"Goldene Ernte" aus Asche
Die Polen haben sich am Holocaust bereichert: Ein Buch des Historikers Gross sorgt in Polen für Aufregung
- "Wie lange werden die Vertreter unserer Regierung es noch erlauben, dass Juden Polen ungestraft ins Gesicht spucken dürfen."
- "Ohoho, wie sich diese selbsternannten wahren Polen empören, und dies nur weil jemand die Wahrheit geschrieben hat."
- "Was Herr Gross schreibt beleidigt hunderte von Polen, die während des Krieges ihr Leben verloren weil sie Juden versteckt haben. Und bestimmt hat auch seine Familie nur deshalb überlebt, weil die ihm verhassten Polen ihr halfen."
- "Natürlich hat Gross Recht, und dies ist die schmerzhafte Wahrheit über uns Polen."
Diese ausgewählten Einträge aus dem Forum des größten polnischen Internetportals Onet.pl sind nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Debatte, die seit Anfang des Jahres in Polen geführt wird. In Fernsehtalkshows, in Zeitungen, Wochenmagazinen, Internetforen und auch im privaten Kreis streiten Politiker, Journalisten, Intellektuelle und eben auch ganz normale Bürger über ein Buch, das erst am 10. März erscheinen wird und nicht einmal besonders dick ist. Gerade mal 232 Seiten hat Goldene Ernte des polnisch-amerikanischen Historikers und Soziologen Jan Tomasz Gross. Doch die über 200 Seiten beinhalten für das polnische Geschichts-, und Nationalverständnis so viel Sprengstoff, dass das Werk schon jetzt als das Buchereignis des Jahres angekündigt wird. Und die Intensität der bisherigen Diskussion bestätigt, dass sowohl der Verlag Znak als auch die Befürworter und Kritiker Gross’ mit dieser Ankündigung nicht übertreiben.
Denn der in Princeton lehrende Gross, der das Buch in Zusammenarbeit mit seiner Ex-Ehefrau Irena Grudzinska-Gross geschrieben hat, stellt aus polnischer Sicht eine ungeheuerliche These auf: Die Polen haben sich am Holocaust bereichert. So lautet jedenfalls die Hauptintention des Buches, zu dem Gross durch ein Foto inspiriert wurde, das kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Treblinka aufgenommen wurde. Auf diesem Bild sieht man eine Gruppe von Bauern, die auf einem Feld mit ihrem Werkzeug für den Fotografen posieren. Doch diese Männer und Frauen graben nicht nach Gemüse. Nein, in den Gräbern des von den Nazis verlassenen Todeslagers suchen sie nach den letzten Habseligkeiten der ermordeten Juden.
Doch Gross schreibt in seinem Buch nicht nur darüber, wie ein Teil der polnischen Bevölkerung nach dem II. Weltkrieg die verlassenen Konzentrationslager durchsuchte. Auch das Thema Kollaboration spielt in seinem Buch eine wichtige Rolle und trifft bei vielen Polen damit auf einen wunden Nerv. Als das Nachrichtenmagazin Spiegel im Mai 2009 den Demanjuk-Prozess dazu nutzte, sich in seinem Titelthema mit der Kollaboration in den von den Nazis besetzten Staaten zu befassen, löste dies in Polen einen Aufschrei der Empörung aus.
Nicht wenige Polen glaubten, die Deutschen "würden mal wieder die Verantwortung für den Holocaust anderen in die Schuhe schieben wollen". Und dies, obwohl die Spiegel-Redakteure weder die Schuld der Deutschen in Frage stellten, noch von "polnischen Konzentrationslagern" schrieben, so wie es schon einige deutsche Tageszeitungen irrtümlich getan haben. Sie beschrieben lediglich, wie in den besetzten Gebieten einige Franzosen, Dänen, Niederländer und auch halt Polen zu willfährigen Helfern der deutschen Besatzer wurden.
Dass die Motive für die Kollaboration aber nicht nur in der Angst vor den Okkupanten, sondern einfach auch in der puren Habgier zu suchen sind, scheut sich Gross nicht zu thematisieren. So profitierten nach 1939 nicht wenige Polen von den Enteignungen der Juden, in dem sie die Schergen der SS und der Gestapo bestachen, um an das Hab und Gut ihrer ehemaligen jüdischen Mitbürger zu kommen. Eine bittere Tatsache, die an der Weichsel nach dem II. Weltkrieg größtenteils ausgeblendet wurde.
"Angriff auf das positive Ansehen der Polen"
Auch deshalb, weil in Polen gerne auf die Allee der Gerechten unter den Völkern in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem verwiesen wird. Von den dort über 22.000 geehrten Menschen, die während des Krieges Juden vor dem sicheren Tod durch die Nazis bewahrten, stellen Polen die größte nationale Gruppe. Und auch wenn Gross weder den Mut noch die Hilfsbereitschaft dieser Polen bestreitet, oder er den Polen gar allgemein die Schuld für den Holocaust gibt, so stellt er doch klar, dass nicht alle Polen damals aus Menschenliebe handelten. Ihre Hilfe und Unterstützung ließen sich manche einfach teuer bezahlen. Und waren die Juden nicht mehr in der Lage, diese Gegenleistung zu erbringen, hatten nicht wenige der bezahlten Helfer keine Skrupel, ihre einstigen Schützlinge bei den deutschen Besatzern zu verraten – natürlich auch für eine dementsprechende Prämie.
