Gewalt und Staatsferne: Was der Verfassungsschutz als extremistisch einstuft

Zuständig für den Verfassungsschutz: Das Bundesinnenministerium in Berlin. Bild: C. Müller / CC-BY-SA-3.0

Jahresbericht: Geheimdienst sieht größtes Gewaltpotenzial in der rechten Szene. Er registriert aber auch mehr "Mischszenen". Als gefährlichste Klima-Initiative gilt nicht die "Letzte Generation".

Der Inlandsgeheimdienst nimmt in Kreisen, die er als extremistisch einstuft, eine hohe Gewaltbereitschaft wahr. Das geht aus dem aktuellen Verfassungsschutzbericht hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Zugleich verschwimmen aus der Sicht des Bundesamts für Verfassungsschutz die Grenzen zwischen den "Phänomenbereichen".

14,5 Prozent mehr Rechtsextreme: AfD-Mitglieder erstmals mitgezählt

Die Zahl klassischer Rechtsextremisten ist aber offiziell auch deshalb gestiegen, weil in dieser Kategorie erstmals Angehörige der AfD mitgezählt wurden. Deren Einstufung als Verdachtsfall hat das Kölner Verwaltungsgericht im März 2022 bestätigt. Das Verfahren ist allerdings noch nicht abgeschlossen, weil die AfD dagegen Berufung eingelegt hat.

Angesichts der "inhaltlichen Heterogenität innerhalb der AfD" können laut Verfassungsschutz "nicht alle Parteimitglieder als Anhänger der extremistischen Strömungen betrachtet werden." Das Bundesamt schätzt, dass rund 10.200 Mitglieder der AfD und ihrer Nachwuchsorganisation junge Alternative diesen Strömungen zuzurechnen sind. Das rechtsextreme Spektrum insgesamt umfasst nach Angaben der Behörde rund 38.800 Menschen – ein Anstieg um 14,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresbericht. Etwa 14.000 Akteure dieses Spektrums gelten als gewaltorientiert.

Als linksextremistisch werden 36.500 Personen eingestuft – hier stellte das Bundesamt einen Anstieg um 5,2 Prozent im vergangenen Jahr fest. Mehr als jede vierte Person dieses Spektrums wird als gewaltorientiert angesehen. Allerdings ist die Zahl der Straftaten, die Linken zugeschrieben werden, im Berichtsjahr deutlich gesunken, nämlich um 37,4 Prozent – die Zahl der Gewaltdelikte im Bereich "Politisch motivierte Kriminalität (PMK) links" sank um 39 Prozent.

Zweistelliger Anstieg von Straftaten: "Reichsbürger und Selbstverwalter"

Bei den Rechten wurde hier jeweils ein Anstieg festgestellt, allerdings jeweils im einstelligen Bereich – das könnte aber daran liegen, dass der Phänomenbereich "Reichsbürger und Selbstverwalter", in dem sich auch Rechte tummeln, vom Verfassungsschutz separat gezählt wird. Denn hier gab es jeweils einen zweistelligen Anstieg: 34,3 Prozent mehr Straftaten, während die Teilmenge der Gewaltdelikte sogar um 55,4 zunahm.

Trotz dieser irritierenden Unterteilung, die auf den ersten Blick wirkt, als solle rechte Gewalt kleingerechnet werden, stufen der Verfassungsschutz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Rechtsextremismus weiterhin als größte Gefahr für die Demokratie ein.

Was eigentlich sonst noch genau extremistisch ist, davon hat der Verfassungsschutz zumindest andere Vorstellungen als mancher CDU-Politiker oder die Bild-Zeitung.

Antikapitalistische Gruppen nur "vorgeblich" für Klimaschutz?

Was die Klimagerechtigkeitsbewegung angeht, hat der Inlandsgeheimdienst nämlich nicht primär die Gruppe im Visier, die zuletzt mit bundesweiten Razzien konfrontiert war und von bürgerlichen Parteien und Boulevardmedien am gründlichsten verdammt wird: Die "Letzte Generation" taucht im Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz für das 2022 erwartungsgemäß nicht als "extremistische" Gruppierung auf.

Viele fanden zwar deren Straßenblockaden, die ihnen die Bezeichnung "Klimakleber" einbrachten, besonders nervig und verwerflich – Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hatte aber bereits deutlich gemacht, dass er das streng inhaltlich sieht: Diese "spezielle Gruppe" begehe zwar auch Straftaten, aber das mache sie noch nicht extremistisch, hatte Haldenwang im November 2022 gegenüber dem SWR erklärt.

Die "Letzte Generation" sage im Grunde: "He, Regierung, ihr habt so lange geschlafen, ihr müsst jetzt endlich mal was tun", so der Verfassungsschutzchef. "Also, anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man die Funktionsträger zum Handeln auffordert."

