendet.
Die gespendeten Zelte stammen aus dem Bestand des Türkischen Roten Halbmonds und aus Spenden der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRK), Schwestergesellschaften und anderen Partnern.
Stellungnahme zu Berichten über Zeltverkäufe durch den Türkischen Roten Halbmond, DRK, 28. Februar 2023
Letztlich schaden solch vorschnelle Rechtfertigungen dem eigenen Ansehen und der eigenen Vertrauenswürdigkeit des DRK. Es wäre nicht verwunderlich, wenn das Spendenaufkommen für das DRK nach dieser parteilichen Stellungnahme einbrechen würde. Denn mit der Erklärung wird eine Organisation in Schutz genommen, die Teil eines dubiosen Netzwerks der AKP und des Erdogan-Clans ist.
Die Verstrickungen von Kızılay und AKP-Netzwerk
Nach dem Putschversuch 2016 waren 617 von 750 Ortsgruppen des Türkischen Roten Halbmonds geschlossen worden, andere wurden unter staatliche Zwangsaufsicht gestellt. Kerem Kınık wurde danach zum Präsidenten des Türkischen Roten Halbmonds gewählt.
Damals kam mehrfach der Verdacht auf, durch die Schließung von Ortsgruppen und die Zwangsaufsicht für verbliebene Ortsgruppen sei für die Wahl eine Delegiertenmehrheit zugunsten Kınıks geschaffen worden.
Nun begann die systematische Einbindung des Türkischen Roten Halbmonds in die AKP-Netzwerke: zum Zwangsverwalter der Istanbuler Ortsgruppe wurde İlhami Yıldırım bestellt, ein Bruder von Binali Yıldırım, dem letzten AKP-Ministerpräsidenten der Türkei. 2019 bewarb sich Binali Yıldırım erfolglos für das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul, vom Präsidenten des Türkischen Roten Halbmonds, Kerem Kınık, erhielt er Wahlkampfhilfe. Kınık ist nicht nur Präsident des Kızılay, er ist auch Geschäftsführer von elf weiteren Unternehmen der Kızılay-Gruppe.
Sein Sohn Furkan Kınık ist ebenfalls in dem AKP-Netzwerk integriert: Er ist Manager des Staatssenders TRT – und stellvertretender Chef der Jugendorganisation des Türkischen Roten Halbmondes.
Steuerhinterziehung zugunsten von Firmen des AKP-Umfelds
Ende 2017 erhielt der Rote Halbmond eine Spende von acht Millionen Dollar vom zweitgrößten türkischen Erdgasversorger Baskentgas. Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2020 unter Berufung auf das Nachrichtenportal Gazetta9, dass die Spende an fundamentalistische Stiftungen aus dem Umfeld der Regierungspartei AKP Erdogans oder seiner Familie weitergereicht wurde.
Dabei handelte es sich um die islamisch-fundamentalistische Ensar-Stiftung, die im Ruf steht, systematisch Kindesmissbrauch in ihren Schülerwohnheimen vertuscht zu haben. Die Ensar-Stiftung leitete die Spende weiter an die Turken-Stiftung, die ihrerseits von Ensar und Türgev gegründet wurde, einer weiteren Bildungsstiftung, die Erdogan persönlich ins Leben gerufen hatte.
In den Vorständen von Turken und Türgev sitzt Erdogans Tochter Esra Albayrak Turken gab damals an, mit dem Geld ein 21-stöckiges Wohnheim für in den USA lebende türkische Kinder und Studenten im New Yorker Stadtteil Manhattan bauen zu wollen.
Spenden an diese Stiftung sind nicht zu 100 Prozent steuerlich absetzbar. Da aber Spenden an den Roten Halbmond in der Türkei zu 100 Prozent steuerlich absetzbar sind, wird dies anscheinend von namhaften Firmen genutzt, um Gelder steuermindernd am Finanzamt vorbei zu schleusen, um sie dann über die Hilfsorganisation an regierungsnahe Organisationen weiterzuleiten.
Zwischen 2015 und 2019 soll der Türkische Rote Halbmond von fünf Geschäftsleuten und elf Unternehmen Spenden in Höhe von rund 16 Millionen Euro erhalten haben. Dem türkischen Staat entgingen allein wegen der Spende an die Ensar-Stiftung rund zwei Millionen Dollar an Steuergeldern. Der Präsident vom Türkischen Roten Halbmond, Kerem Kınık rechtfertigte diese Praxis: "Steuerhinterziehung ist eine Sache, Steuervermeidung eine andere", erklärte er, als Anfang 2020 die Spende an die Ensar-Stiftung bekannt wurde.
Er führte aber nicht aus, wieso fast die gesamte Acht-Millionen-Dollar-Spende eines AKP-nahen Unternehmens an eine AKP-nahe Stiftung zu Steuersparzwecken durch die Bücher der Hilfsorganisation geschleust wurde. Die linke Tageszeitung Birgün veröffentlichte ein Dokument, wonach sich die Spenden an den Roten Halbmond zwischen 2016 und 2019 gegenüber dem Vergleichszeitraum um das 32-fache erhöht hätten. Es sei denkbar, dass der Rote Halbmond als Komplize in einem riesigen Steuervermeidungssystem fungiere.
Die türkische Regierung gerät immer wieder wegen korrupter Machenschaften in den Fokus, zuletzt wegen der Zweckentfremdung von umgerechnet 37 Milliarden US-Dollar Erdbebensteuer. Statt die Gelder für erdbebensicheres Bauen zu verwenden, erklärte der ehemalige Finanzminister Mehmet Simsek schon 2011, wohin das Geld in der Türkei wirklich geflossen sei: "Das Geld wird für Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft und für die Bildung ausgegeben".
Auch seien die Einnahmen aus der Erdbebensteuer für das Rückzahlen der Schulden beim Internationalen Währungsfonds verwendet worden, so Ex-Finanzminister Simsek. Korruption erweist sich als hartnäckiges Problem in der Türkei. Laut "Korruptionswahrnehmungsindex" von Transparency International liegt das von Erdogan regiert Land auf Platz 101 unter 180 Staaten.