Für viele, vor allem nationalkonservative Polen, stellen die Aussagen des Buches eine Ungeheuerlichkeit dar. "Die Thesen des Buches sind ein Angriff auf das positive Ansehen der Polen, dass sie sich in der Vergangenheit mit ihrem Verhalten erarbeitet haben", sagte beispielsweise der konservative Historiker Jan Zaryn, und dies obwohl ihm und den meisten anderen Kritikern bisher nur die Thesen des Buches bekannt sind. Lediglich das Inhaltsverzeichnis und einzelne Textpassagen, die der katholische Priester und Intellektuelle Tadeusz Isakowicz-Zaleski, dessen Bücher ebenfalls bei Znak erscheinen, ohne das Wissen des Verlages kritisch kommentiert auf seiner Internetseite veröffentlicht hat, sind bisher an die Öffentlichkeit gedrungen.
Dies hält trotzdem viele Kritiker nicht ab, ihren Unmut über das Buch zu äußern, und dies auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Historiker wie Zaryn oder auch Tomasz Nalecz, Berater des Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski und bekennender Linker, kritisieren die Thesen sowie die Einseitigkeit des Buches. Der schon erwähnte Geistliche Tadeusz Isakowicz-Zaleski veröffentlichte auf seiner Internetseite einen offenen Brief, in dem er dem Verlag die weitere Zusammenarbeit aufkündigte, falls die Erscheinung des Buches nicht zurückgezogen werde. Und im Internet wurde dazu aufgerufen, mit Email-Attacken die Computer des Znak-Verlages lahm zu legen.
Dabei sind das schwierige polnisch-jüdische Verhältnis während des Krieges sowie die Aussagen des Gross-Buches keine unbekannten Themen für die polnische Öffentlichkeit. Der Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz, dessen 100. Geburtstag Polen momentan mit dem Milosz-Jahr begeht, beklagte bereits während des Krieges in dem Gedicht Campo di Fiori die Gleichgültigkeit vieler Warschauer gegenüber dem Ghettoaufstand. "In Warschau an einem Abend, im Frühling vor Karussellen, bei Klängen lustiger Lieder. Der Schlager dämpfte die Salven, hinter der Mauer des Ghettos, und Paare flogen nach oben, weit in den heiteren Himmel", schrieb Milosz damals.
Der Schriftsteller Andrzej Sczypiorski wiederum machte in seinem 1988 auch in Deutschland erschienen Roman "Die schöne Frau Seidenman" jene Polen zu einem Thema, die während der Okkupation sich versteckende Juden und ihnen helfende Polen erpresst und, falls diese nicht zahlen konnten, an die Nazis verraten haben. "Szmalcownicy" nennt man diese Leute bis heute verächtlich, von denen nicht wenige von der im Widerstand agierenden Heimatarmee wegen Kollaboration und Verrat erschossen wurden.
Schatzsuche in den KZs
Auch für die polnische Geschichtswissenschaft wurde das polnisch-jüdische Verhältnis, ein in der Volksrepublik tabuisiertes Thema, da es nicht dem von den kommunistischen Machthabern propagiertem Bild der heroischen Polen entsprach, nach 1989 zu einem Forschungsobjekt. In den letzten zwei Jahrzehnten erschienen zahlreiche Bücher und Aufsätze, die sich nicht nur mit den Repressionen gegen die Juden im Vorkriegspolen oder den Pogromen nach 1945 befassten, sondern auch die "Schatzsuche" in den KZs zum Thema hatten.
Ein Thema, das die Historiker nicht allein interessierte. Die Journalisten Piotr Gluchowski und Marcin Kowalski von der renommierten Gazeta Wyborcza veröffentlichten bereits vor drei Jahren sowohl das Foto, das Gross zu seinem Buch inspirierte, als auch eine Reportage über den "Goldrausch in Treblinka", die in ihrem Inhalt dem Buch von Jan Tomasz Gross in Nichts nachsteht. Die zwei Journalisten beschreiben nicht nur, wie die Bauern der umliegenden Dörfer die Erde von Treblinka durchwühlten, sondern auch, was sie mit der Beute machten. "Mein Schwager hat einen Brillanten gefunden sowie einen halben Fingernagel vom Daumen", erinnert sich ein Augenzeuge in der Reportage. "Und was hat er damit gemacht? Er hat es versoffen. Nicht mal eine Scheune hat er errichtet, während andere ganze Häuser erbauten. Und nicht nur das: ganze Höfe sind hier plötzlich entstanden."
