Gesellschaften und Biosphäre vor dem Kipppunkt
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Wie die Klimakrise und zwingt, unsere Wirtschaftsweise und die Formen unseres Zusammenlebens neu zu erfinden und neue Formen der Solidarität zu entwickeln
Im Dezember 2020 veröffentlichten 250 renommierte Klima- und Erdsystemwissenschaftler:innen einen offenen Brief in der britischen Tageszeitung The Guardian, in dem sie dazu aufriefen, sich angesichts des absehbaren Scheiterns der Klimapolitik mit der Möglichkeit eines Zerfalls oder Zusammenbruchs der gegenwärtigen Zivilisation im Laufe dieses Jahrhunderts auseinanderzusetzen.
Der Aufruf ist keine schwarzmalende Apokalyptik, sondern ergibt sich aus der Datenlage. Vieles spricht dafür, dass von den 15 bekannten Kipppunkten im Erdsystem neun kurz bevorstehen.
Dazu gehört ein Umkippen des Amazonas-Regenwaldes, der sich durch Entwaldung und Klimastress weit eher als bisher angenommen in eine Savanne verwandeln könnte und dabei gigantische Mengen CO₂ freisetzen würde; die tauenden Permafrostböden in Sibirien, in denen Unmengen des Treibhausgases Methan gespeichert sind; und das Abschmelzen der Eismassen in Grönland und der Westantarktis, das langfristig zu einem Meeresspiegelanstieg von 14 Metern führen würde – das Ende für die meisten Küstenregionen der Erde.
Werden diese Kipppunkte tatsächlich überschritten, lassen sich die selbstverstärkenden Prozesse auch mit hochambitionierten Klimaschutzmaßnahmen nicht mehr aufhalten.
Wenn solche Szenarien verhindern werden sollen, haben wir im besten Fall noch ein Zeitfenster von wenigen Jahren, um unsere Emissionen drastisch zu reduzieren – genauer gesagt: um mindestens 80 Prozent in den Industrieländern bis 2030.
Dafür wäre ein fundamentaler Umbau unserer Infrastrukturen und unserer Wirtschaftsweise notwendig, einschließlich einer empfindlichen Einschränkung der Überkonsumption der reichsten Schichten.
Dass die tonangebenden Regierungen zu solchen Schritten trotz wachsender weltweiter Proteste nicht bereit sind, hat zuletzt die UN-Klimakonferenz in Glasgow gezeigt. Bei vielen anderen kritischen Entwicklungen, etwa dem rasanten Verlust von Biodiversität, sieht es trotz zahlreicher internationaler Konferenzen und vollmundiger Erklärungen ähnlich aus.
Unsere Gesellschaften befinden sich also in einer extrem kritischen Situation. Sie stehen vor irreversiblen Kipppunkten und die große Politik lässt sie systematisch im Stich. Diese Lage stellt eine außerordentliche Belastung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die psychisch-emotionale Gesundheit und für die Motivation, sich politisch zu engagieren, dar.
Eine großangelegte Studie unter 16- bis 25-Jährigen in zehn Ländern kam zu einem erschreckenden Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Befragten war überzeugt, dass die Menschheit dem Verderben geweiht sei ("humanity is doomed"), und vier von zehn zögern angesichts dieser Lage, Kinder in die Welt zu setzen.1
Dieser Befund ist beispiellos. Und er zeigt, dass die Versprechungen der Politik – und auch eines beträchtlichen Teils der Zivilgesellschaft –, man könne mit ein paar technischen Änderungen wie Elektroautos zugleich das Klima und unserer bisherigen Way of Life retten, völlig von der Wahrnehmung der jungen Generation entkoppelt sind.
Resilienz als Antwort?
In diesem Zusammenhang ist immer öfter davon die Rede, dass Menschen und menschliche Gemeinschaften angesichts der zunehmenden Verwerfungen Resilienz aufbauen sollen. Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit komplexer Systeme, ihre Funktionsweise bei wandelnden Umweltbedingungen und Teilausfällen aufrechtzuerhalten.
Obwohl es natürlich richtig und wichtig ist, sich auf Klimachaos und Systemkrisen vorzubereiten, ist der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs inzwischen höchst problematisch geworden. Wenn Militärorganisationen davon sprechen, ihre Systeme gegen das Klimachaos resilient zu machen, oder Manager von Ölkonzernen Seminare belegen, um ihre psychische Resilienz in krisengeschüttelten Zeiten zu stärken, dann geht es letztlich nur darum, einen tödlichen Status quo abzusichern.
Der Begriff kann auch dazu dienen, politische Verantwortung von den höheren Ebenen auf kleine Gemeinschaften und Individuen abzuwälzen. Kommunen dazu zu ermuntern, ihre Resilienz gegen das heraufziehende Klimachaos zu stärken, ist zwar an sich sinnvoll und notwendig, es wird aber zu blankem Zynismus, sobald es als Ersatz für wirksame Klimapolitik auf den höheren Ebenen dient.
Wenn die Himalaya-Gletscher aufgrund unserer Emissionen in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein werden und damit die Wasserversorgung von bis zu 1,5 Milliarden Menschen in der warmen Jahreszeit zusammenbricht, was soll dann, angesichts der Unbewohnbarkeit ganzer Regionen, Resilienz für ein indisches Dorf bedeuten?