Globale Entkopplung zwischen West und Ost: Zum ewigen Krieg

Decoupling ist binnen kurzer Zeit zum Dogma westlicher Politik geworden. Das aber ist ein historischer Rückschritt. Welche Gefahren der Trend mit sich bringt. Ein Telepolis-Leitartikel. (Teil 1)

"Das wird Russland ruinieren." Dieser Satz von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat inzwischen eine ganz eigene historische Bedeutung. Denn die Prognose der Grünen-Politikerin stammt aus dem Februar 2022. Sie bezog sich auf das damalige Wirtschafts- und Finanzsanktionspaket der EU gegen Russland.

Nun hat die EU gerade die elfte dieser Sammelrichtlinien verabschiedet. Und die Frage der Wirksamkeit sorgt – gelinde gesagt – für anhaltende Diskussionen.

Die bewusste Abkoppelung der Europäischen Union von Russland und – mit Abstrichen – auch von China wird gemeinhin als zukunftsweisend dargestellt und kaum hinterfragt. Dabei ist der Prozess, der im Englischen als "Decoupling" bezeichnet wird, weitaus problematischer, als er in der öffentlichen Debatte wahrgenommen wird.

Mit der von politischer Seite positiv geframten und von leitmedialer Seite fast kritiklos akzeptierten Entwicklung aber drohen Errungenschaften zunichtegemacht werden, die zwischenstaatlich 1648 mit dem Westfälischen Frieden ermöglicht und gut hundert Jahre später, 1795, von Immanuel Kant im "Ewigen Frieden" moralphilosophisch unterlegt worden sind.

Denn aus Kants Werk spricht die Erkenntnis, dass Kooperation – politisch, diplomatisch, wirtschaftlich und kulturell – Gewinn, Vertrauen und letztlich Frieden schafft.

Dies war damals auch eine Lehre aus den blutigen Erfahrungen der Kleinstaaterei, die Konflikte und Kriege begünstigt hatte. Hinzu kam der wirtschaftspolitisch motivierte und religiös verbrämte Dreißigjährige Krieg, der Ende Oktober 1648 in Münster und Osnabrück endete.

Als Kant knapp 130 Jahre später seine an ein Massenpublikum gerichtete Schrift "Zum ewigen Frieden" veröffentlichte, die übrigens eine der Grundlagen unserer heutigen UN-Charta ist, lag ihr auch die Erkenntnis zugrunde, dass gerade die Koppelung, das "Coupling", Frieden schafft und damit im klassischen philosophischen Sinne vernünftig ist.

Wie ist also heute, rund 230 Jahre später, die zunehmende wirtschaftliche Abkoppelung des Westens von Russland und China zu bewerten, zumal sie immer stärker ideologisch motiviert zu sein scheint als der erklärte Wille zum rationalen Aufbau und Erhalt einer diversifizierten Außenwirtschaft vermuten lässst?

Die Antwort liegt auf der Hand. Im besten Fall wird diese Entwicklung zwischenstaatliche Auseinandersetzungen befördern. Im schlimmsten Fall werden wir gerade Zeugen des Beginns einer neuen Epoche globaler Krisen und Kriege.

Die verantwortlichen Politiker in Berlin und Brüssel sind unehrlich, wenn sie im Falle Russlands nur von energiepolitischer Abkopplung sprechen. Denn natürlich geht es auch um den Rückzug aus vielen anderen wirtschaftlichen Kooperationsfeldern.

Der politische Druck dafür ist so groß, dass sich selbst Lebensmittelkonzerne wie Nestlé für den Verkauf von Babynahrung in Putins Einflussbereich rechtfertigen müssen. Allein das sollte als das verstanden werden, was es ist: ein zivilisatorischer Bankrott. Denn was können junge Eltern oder gar Säuglinge in Russland für Putins Außen- und Kriegspolitik, warum sollten sie Ziel von EU-Sanktionen werden?

Dass es um mehr geht als um die Wirtschaft oder nur die Energieimporte, zeigen auch die gestrichenen Programme für junge russische Akademiker, die Auftrittsverbote für russische Künstler und eine unterschwellig wachsende Russophobie, die wenig Raum mehr für Humanismus lässt.

"Все ли люди станут братьями?" traut man nach fast anderthalb Jahren Krieg Russlands in der Ukraine und Sanktionen des Westens gar nicht mehr fragen. Denn Brüder, um mit Boris Lesnyak zu sprechen, werden die Menschen wieder nur in Massengräbern.

Beunruhigend bleibt, dass die wirtschaftliche Entkopplung als systemische Grundlage für eine weitere Eskalation geeignet ist, während die soziale, kulturelle und menschliche Entkopplung den gesellschaftlichen Widerstand gegen direktere und härtere Konfrontationen zu schwächen droht.

Gleiches gilt im Gegenzug auch für die West-Politik Russlands, dessen Führung und Mehrheitsgesellschaft die neue westliche Eskalationsbereitschaft bereitwillig reflektieren, eine "Russische Welt" vor Augen; von Gott gewollt, von Putin geführt.

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