"Gross war erstaunt darüber, dass die Veröffentlichung dieses Fotos keine Reaktionen auslöste", erklärte Michal Olszewski, Journalist der katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny und einer der wenigen, die das Manuskript gelesen haben, Ende Dezember in einem Radiointerview. Doch wie kommt es, dass weder wissenschaftliche Arbeiten noch Reportagen in der polnischen Öffentlichkeit auf Resonanz stießen, während Gross für seine Aussagen heftig kritisiert wird?
Dies liegt einerseits an der Sprache von Jan Tomasz Gross. Während Historiker sich eher nüchtern ausdrücken, ist der Soziologe ein emotionaler Autor, der anklagend, ja vorwurfsvoll und aggressiv schreibt. Und dies machen ihm auch beim aktuellen Buch viele Kritiker zum Vorwurf, in dem sie bemängeln, dass er sich damit unwissenschaftlich verhalte. Doch sie übersehen, dass Gross "Goldene Ernte" gar nicht als wissenschaftlichen Text versteht, sondern als einen Essay, der sich mit einem dunklen Kapitel der polnischen Geschichte befasst.
Der vielleicht wichtigste Grund für die heftige Kritik an Jan Tomasz Gross ist wohl aber Jan Tomasz Gross selber. Denn "Goldene Ernte" ist mittlerweile das dritte Buch innerhalb von knapp 11 Jahren, in dem sich der 1947 in Warschau geborene Historiker mit dem polnisch-jüdischen Verhältnis beschäftigt und das wie seine Vorgänger für eine heftige Debatte sorgt. 2000 war es das Buch "Nachbarn", das die polnische Öffentlichkeit regelrecht schockierte, denn Gross beschrieb darin, wie 1941 die Juden von Jedwabne nicht von den Deutschen, sondern von ihren polnischen Nachbarn massakriert wurden. 1949 wurden zwar einige Einwohner von Jedwabne für die Tat zu Gefängnisstrafen verurteilt, doch ab den 1960er Jahren wurden auf einem durch die Stadt errichteten Gedenkstein die Deutschen für das Massaker verantwortlich gemacht.
Polnischer Antisemitismus
Das Pogrom von Kielce, bei dem am 4. Juli 1946 41 polnische Juden ermordet wurden, nutzte Gross dazu, um sich in dem 2006 in den USA und 2008 in Polen erschienen Buch "Angst" mit dem polnischen Antisemitismus nach 1945 zu befassen. Auch dieses Buch sorgte in Polen für eine heftige Debatte. Während der mittlerweile verstorbene Marek Edelman, Überlebender des Warschauer Ghettoaufstands, Gross vorwarf zu übertreiben, da das Pogrom von Kielce nicht das Ergebnis des polnischen Antisemitismus, sondern einfach nur ein krimineller Akt war, verlangte eine Gruppe nationalkonservativer Senatoren als Reaktion auf die englischsprachige Ausgabe ein Ermittlungsverfahren gegen Gross – wegen Verunglimpfung des polnischen Volkes.
Doch mit all seinen Büchern zeigte Gross, der selber Opfer der "antizionistischen" Kampagne von 1968 wurde (Von Antizionisten und Antisemiten) und deshalb das damals kommunistische Polen verlassen musste, dass der Antisemitismus im heutigen Polen kein Schattendasein führt. Denn wie bei den zwei Vorgängerbüchern mischen sich auch bei "Goldene Ernte" antisemitische Töne in die Kritik. "Liebe Juden, in Diskussionen über die aktuelle Lage in Palästina habe ich euch immer verteidigt. Aber momentan bringt ihr mit der Bombe Gross viele Polen gegen euch auf", schrieb beispielsweise ein User im Forum von Onet.pl.
Optimistisch stimmen kann deswegen nur die Reaktion anderer polnischer Internetuser. "Gross übertreibt nicht! Man muss sich nur solche Vertreter des Polentums wie Jankowski und Rydzyk (Die Graue Eminenz) in Erinnerung rufen, sich auf diesem Forum umschauen, um sich endgültig davon zu überzeugen, wie viel Nationalismus, Rassismus, Klerikalismus, Xenophobie und Antisemitismus in unserer Gesellschaft gedeiht", klagte ein Leser von Onet.pl und war mit dieser Reaktion nicht allein. In allen polnischen Internetportalen waren solche selbstkritischen Einträge zahlreich zu lesen.
Und deswegen kann man das Buch, trotz seiner fachlichen Mängel – Gross hat mittlerweile selber einige Zahlen deutlich nach unten korrigiert –, als einen Erfolg bezeichnen. Er löst mit "Goldene Ernte" nicht nur erneut eine notwendige Debatte über das Geschichts-, und Nationalverständnis der Polen aus, sondern indirekt auch über ihr Verhältnis zu den Juden. Und dies nicht nur in der Vergangenheit, sondern vor allem im Hier und Heute.