Gesellschaften und Biosphäre vor dem Kipppunkt

Seite 2: Perspektiven für einen umfassenden Umbau

Sinnvolle Antworten auf die Biosphärenkrise können nur gemeinsam auf allen Ebenen gegeben werden, vom Dorf über die Städte und Nationalstaaten bis zur UN, und auf allen Politikfeldern: vom schnellen Ausstieg aus den fossilen Energien über die Anpassung an bereits irreversible Zerstörungen bis zur Finanzierung der Lasten im Globalen Süden und der Frage der Klimaflucht.

Der Internationale Währungsfonds kommt zu dem Ergebnis, dass die fossilen Energien jährlich mit der unvorstellbaren Summe von 5,9 Billionen US-Dollar subventioniert werden.

Die Steuerzahler finanzieren also die Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen. Hinzu kommen allein in Deutschland zweistellige Milliardenbeträge jedes Jahr für die Auto- und die Luftfahrtindustrie.

Die EU-Kommission hat jüngst auch noch den absurden Vorstoß unternommen, Erdgas und Atomkraft in ihre Klimaschutzstrategie aufzunehmen und mit weiteren Milliarden zu fördern. Diese destruktiven Subventionen müssen umgehend beendet werden.

Das gilt auch für die Förderung der industriellen Landwirtschaft und Massentierhaltung, die erheblich zur Biosphärenzerstörung beiträgt. In Verbindung mit einer fairen Besteuerung von Konzernen und der reichsten Schichten, die für den größten Teil der Emissionen verantwortlich sind, könnten durch die Abschaffung fehlgeleiteter Subventionen enorme Summen freigesetzt werden, die sich für ein umfassendes Transformationsprogramm nutzen ließen: Rückbau der schädlichen Industrien, dafür massive Investitionen in Bildung, Kultur, öffentliche Gesundheit, Verkehrswende, ökologische Landwirtschaft, klimafreundlichen Umbau der Städte und dezentrale erneuerbare Energien in Bürgerhand.

Ein solcher Umbau kann mit einem deutlichen Gewinn an sozialer Gerechtigkeit, Lebensqualität und demokratischer Partizipation verbunden sein. Er lässt sich aber nur durchsetzen, wenn es gelingt, breite gesellschaftliche Allianzen dafür aufzubauen.

Gesellschaftliche Kipppunkte

Aber was, wenn sich in den kommenden Jahren herausstellt, dass dies alles nicht reicht oder zu spät kommt? Wenn die Kipppunkte überschritten werden und wir auf ein "Hothouse" von drei bis fünf Grad Celsius Erwärmung zusteuern? Ist dann alles Engagement vergeblich und der Untergang der Menschheit gewiss?

Keineswegs. Denn der Kampf um jedes Zehntel Grad Erwärmung, das verhindert werden kann, bleibt in jedem Fall von entscheidender Bedeutung für die Lebenschancen von Hunderten Millionen von Menschen. Allein die Verlangsamung der Klimaveränderungen kann einen lebensrettenden Zeitgewinn für die Anpassung bedeuten.

Hinzu kommt: Ein Planet, der ungastlicher wird, fordert uns dazu heraus, unsere Wirtschaftsweise und die Formen unseres Zusammenlebens vollkommen neu zu erfinden und neue Formen der Solidarität zu entwickeln. Die Aufgaben werden also größer, nicht kleiner. Sowohl international wie national brauchen wir außerdem einen neuen Rechtsrahmen, der Verbrechen gegen die Biosphäre konsequent als Ökozid ahndet und Klimaflüchtlingen umfassende Rechte gewährt.

Utopisch? Unmöglich? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es nicht nur im Klimasystem Kipppunkte gibt, sondern auch in sozialen Systemen. Der Zerfall einer gesellschaftlichen Ordnung, wie wir ihn derzeit erleben, führt in eine chaotische Phase, in der selbst kleine Bewegungen unter Umständen große Wirkungen entfalten können.

Niemand hätte zum Beispiel voraussagen können, dass ein Teenager mit Asperger-Syndrom und einem Pappschild vor dem schwedischen Parlament eine globale Klimabewegung mit Millionen von Menschen in Gang setzen würde.

Die Corona-Krise hat diese Dynamik zwar unterbrochen, doch die Geschichte ist nach wie vor offen. Alles, was wir tun und was wir nicht tun, kann potenziell einen Beitrag dazu liefern, in welche Richtung die gesellschaftlichen, biosphärischen und atmosphärischen Systeme kippen werden. Zuschauen ist also keine Option. Es kommt auf uns alle an.

Fabian Scheidler ist freischaffender Autor und Journalist. Sein Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien von ihm im Piper Verlag Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen. Mehr auf fabian-scheidler.de