Grenzen der Realität

Das Computerspiel als Werkzeug des Widerstands: Border Games, afrikanische Einwanderer in Spanien und die Madrider Kommunikationsguerilla

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In einem rezenten Spike Lee-Film zieht ein schwarzer Junge plötzlich eine Waffe. Er befindet sich im nachbarschaftlichen Park, alles geht eigentlich seinen normalen Gang, doch er kommt sich vor wie in einem Videospiel. Statt wie üblich die herannahenden Leute zu grüßen, geht er unvermittelt zur Gewalttat über. Es wäre zu einfach, die Botschaft dieser Szene darauf zu reduzieren, dass der Junge der Macht des Videospiels erlegen ist und nur noch wie eine ferngesteuerte Spielfigur handelt. Denn es geht dabei genauso sehr um Fragen der Repräsentation: Wie werden schwarze Kinder und Jugendliche in den Medien dargestellt und von wem? Letzten Endes geht es um die Bausteine der Realität im Leben Marginalisierter und genau damit beschäftigt sich ein Computerspiel-Projekt einer Madrider Initiative, die sich Border Games nennt.

Die Standbilder des Spiels zeigen Schwarzafrikaner und marokkanische Einwanderer in dem Madrider Stadtviertel Lavapiés. Die Figuren wirken wie hineingebeamt in die urbanen Landschaften, als wären sie gerade von einem fernen Stern in den iberischen Alltag gefallen. Aus Fotos herausgeschnitten und in computeranimierte Räume hineinmontiert, sind ihre Konturen mit elektronischen Leuchtstiften fett markiert worden. Der Kontrast zwischen Fotoästhetik und digitalem Realismus unterstreicht ihren Aliencharakter, er verleiht den Situationsbildern aber auch einen utopischen Charme. Erinnern die Montagen nicht etwas an Entwürfe wie man sie von Archigram bis MVRDV (vgl. Das flüssige Auge des Architekten) aus der Architektur kennt, Entwürfe, die stets versucht haben, Räume des Möglichen zu erschaffen?

Während die Architektur-Utopisten mit vergleichbaren Montagen an futuristischen Visionen bastelten, haftet den Border Games-Images zwar ebenfalls etwas Sci-Fi-mäßiges an, aber in merklich dystopischerer Manier: Hier prallen Gegensätze aufeinander, hier entladen sich die Probleme einer polarisierten Gesellschaft. Mit analogen Scheren sind strandende, mit Flüchtlingen belegte Boote von der spanischen Küste in einen U-Bahnhof Madrids versetzt worden, während uniformierte Soldaten im Vordergrund patrouillieren. Letztere sind, neben den Einwanderern, immer wiederkehrende Akteure, die Zinnsoldaten-gleich an strategischen Punkten Position beziehen. Über diesen Gegenpol entfaltet sich ein Spannungsfeld, in dem sich die Spielfigur des Immigranten bewegt. Die groben Schnitte und Konturierungen deuten es an: Alles ist modular, alles ist neu zusammensetzbar.

Ohnehin handelt es sich bei den besagten Situationen lediglich um Vorschläge. Das Spiel, das noch im Entstehen begriffen ist, und in den nächsten Wochen auf den Markt kommen soll, versteht sich als ein Open Source-Projekt. Zumindest dahingehend, dass die Nutzer die Räume und die Handlungsverläufe selbst gestalten können. Nicht zuletzt sollen sie in der Lage sein, die Spielfiguren in ihrem äußeren Erscheinungsbild zu prägen. Dieses Angebot richtet sich vor allem an die Protagonisten dieses Spiels: Die Immigranten. Sie sollen in der Lage sein, sich und ihre Realität unter den Bedingungen des Computerspiels zu repräsentieren. Ein klares Programm also: Die Korrektur der Fremdbilder und die Verfügbarmachung von Tools der Repräsentation. Doch es gibt mehr: Das Spiel soll die Spieler miteinander vernetzen. Was bei diversen Online-Spielen längst selbstverständlich ist, hat hier eine politisch relevante Note: Menschen, die sonst in ihren Einzelschicksalen isoliert sind, können hier zueinander finden, sich austauschen, sich solidarisieren.

Dieses Angebot richtet sich an keine kleine Gruppe. Bekanntlich ist Spanien das Einwanderungsland schlechthin. Wer in Afrika zu Hause ist und nach Europa will, findet meistens seinen Zugang über die Straße von Gibraltar an die Costa de Sol oder angrenzende Landstriche in Spanien. Spätestens die Anschläge von Madrid (11.03.2004) haben deutlich gemacht, wie immens der Zulauf ist und wie unkalkulierbar die Folgen der Immigration geworden sind. Gemeint ist in diesem Zusammenhang nicht nur das terroristische Potenzial, sondern auch die staatliche, mediale und gesellschaftliche Reaktion auf den Terrorakt, die den in Spanien gärenden Rassismus in schroffer Form zu Tage gefördert hat. Border Games ist vor diesem Hintergrund als Intervention begreifbar, die zwar die Massenpsychologie im Hinterkopf hat, aber, und das ist wohl auch nicht ganz unwesentlich, darüber hinaus einen Nutzer adressiert, der in vielen Fällen bereits das Computer-ABC gelernt hat: So machen viele Immigranten aus der Maghreb-Region ihre ersten Schritte gen Europa in einem afrikanischen Internet-Café, wo sie Internet-Portale zur Heiratsvermittlung und ähnlichem besuchen.

Es dürfte nicht überraschen, dass die Erfinder von Border Games aus den aktivistischen Zirkeln Spaniens kommen. Die Gruppe, die sich das Spiel ausgedacht hat, heißt Fiambrera Obrera und hat sich in den letzten Jahren vor allem mit ihren Yomango-Aktionen einen Namen gemacht. Im Zuge dessen verteilten die Künstler-Aktivisten rote Bücher mit Tipps zum Ladendiebstahl und bekamen dafür sogar Preise und Nachfragen von Museen in verschiedenen Ländern. Als aber ein globalisierungskritischer Zusammenhang im Rahmen der Jahrestagung des Bundeskongress Internationalismus in Kassel eine Yomango-Aktion organisierte, führte das zu polizeilichen Ermittlungen und im Nachhinein noch zu einer Streichung der Gelder durch die Evangelische Kirche.

Nun tritt Fiambrera Obrera mit einem Projekt an die Öffentlichkeit, das an die aktionistische Ausrichtung ihres Vorgängerprojekts anknüpft, das aber überraschenderweise nicht in Spanien, sondern in den USA ersonnen worden ist. Wie die Mitglieder El Pais gegenüber erklärten, kam ihnen die Idee während eines L.A.-Aufenthalts. Begegnungen mit Latinos führten zu Reflexionen über Realitätsmodelle und zur Einsicht, das unter Einwanderern ein Mangel an Möglichkeiten zu Selbstrepräsentation und damit verbundener Selbstorganisation besteht. Vielleicht haben sie sich zufälligerweise dann noch einen Spike Lee Film angeguckt, in dem ein schwarzer Junge in seinem Alltag plötzlich zur Waffe greift, weil er glaubt, in einem Videospiel zu agieren.