Eine Gefahr sieht der Verfassungsschutz dagegen in erklärt antikapitalistischen Gruppen, die das aktuelle Wirtschaftssystem für unfähig halten, die Klimakatastrophe einzudämmen. Diese stuft der Inlandsgeheimdienst als "linksextremistisch" ein und unterstellt ihnen, sich nur "vorgeblich" für den Klimaschutz einzusetzen, um in Aktionsbündnissen Einfluss auf die Proteste nehmen zu können:

Mit ihrem vorgeblichen Engagement für den Klimaschutz versuchen Linksextremisten, demokratische Diskurse zu verschieben, sie um ihre eigenen ideologischen Positionen zu ergänzen, gesellschaftlichen Protest zu radikalisieren und den Staat und seine Institutionen zu delegitimieren.


Verfassungsschutzbericht 2022, Kurzzusammenfassung, S. 28

Eine maßgebliche Rolle spiele hier das Bündnis "Ende Gelände", das von der "Interventionistischen Linken" (IL) beeinflusst sei. Dessen Aktionskonsens sei etwa für eine "Massenaktion zivilen Ungehorsams" im August 2022 in Hamburg geöffnet worden und beinhalte "nun auch ausdrücklich Sabotagehandlungen".

In die Kategorie "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" sortiert der Inlandsgeheimdienst Personenkreise ein, die für ihn nicht klar links oder rechts zu verorten sind, aber aus seiner Sicht darauf abzielen "wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen zu beeinträchtigen". Eingeführt wurde diese Kategorie 2021 im Zuge der "Querdenker"-Proteste gegen die Corona-Maßnahmen.

In linken Kreisen wurde dieses Milieu häufig als rechtsoffen oder als Versuch einer "Querfront" kritisiert. Haldenwang teilte dazu an diesem Dienstag mit:

Wir stellen fest, dass Grenzen innerhalb von Phänomenbereichen verschwimmen und sich Mischszenen bilden.


Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht heißt es, dem "Delegitimierungsspektrum" seien bundesweit etwa 1.400 Personen zuzurechnen, davon etwa 280 gewaltorientiert. Hinzu kommt auch der Phänomenbereich "auslandsbezogener Extremismus", in dem linke und rechte Gruppen aufgelistet werden. Islamistische Gruppierungen werden allerdings separat gezählt.

Linke und rechte Haltungen zum Ukraine-Krieg

Im nichtreligiösen Bereich "auslandsbezogener Extremismus" sei 2022 ein besonders deutlicher Anstieg von Straftaten festgestellt worden, heißt es in dem Bericht: 776 Delikte dieser Art habe es 2021 gegeben, 2022 seien 1.974 solcher Straftaten aktenkundig geworden – ein Anstieg um 154,4 Prozent. Ein Großteil dieser Straftaten soll im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen.

Zu dessen Bewertung durch Rechte und Linke schreibt der Verfassungsschutz:

Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine differenzierten Rechtsextremisten ihre zuvor mehrheitlich prorussische Haltung. In weiten Teilen zeigte sich die Szene befürwortend und verständnisvoll für das russische Vorgehen. Teile des neonazistischen Spektrums positionierten sich jedoch proukrainisch.


Verfassungsschutzbericht 2022, Kurzzusammenfassung, S. 11

Diese unterschiedlichen Sichtweisen hätten aber im Berichtsjahr nicht zu Bruchlinien innerhalb der rechtsextremistischen Szene geführt.

Im Kapitel über "Linksextremismus" heißt es:

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird in der linksextremistischen Szene überwiegend scharf verurteilt. Teilweise wird jedoch nicht ausschließlich Russland als Aggressor dafür verantwortlich gemacht, sondern vielmehr der "Imperialismus". . So seien sowohl die "imperialistischen" Bestrebungen Russlands als auch die der Nato, der USA sowie "des Westens" insgesamt ursächlich für den Angriff auf die Ukraine.


Verfassungsschutzbericht 2022, Kurzzusammenfassung, S. 28

Analog zu ihrer Weltanschauung würden "dogmatische Linksextremisten" diesen Krieg als "Geschwisterkrieg" verurteilen, "da Arbeiterinnen und Arbeiter die Waffe aufeinander richteten, anstatt den eigentlichen Hauptfeind, die 'eigene herrschende Klasse', zu bekämpfen und die Eskalation imperialistischer Interessen zwischen Russland, der Ukraine und der Nato zu beenden", schreibt der Inlandsgeheimdienst.

Ausnahmsweise hat er hier tatsächlich das Wesentliche erfasst, während nicht wenige grüne Ex-Pazifisten Linke mit dieser Haltung völlig undifferenziert als "Putin-Freunde" beschimpfen.