Gewaltsame Proteste gegen Steuergesetze erschüttern Kenia: Mindestens 53 Tote
Seite 2: Proteste beginnen friedlich: Polizei schießt mit Tränengas
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Das sehen auch viele der jungen Protestierenden so. Twitter, jetzt: X, ist ihre wichtigste Plattform. Die Proteste gegen die Steuergesetze, gegen den IWF, haben gestern friedlich begonnen.
Scarlett, eine junge Journalistin, 21 Jahre alt, berichtet: "Wir waren friedlich, wir hatten keine Waffen, aber plötzlich hat die Polizei mit Tränengasgranaten auf uns geschossen". Als in den sozialen Netzwerken die Nachricht verbreitet wurde, das Steuergesetz sei vom Parlament verabschiedet worden, eskalierte die Situation.
Eine Menschenmenge stürmt das Parlament, durchbricht die Polizeisperren. Vandalismus in der Lobby, in der Kantine, in der Lounge, im Garten. Ein Feuer bricht aus. Ein Teil des Parlaments steht in Flammen. Bilder, die die junge Nation erschüttern.
Sogar die "Mace" des Parlaments, eine goldene Keule, eine Art Zepter, Verkörperung der legislativen Autorität, wichtiges Symbol der kenianischen parlamentarischen Demokratie, wird entwendet, hier ein Bild auf X. Ohne sie ist eine parlamentarische Arbeit theoretisch nicht möglich.
Aufstand breitet sich aus: Regierungsgebäude und Geschäfte angegriffen
Andere Gebäude brennen, das Rathaus, der Oberste Gerichtshof. In Windeseile breitet sich der Aufstand über das ganze Land aus, in 34 der 47 Bezirke Kenias kommt es zu Protesten und Unruhen.
Demonstranten greifen Regierungsgebäude an, in Embu wird das Finanzamt gestürmt und völlig geplündert, die Beamten fliehen in Panik, alle Computer werden gestohlen. In Mombasa, der zweitgrößten Stadt Kenias, versuchen die Demonstranten, das Statehouse zu stürmen.
Eine Besonderheit ist, dass die Protestierenden die Häuser oder Firmen von Abgeordneten angreifen, die für die Steuergesetze gestimmt haben. Die Handynummern und Privatadressen der Abgeordneten und ihrer Frauen und Kinder werden auf X verteilt.
In Nyeri wird der Supermarkt des Abgeordneten Njoroge Wainaina niedergebrannt. In Eldoret wird der Timba Xo Club des Abgeordneten Oscar Sudi geplündert und verwüstet. Außerdem brennen Privathäuser und Büros von Abgeordneten.
Diese hatten sich bei der Erstürmung des Parlaments in unterirdische Tunnel geflüchtet und wurden mit Hubschraubern evakuiert. Einigen gelingt es nicht, sich in Sicherheit zu bringen, der Abgeordnete Chikati Murumba wird niedergeschlagen. Parlamentspräsident Moses Francis Masika Wetangula flieht sogar mit einem Krankenwagen vor den Demonstranten.
Chaos in der Innenstadt: Plünderungen und Verletzte
Ganze Geschäftsstraßen wie die Wabera Street und die Ronald Ngala Road in Nairobi werden geplündert. Große Supermärkte werden von Demonstranten ausgeräumt, die Menschen greifen nach Lebensmitteln.
Die Regale sind buchstäblich leer – Maismehl, Reis, die hier beliebten Mungbohnen – Grundnahrungsmittel werden in Windeseile aus den Läden getragen. Es gibt mehrere Videos und Fotos, die Polizisten in voller Kampfmontur beim Plündern zeigen, hier sind es Elektrogeräte.
Gestern herrschte in der Innenstadt Anomie, Unordnung, Chaos. Verschiedene Organisationen haben in der Innenstadt Save Spaces eingerichtet. Freiwillige Helfer des nahe gelegenen Kenyatta-Krankenhauses errichten auf dem Gelände der Basilika der Kathedrale "Heilige Familie" einen Verbandsplatz, um die zahlreichen verletzten Demonstranten zu behandeln. Die Polizei schießt eine Gasgranate unter die dort behandelnden Ärzte, es gibt Verletzte.
Regierung droht Medien: Sender fürchten Abschaltung
Die Regierung versucht, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, blockiert teilweise X. Politische X-Influencer werden seit Tagen entführt und verschwinden spurlos, Suchaufrufe werden auf X geteilt.
Gestern drohte die Regierung, die Medien abzuschalten, der kenianische Nachrichtensender KTN unterbricht seine Live-Sendung, um über die Abschaltdrohungen der Regierung zu informieren. Der Sender kündigt an, über seine Website und soziale Medien weiter berichten zu wollen.
Alle Medien stellen sich auf die Seite der Protestierenden. Das Land ist vereint gegen die neuen Steuergesetze.
Nachdem das Parlament von den Aufständischen besetzt worden war, begann die Polizei, scharfe Munition aus ihren Sturmgewehren statt Tränengasgranaten abzufeuern. Im Stadtzentrum soll es mindestens zehn Tote gegeben haben. Es gibt Videos, die zeigen, wie die Polizei Munition verteilt und mit ihren Gewehren auf Menschen schießt.
Polizeigewalt eskaliert: Scharfschützen gegen friedliche Demonstranten
Beobachter sprechen übereinstimmend von friedlichen Protesten, die in Gewalt umschlugen, als die Polizei ohne Provokation Tränengasgranaten auf friedliche Demonstranten abfeuerte. Es gibt auch Berichte über Scharfschützen, die auf friedliche Demonstranten geschossen haben sollen. Einer dieser Scharfschützen wurde von einer aufgebrachten Gruppe von Demonstranten gefangen genommen und den Medien vorgeführt, wie hier auf X zu sehen ist.
In der Nacht sollen nach unbestätigten Berichten weitere 22 Menschen durch Polizeigewalt gestorben sein, als sich im Armenvorort Githurai Proteste formierten. Auf Videos ist das Krachen der Schnellfeuergewehre der Polizei zu hören. Doch keiner der Demonstranten ist bewaffnet.
Präsident schürt Hass: Demonstranten als "Kriminelle" beschimpft
Der Protest in Githurai hatte sich nach 21 Uhr formiert, nachdem sich Präsident Ruto in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung gewandt hatte. Darin bezeichnete er die Demonstranten als Kriminelle und Verräter und bedrohte sie.
Ein Schlag ins Gesicht der in ihrer überwältigenden Mehrheit friedlichen Protestierenden angesichts der Polizeigewalt, die im Laufe des Tages eskalierte. Allein 120 Demonstranten sollen mit Schussverletzungen ins Kenyatta-Krankenhaus eingeliefert worden sein. Jüngste Berichte sprechen von 53 Toten am gestrigen Tag, davon allein 30 durch Polizeigewalt im Armenviertel Githurai.
Sorge um Demokratie: "Das geht alles in Richtung Diktatur"
Scarlett, die Journalistin, ist wütend: "Wie kannst du die Leute Verbrecher nennen, wenn du selbst mit Waffen kommst und friedliche Demonstranten tötest, das ergibt keinen Sinn." Sie will morgen nicht mehr protestieren, sie hat Angst um ihr Leben, Angst, auch erschossen zu werden.
Auch Jeff, IT-Spezialist und 30 Jahre alt, kann nicht fassen, was passiert: "Der Präsident sollte ein Symbol der nationalen Einheit sein, aber jetzt erklärt er friedliche Demonstranten zu Verrätern und Kriminellen und bedroht sie. Was ist los mit ihm? Das wird zu seinem Sturz führen", ist sich Jeff sicher. "Die Menschen sind schon lange verzweifelt und wütend, die Steuergesetzgebung war nur der Auslöser für die Proteste".
Wütend ist er auch über die neue Haiti-Mission der Regierung. Kenia ist der neueste Verbündete der USA, erst gestern berichteten die Medien über die Ernennung Kenias zu einem "wichtigen Nicht-Nato-Verbündeten". Unter US-Führung hat Kenia 400 Polizisten nach Haiti geschickt. Diese würden nun in Kenia fehlen und viel Geld kosten. Statt der Polizei habe der Präsident jetzt die Armee gegen die Demonstranten mobilisiert: "Das geht alles in Richtung Diktatur, bald haben wir hier Verhältnisse wie in Uganda".